Einflüsse und Vorbilder

Den „Werdegang des Schullehrersohnes Anton Bruckner im Medium der musikalischen Traditionen, deren Kenntnis er sich im Laufe des Lebens aneignete, nachzuvollziehen heißt auch gleichzeitig, eine Art Schichtenprofil der Brucknerschen Komponistenphysiognomie zu erstellen. […] Das gewählte Bild eines Schichtenprofils greift jedoch vor allem in einem Punkt zu kurz: Es sind naturgemäß die ‚obersten‘ Schichten der später angeeigneten musikalischen Traditionen, die am besten dokumentiert und nachweisbar sind, während die elementaren Mechanismen der musikalischen Primärsozialisation Bruckners im Dunkeln bleiben“, schreibt Gerhard J. Winkler im Bruckner-Handbuch 2010 (S. 49). Diese „musikalische Primärsozialisation“ Bruckners lässt sich, wie nicht erst Arbeiten der letzten Jahre gezeigt haben, jedoch relativ gut dokumentieren:

Seine erste musikalische Prägung erhielt Bruckner durch die Kirchenmusikpraxis von Ansfelden und den Unterricht in Gesang, Violine, Klavier und Orgelspiel durch seinen Vater Anton Bruckner d. Ä., der wie alle Lehrer (lt. § 168 der Politischen Schulverfassung von 1804) neben dem Schuldienst auch als Organist und Regens chori verpflichtet war (Göll.-A. 1, S. 83). Durch den Kirchendienst des Vaters wurden dem Knaben erste Eindrücke des klassischen und nachklassischen Kirchenmusikrepertoires vermittelt, das oft in Bearbeitungen und/oder einfachsten Besetzungen aufgeführt wurde.

In Hörsching, wo sich Bruckner – mit Unterbrechungen – 1835–1837 bei seinem Cousin Johann Baptist Weiß aufhielt, begeisterte er sich für die Werke der Wiener Klassiker, insbesondere für die Oratorien Joseph Haydns (Die Schöpfung, Die Jahreszeiten, Die Sieben letzten Worte unseres Erlösers am Kreuze), aber auch für Kompositionen von Johann Sebastian Bach, Georg Friedrich Händel (1685–1759), Michael Haydn, Wolfgang Amadeus Mozart und Johann Georg Albrechtsberger.

Während seines dreijährigen Aufenthalts im Stift St. Florian 1837–1840 erarbeitete er sich – zuerst als Sängerknabe, nach dem Stimmbruch als Geiger – ein umfassendes kirchenmusikalisches Repertoire. Im Stift wurden naturgemäß neben dem gregorianischen Choral und gediegener Gebrauchsmusik die Werke J. Haydns und Mozarts besonders gepflegt, aber auch Kompositionen älterer Meister (Antonio Caldara [1670–1736], Händel). Bruckner war auch Schüler des St. Florianer Stiftsorganisten Anton Kattinger und konnte im Selbststudium vermutlich schon damals Werke Franz Schuberts kennenlernen: Das Stift verfügt über eine kostbare Sammlung von frühen Schubert-Drucken und -Abschriften, die zum Teil noch zu Lebzeiten Schuberts angeschafft wurden.

Während der Zeit des Unterrichts bei Johann August Dürrnberger in Linz (1840/41) nahm Bruckner an den großen Aufführungen teil, die Dürrnberger mit den Schülern in der Minoritenkirche veranstaltete. Hierbei wurden insbesondere Werke Mozarts und J. Haydns gespielt.

Die Zeit der ersten Anstellung im Schuldienst in Windhaag (1841–1843) bedeutete für Bruckner eine Zeit des Wiederholens und Festigens theoretischer Kenntnisse. In Windhaag soll Bruckner auch schon Bachs Kunst der Fuge studiert haben. Er komponierte hier seine erste Messe („Windhaager“ Messe in C‑Dur).

