Melodik

Bruckners Melodik ergibt sich aus einer modulartig zusammengesetzten Motivik, die über eine länger als zwei Takte währende Konstruktionsphase ausgeweitet ist, aber niemals auch nur in die Nähe der Wagner‘schen „unendlichen“ Melodie kommt. Bruckners Zugang zu dieser Art von Unendlichkeit findet sich in den Nebenstimmen in einer redundanten Wiederholung von Tremoli, Akkordzerlegungen, Schleifen, Mikrointervallschritten etc., also in einer Art Gewebestruktur, die aber für sich niemals melodischen Charakter beansprucht, wenn auch – fast in einer Art Vorausnahme zu Arnold Schönberg (1874–1951) – vertikale und horizontale Kongruenzen und Identifikationen in weit größerem Ausmaß vorkommen, als dies beispielsweise bei Richard Wagner der Fall war.

Selbst Bruckners längstes thematisches Formgebilde, das 21 (oder 23, wenn man das Tremolo mitzählt) Takte währende thematische Modell des Kopfsatzes der Siebenten Symphonie, ist strenggenommen ein Konglomerat aus zwei substantiellen Motiven, und deren Kombination zu Melodien bzw. bereits daraus resultierenden Abspaltungen, die aber phasentechnisch sehr geschickt verborgen werden.

Bruckners Themen sind in erheblichem Maße formbildend. Sein unverkennbarer Beitrag zur Melodiegeschichte (analog dem zur Geschichte der Rhythmik) bezieht sich auf die Durchformulierung des Quint-Oktav-Sprunges (Tonsymbolik) zu einem themen‑, ja im Fall des Te Deum sogar werkbildenden Faktor und auf die expressive Terzdurchschreitung, die als antipodisches Charakterelement in dieser ostinaten Prägung die zweite zentrale Brucknermelodie darstellt. Dass beide substantielle Formulierungen in der Lebens- und Werkrekapitulation der Neunten Symphonie ihre auch räumlich ausgedehnteste Fassung erfuhren und werkzentral wurden, zeigt – ebenso wie im Te Deum, wo beide Melodiemodelle werkkonstitutiv wurden – Bruckners eigenhändige Einschätzung der Aufeinanderfolge. Man mag seine tradierte Äußerung über das Te Deum als Anschluss an die Neunte Symphonie auf eben diese Komplementarität der melodisch erfassten Welten zurückführen, die tatsächlich so etwas wie einen Glaubenscharakter Bruckners an und durch diese beiden Sprachmuster ahnen lassen.

Bruckner differenziert zumindest das Quint-Oktav-Modell nach mehreren Artikulationsmöglichkeiten: als Entwicklungsthema (Beginn Dritte Symphonie, Siebente, Hornstelle zu Beginn der Neunten, die Cello-Kontrabass-Floskel im 2. Takt des Scherzo der Dritten, die Viola-Figur des „Et resurrexit“ aus dem Credo der Messe in f‑Moll, das Holzbläserthema des Scherzo der Fünften Symphonie und das Oboenmotiv aus dem Mittelteil des Scherzo der Neunten).

Das Quint-Oktav-Modell als Rufmelodie im Sinne Johann Philipp Kirnbergers (1721–1783) schreibt Bruckner dem Agnus Dei der Messe in d‑Moll, dem „suscipe“-Gedanken des Solobasses im Gloria dieser Messe, der Solo-Oboe im Thema des Adagio (langsamer Satz) der Fünften Symphonie oder der Basslinie des Hauptthemas der Sechsten zu. Im Sinne der Umspannung also eines alldurchdringenden Rufes organisiert Bruckner die Fuge „Alles, was Odem hat“ aus dem Psalm 150, das Finale der Fünften Symphonie und verschiedene Anrufe aus der Messe in d‑Moll („Jesum Christum“, „Dominus Deus“, „Tu solus Sanctus“). Aus einer Kombination der bisher genannten Zuordnungen formuliert der Komponist das „ex Maria virgine“ im Credo der Messe in f‑Moll.

