Sonatenentwürfe für Klavier (WAB add 242/1-5)

Bruckner beschäftigte sich im Unterricht bei Otto Kitzler im Juni 1862 mit der Sonatenform. Im Kitzler-Studienbuch finden sich auf den Seiten 140–156 Themen, Übergangs- und Gesangsgruppen für Sonaten. Den Themen und Übergangsgruppen entsprechen die heute gebräuchlichen Termini Hauptsatz und Überleitung, die Gesangsgruppe stellt ein kantables Thema vor und ist mit dem Seitensatz gleichzusetzen (Sonatenhauptsatzform). Den Abschluss dieses Unterrichtskapitels bildet die Sonate für Klavier in g‑Moll (S. 157–164).

Sonatenentwurf in f-Moll (WAB add 242/1)

EZ: Juni 1862
Aut.: ÖNB‑MS (Mus.Hs.44706, Kitzler-Studienbuch)
ED: s. NGAAnton Bruckner. Sämtliche Werke. Kritische Gesamtausgabe. Hg. v. der Generaldirektion der Österreichischen Nationalbibliothek und der Internationalen Bruckner-Gesellschaft. Wien 1951ff. (Editionsleitung: Leopold Nowak, auch als Neue Gesamtausgabe bezeichnet)
NGA: Band XXV (Paul Hawkshaw/Erich Wolfgang Partsch, 2014; Faksimile)

Das Thema dieses ersten Sonatenentwurfes in f‑Moll im 4/4‑Takt (Kitzler-Studienbuch, S. 140) deutet auf Bruckners Vorbilder aus der Klassik. Der Vordersatz des 1. und 2. Taktes, der im 5. und 6. Takt eine Stufe höher wiederkehrt, erinnert durch die in Sekunden aufsteigenden Viertelnoten mit Triller auf der unbetonten Zählzeit an eine Frage, die sogleich im Nachsatz zu beantworten versucht wird. Bruckner insistierte nach einem vom Alberti-Bass-Schema bestimmten Zwischenspiel auf sein stets in beiden Händen unisono vorgestelltes Fragethema, indem er die aufsteigenden Viertelnoten sequenziert wiederholt. Die Überlegung, die Gesangsgruppe und Modulation in Es vorzubereiten, wurde am linken unteren Rand mit Bleistift festgehalten.

Die Vorzeichen der Gesangsgruppe auf S. 145 blieben unverändert; Bruckner verwendete stattdessen ein Auflösungszeichen (d statt des). Er notierte seine Einschätzung zu diesem ersten Versuch am rechten Blattrand: „Diese Gesangsgruppe ist eigtl. nur eine durch imitirende oder sequenzartige Steigerung verlängerte Periode“. Verschoben um zwei Achtel imitieren einander die linke und rechte Hand. Nach sieben Takten gibt ein Kreuz über den Notenlinien an, dass nicht der folgende (nachträglich gestrichene) Takt, sondern zwei Takte des darunter liegenden Systems zu spielen sind. Schon folgt das nächste vi-de-Zeichen zurück in das darüber liegende System. Das letzte System auf dieser Seite enthält einen „Anhang“, zu dem Bruckner festhält: „Diese Verlängerung gibt ihr ein kleines Ansehen einer Schlußperiode, der nur ein Anhang zu folgen hätte.“

Die „Mittelsatz-Gruppe“ dieser Sonate findet sich im Kitzler-Studienbuch auf den Seiten 150ff. Dieser Abschnitt ist bestimmt von den rhythmischen Motiven des Vorder- und Nachsatzes (S. 140). Die zweitaktige Frage wechselt nach einer kurzen Einleitung ab dem 3. Takt von der rechten in die linke Hand und wieder zurück, immer von Sechzehntelläufen der Gegenhand begleitet. Auch hier fordert Bruckner durch die beharrliche Wiederholung des aufsteigenden Fragemotivs eine Antwort, welche sich wenig später in Form der kreisenden Bewegung des Nachsatzes einstellt.