Von Kronstorf (1843–1845), seiner zweiten Dienststelle, aus, suchte Bruckner Leopold von Zenetti in Enns auf. Die Studienzeit bei diesem gebildeten, in der Tradition beheimateten Komponisten, Organisten und Regens chori reichte bis in Bruckners Florianer Jahre (1845–1855) hinein und machte ihn intensiv mit Kompositionen Bachs (Das Wohltemperierte Klavier, und, von Zenetti besonders geschätzt, den Orgelchorälen, vgl. Göll.-A. 1, S. 220f.), Mozarts, der Brüder Haydn, Ludwig van Beethovens, Schuberts, Carl Maria von Webers (1786–1826) und Felix Mendelssohn Bartholdys vertraut. So „konnte bei dieser Basisausbildung auch die gute Kenntnis der barocken Figurenlehre und der rhetorischen Figuren gewährleistet werden, die nicht nur in seine Kirchenmusik einfließt, sondern auch in seiner späteren großen Orchestermusik greifbar ist“ (Winkler, S. 52). Die kompositorischen Früchte des bei Zenetti und im Selbststudium Gelernten waren u. a. das Requiem in d‑Moll (WAB 39) von 1848/49 und – als Summe des Gelernten – die Missa solemnis von 1854 zur Infulierung des neuen Propstes, Prälat Friedrich Mayer.

Bis zur Übersiedlung Kattingers nach Kremsmünster (1849) genoss Bruckner in St. Florian auch wieder dessen Unterricht. Kattingers als „effektvoll“ (Göll.-A. 1, S. 137) charakterisierte und ganz nach Mendelssohn Bartholdy gebildete Improvisationen beeinflussten Bruckners eigenes Orgelspiel (Orgel) nachhaltig.

Etwa gleichzeitig mit seiner Übersiedlung nach Linz (1855–1868) begann Bruckner das Studium bei Simon Sechter. Zwar stand hier in erster Linie die Ausbildung in der Musiktheorie im Vordergrund, doch bewahrte Bruckner sich – nach eigenen Angaben – durch das Anhören guter Musik und viel freie Improvisation vor Trockenheit. Besonders begeistert war Bruckner von den Liedern Robert Schumanns: „Weinwurm hatte damals [i. e. im Sommer 1858] viel ,Schumann‘ zu Hause. Inmitten seines Zimmers stand das Klavier. Robert Schumann war damals in Wien noch nicht zur Geltung gekommen. Eine sehr bedeutende Partei von guten Musikern kannte Schumann nur von Kleinigkeiten, das erste waren Lieder Schumanns, die Weinwurm gerade in der Hand hatte und probierte, als Bruckner ins Zimmer trat. ‚Ah, das ist schön! von wem ist das?‘ Von diesem Tage an sprach er immer von Schumann.“ (Göll.-A. 3/1, S. 45f.).

Einen besonderen Stellenwert nahm für Bruckner Beethoven ein. Er war für ihn die „Incarnation alles Großen und Erhabenen in der Tonkunst“ (Karl Hruby, zit. n. Winkler, S. 56). Bruckner setzte sich insbesondere bei seinen Studien mit Otto Kitzler intensiv mit der Beethoven‘schen Sonatenhauptsatzform auseinander. Auch später analysierte Bruckner die Metrik von Beethovens Dritter und Neunter Symphonie, wie Eintragungen in seinen Taschen-Notizkalendern zeigen: „Die Eintragungen stammen aus der großen Umarbeitungswelle zwischen der Vollendung der Fünften Symphonie (WAB 105) und dem Beginn der Arbeiten am Streichquintett in F‑Dur (WAB 112). Nach der Analyse der Beethovenschen Symphonien wendet sich Bruckner seiner eigenen Vierten Symphonie (WAB 104) zu […] und untersucht sie nach denselben Gesichtspunkten. Da er im Finale eine Paukenstelle zitiert […], die sich erst im Finale der Fassung von 1878 findet, stammen diese Eintragungen frühestens vom 30.9.1878, der Vollendung des Finale in der 2. Fassung von 1878.“ (Verborgene Persönlichkeit, Bd. 1, S. 25).

Zu seiner ganz persönlichen Musiksprache fand Bruckner aber erst in der Begegnung mit der faszinierend neuartigen Musik Richard Wagners, Hector Berlioz‘ und Franz Liszts, zu der ihm Otto Kitzler und Ignaz Dorn verhalfen. Die Musik dieser sogenannten Neudeutschen Schule rezipierte Bruckner in zwei Phasen: Erstmals während der Studienzeit bei Kitzler und Dorn, dann im Wien der 1870er Jahre, in dem Bruckner schließlich selbst als „Wagnerianer“ von den Anhängern der neuen Kunstrichtung vereinnahmt wurde (vgl. Winkler, S. 58).

Literatur

ELISABETH MAIER

Zuletzt inhaltlich bearbeitet: 4.2.2020

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