Schon an dieser Stelle wird der Majestätscharakter des Gedankens sichtbar, der seine zentrale Umsetzung im Hauptthema von Bruckners Te Deum erfuhr. Die wiederholte Multiplikation einer Motiv-Idee setzt sich einerseits als Vor-Tonart-Determination fest, andererseits als Öffnung in einen zukunftsträchtigen, meditativen Raum. Diese Majestätssymbolik durchzieht die Messe in f‑Moll in der Wiederholung des „Gratias“ im Gloria und „Rex caelestis“ und im Themenkopf der „In Gloria“-Fuge, in den Verfahren des „Et iterum“ aus dem Credo, in der Erwartung der Auferstehung, im „Dominus Deus Sabaoth“ aus dem Sanctus, im „Hosanna“ und im „Dona nobis“ des Agnus Dei.

Majestät mit Konnotationen von Aggressivität formuliert Bruckner in den „Iudicare“-Vertonungen des Credo, in der Verbildlichung des Donners im Deutschen Lied und in Helgoland, im Schlusssatz der Ersten Symphonie von 1866 (Umschreibung „Das kecke Beserl“), im Hauptthema des Finales der Fünften, im Thema des Scherzos der Siebenten, das dann auch als Ausformung im Finale benutzt wird.

Aus diesem Majestäts‑ bzw. Bestätigungscharakter des Quint-Oktav-Sprunges folgt auch seine Verwendung als Interpunktionszeichnung, die inhaltlich Lebensende signalisiert, formal das Ende eines Musikstückes andeutet: im „Amen“ der Messe in e‑Moll, in allen Schlusstakten der einzelnen Teile dieser Messe außer dem Benedictus, in der Bassführung des „Halleluja“ im Psalm 150, in den Schlüssen der Dritten, Sechsten und Neunten Symphonie und – eher versteckt – innerhalb der Symbiose aller Themen in der Vierten, Fünften, Siebenten und Achten Symphonie.

Die expressive Terzdurchschreitung, die als Terzenmelodik schon bei Wolfgang Amadeus Mozart eine nicht unerhebliche Rolle gespielt hatte, hat Bruckner wie die Grundlage des Quint-Oktav-Sprunges für die Majestätsdarstellung des Te Deum im „Non confundar“-Motiv ein für alle Mal als Hoffnungstypus festgelegt. Dieser Hoffnungstypus ist der eklatante Gegensatz zu Wagners Tristan-Seufzer, weil er zwar die gleiche Sehnsucht artikuliert, sie aber nicht wie Wagner unerfüllt, sondern im Erreichen einer neuen Grundstufe als Tonika ihre Erfüllung finden lässt. Dass Bruckner damit den Himmel meint, ist nicht nur aus dem Te Deum abzulesen, sondern auch aus der Textstelle „zum Himmel geschickt“ in Helgoland. Es ist das Credo der Bruckner‘schen Arbeitsweise „Omnia ad maiorem Dei gloriam“ (O. A. M. D. G.), die Hoffnung auf die Güte Gottes im „Miserere“ der Messe in f‑Moll, das „Mysterium Crucis“ aus dem Vexilla regis, die Anbetung des Sanctus der Messe in d‑Moll, die sprachliche Gestalt des Christus-Motivs im Kyrie der Messe in f‑Moll, das Signet der Gottesmutter aus dem Ave Maria (WAB 6), das „Himmlische Jerusalem“ aus dem „Tota pulchra es, Maria“ und die Sprachfigur der Trösterin Musik aus dem gleichnamigen Lied. Analog zu diesen Textstellen laufen Trio und Finale der Achten, Finale der Ersten Symphonie und das Trio des Streichquintetts in F‑Dur ab. Auch das „Patrem immensae maiestatis“ aus dem Te Deum widerspricht nicht dieser Auslegung. Es ist einerseits die Kompression des weitgespannten Quint-Oktav-Raumes zur Enge der kleinen Terz, motiviert aus einer nicht mehr vorstellbaren Steigerung zur Macht, und andererseits die Relation des Gebetes zum Vater, dem Endadressaten jedweder Hoffnung.

Und noch etwas belegt diese These: In keinem Werk Bruckners wird diese Melodieformel zur Groteske umgeformt, während – wie das Beispiel des 3. Themas der Siebenten Symphonie im 1. Satz eindeutig klarmacht – das Quint-Oktav-Motiv durch den jambischen Grundrhythmus und die Verfremdung der gewöhnlich f auftretenden Wendung im pp eine für uns unheimliche Wirkung erhält.

Notenbeispiel 1: Siebente Symphonie, 1. Satz, Fl. 1, 2, T. 123

Literatur

MANFRED WAGNER

Zuletzt inhaltlich bearbeitet: 12.12.2017

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