Sonatenentwurf in C-Dur (WAB add 242/2)

EZ: Juni 1862
Aut.: ÖNB‑MS (Mus.Hs.44706, Kitzler-Studienbuch)
ED: s. NGAAnton Bruckner. Sämtliche Werke. Kritische Gesamtausgabe. Hg. v. der Generaldirektion der Österreichischen Nationalbibliothek und der Internationalen Bruckner-Gesellschaft. Wien 1951ff. (Editionsleitung: Leopold Nowak, auch als Neue Gesamtausgabe bezeichnet)
NGA: Band XXV (Paul Hawkshaw/Erich Wolfgang Partsch, 2014; Faksimile)

Auf S. 141 des Kitzler-Studienbuches findet sich Bruckners zweiter Sonatenentwurf im 4/4‑Takt. Die rechte Hand beginnt solistisch mit jenem rhythmischen Motiv, das im ersten Sonatenentwurf in f‑Moll (S. 140) im Nachsatz der Periode die „Antwort“ auf die einleitende Frage darstellt – punktierte Viertel mit nachfolgenden Sechzehntel- bzw. Achtelnoten. Neu ist allerdings die melodische Abfolge dieses Motivs. Die Übergangsgruppe ist bestimmt von fließenden Achtelnoten mit begleitenden Sechzehntelläufen, bevor vier Takte vor dem Ende dieses Entwurfes das rhythmische Motiv des Beginns, jedoch um einen halben Takt verschoben und dadurch erst auf der 3. Zählzeit beginnend, wieder einsetzt. Am Beginn des elften Taktes stellte sich Bruckner die Frage, ob nicht schon an dieser Stelle die Gesangsgruppe, die Bruckner in der Dominante G‑Dur komponierte, beginnen könnte. Otto Kitzler bejahte diese Frage.

Eine ruhige, in Sekunden fortschreitende Melodie zeigt sich in der zugehörigen Gesangsgruppe auf S. 146. Eine Pendelbewegung in Form von Sechzehntelnoten in einer der Mittelstimmen untermalt den getragenen Vortrag der übrigen Stimmen. Im Mittelteil verdichtet Bruckner die Sechzehntelbegleitung und überlässt diese nach sieben Takten allein der linken Hand.

Auffällig ist wieder die Beibehaltung der Tonart, d. h. hier die fehlende Kreuz-Vorzeichnung für G‑Dur. Während in den ersten Takten das Akzidens scheinbar vergessen wurde, jedoch von einem fis ausgegangen werden kann, schreibt Bruckner in den darauffolgenden, aber nicht in allen Takten ein Kreuz bzw. Auflösungszeichen vor.

Sonatenentwurf in C-Dur (WAB add 242/3)

EZ: Juni 1862
Aut.: ÖNB‑MS (Mus.Hs.44706, Kitzler-Studienbuch)
ED: s. NGAAnton Bruckner. Sämtliche Werke. Kritische Gesamtausgabe. Hg. v. der Generaldirektion der Österreichischen Nationalbibliothek und der Internationalen Bruckner-Gesellschaft. Wien 1951ff. (Editionsleitung: Leopold Nowak, auch als Neue Gesamtausgabe bezeichnet)
NGA: Band XXV (Paul Hawkshaw/Erich Wolfgang Partsch, 2014; Faksimile)

Der erste Entwurf einer Sonate auf S. 142 (wieder in C‑Dur) ist lt. Bruckner einem Sonatensatz „nicht sehr ähnlich“. Fraglich ist, ob die beiden Takte im zweiten System (zwei Takte im ersten System wurden gestrichen) als Einleitung dienen oder doch lieber verworfen werden sollten. Das Thema im 4/4‑Takt wird jedenfalls im dritten System von beiden Händen unisono vorgestellt. Auch hier begegnet man im 3. Takt dem rhythmischen Muster der beiden Sonatenentwürfe von S. 140 und 141 (punktierte Viertel mit zwei Sechzehntelnoten und anschließendem Achtelnoten-Durchgang). Ebenso kehrt der Alberti-Bass in den letzten acht Takten des Sonatenentwurfes wieder.

Die Gesangsgruppe (S. 147) stellt das Thema in G‑Dur vor, wobei wie auch in den anderen Sonatenentwürfen Akzidenzien anstatt der G‑Dur-Vorzeichnung verwendet wurden. Die linke Hand übernimmt zunächst die Begleitfunktion in Achtelnoten, die rechte Hand greift das Sonatenthema auf und diminuiert von Achtel- in Sechzehntelnoten. Ab T. 9 ist ein ständiger Wechsel der Abschnitte zwischen rechter und linker Hand zu beobachten. Die Augmentation zurück zu Achtelnoten findet sich in T. 14. Für Bruckner ist diese Ausführung „eig[en]tl[ich] auch schon mehr Schlußgruppe“.

Sonatenentwurf in F-Dur (WAB add 242/4)

EZ: Juni 1862
Aut.: ÖNB‑MS (Mus.Hs.44706, Kitzler-Studienbuch)
ED: s. NGAAnton Bruckner. Sämtliche Werke. Kritische Gesamtausgabe. Hg. v. der Generaldirektion der Österreichischen Nationalbibliothek und der Internationalen Bruckner-Gesellschaft. Wien 1951ff. (Editionsleitung: Leopold Nowak, auch als Neue Gesamtausgabe bezeichnet)
NGA: Band XXV (Paul Hawkshaw/Erich Wolfgang Partsch, 2014; Faksimile)

Ein weiterer Sonatenentwurf findet sich im Kitzler-Studienbuch auf S. 143 in F‑Dur im 4/4‑Takt. Das von (punktierten) Viertelnoten beherrschte Thema wird mehrmals mit einem Doppelschlag ornamentiert. Charakteristisch für dieses Thema ist die in der rechten Hand im Bassschlüssel notierte, echoartige Wiederholung des Motivschlusses. Nach einer Verdichtung des Motivs verliert sich die Melodie in auf- und absteigenden Sechzehntelläufen.

Die Begleitung der tanzähnlichen Gesangsgruppe auf S. 148 ist geprägt vom nachschlagenden Bass der linken Hand sowie einer Dreiklangszerlegung in Sechzehntelnoten, die zusätzlich zum Diskant von der rechten Hand auszuführen ist. Der Mittelteil der Gesangsgruppe wurde bereits in der Übergangsgruppe vorbereitet, am Ende notierte Bruckner ein Tremolo in C‑Dur.

Auf den Seiten 153–156 des Kitzler-Studienbuches widmete sich Bruckner erneut dieser Sonate. Es kehren zu Beginn (S. 153) die punktierten Viertelnoten mit Doppelschlag-Verzierung abwechselnd in beiden Händen wieder. Auf S. 154 schreibt Bruckner vor, dass „die ersten 18 21 Tacte“ von S. 143 zu wiederholen sind, anschließend finden sich Transpositionen von Abschnitten der Seiten 143 und 148. Ein wohl nachträglicher Abgleich mit Themenvorstellung und Gesangsgruppe brachte Bruckner die Einsicht: „hätte wohl alles genau vom I. Theil transpon.[ieren] können“. Gemeint sind damit die mit einem Kreuz markierten Takte auf S. 143 sowie der Beginn der Gesangsgruppe auf S. 148. Nach der Vorgabe „ganz frei“ (S. 155) folgt zum Abschluss ein „Langsamer“ Teil (S. 156). Hier variiert Bruckner den langsamen Marschrhythmus, indem er eine doppelt punktierte Viertelnote vorschreibt. Sieben Takte vor Schluss erinnert er im Tempo primo an das Anfangsthema.

Sonatenentwurf in d-Moll (WAB add 242/5)

EZ: Juni 1862
Aut.: ÖNB‑MS (Mus.Hs.44706, Kitzler-Studienbuch)
ED: s. NGAAnton Bruckner. Sämtliche Werke. Kritische Gesamtausgabe. Hg. v. der Generaldirektion der Österreichischen Nationalbibliothek und der Internationalen Bruckner-Gesellschaft. Wien 1951ff. (Editionsleitung: Leopold Nowak, auch als Neue Gesamtausgabe bezeichnet)
NGA: Band XXV (Paul Hawkshaw/Erich Wolfgang Partsch, 2014; Faksimile)

Dieser Sonatenentwurf auf S. 144 des Kitzler-Studienbuches steht als einziger im 3/4‑Takt und erstreckt sich über 28 Takte. Wie auch schon bei den Themen zum ersten und dritten Sonatenentwurf beginnen Melodie und Bass unisono. Ab T. 11 wird in der Überleitung das Material der ersten Takte verarbeitet.

Die 25 Takte umfassende Gesangsgruppe auf S. 149 wurde von Bruckner mit unterschiedlichen vi-de Zeichen überarbeitet. Nach dem 7. Takt verweist er mit einem Kreuz auf zwei später notiert Takte, von welchen zwei geschwungene Striche das nächste vi-de (nach drei gestrichenen Takten) angeben. Das weite Strecken von Sechzehntel-Durchgängen geprägte Notenbild geht in den letzten Takten in Synkopen über.

Literatur

ANDREA SINGER

Zuletzt inhaltlich bearbeitet: 18.11.2019

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