Sonatenhauptsatzform

Der eigentlich korrekte, aber auch sehr umständliche Terminus „Sonatenhauptsatzform“ wurde erst 1924 durch Hermann Grabners (1886–1969) Allgemeine Musiklehre eingeführt. Die heute geläufigste Begriffsprägung „Sonatenform“ hingegen geht auf Die Lehre von der musikalischen Komposition (Leipzig 1837–1847) von Adolph Bernhard Marx (1795–1866) zurück. Die Sonatenform, deren Genese bis ins frühe 18. Jahrhundert zurückreicht, liegt in der Regel mindestens dem Kopfsatz, nicht selten auch dem Finale instrumentalmusikalischer Zyklen des späteren 18., des gesamten 19. und des frühen 20. Jahrhunderts zugrunde. So verhält es sich auch bei den meisten großen Instrumentalwerken Bruckners, angefangen bei den unter der Aufsicht Otto Kitzlers entstandenen Unterrichtsarbeiten bis hin zu den reifen Symphonien. Eine gewisse Ausnahme bildet nur das Streichquintett in F‑Dur (s. u.).

Alle Sätze der Symphonie, am leichtesten erkennbar die Ecksätze, folgen bei Bruckner stets dem Denkmodell der Sonatenhauptsatzform, auch wenn man bei deren Verifizierung, um mit Ernst Kurth zu sprechen, zunächst auf nicht viel mehr als auf die „äußeren Umrisse“ (Kurth, Bd. 1, S. 235) stößt. Diesen ist jedoch eine ganz besondere und nur im Rahmen von Bruckners symphonischem Konzept – das auf die Idee der gestuften Steigerung und des finalen Durchbruchs ausgerichtet ist – sinnvolle Funktion zugewiesen. Die Ecksätze weisen in Exposition und Reprise stets drei Hauptthemen (bzw. Themenfelder) auf, während die Scherzi in der Regel monothematisch angelegt sind, jedoch mit einem klaren Sonatenform-Grundriss, der eine zur Dominante (oder Parallele) führende Exposition, eine Durchführung und eine konsequent zur Tonika zurückkehrende Reprise vereint (die Trios sind analog gebaut). Für die langsamen Sätze sind zwar häufig auch andere Formkonzepte als das der Sonatenform zur Diskussion gestellt worden, doch ist ihr Verlauf in der Regel mit dem von Wolfram Steinbeck vorgeschlagenen Begriff „strophische Sonatensatzform“ (Steinbeck 1993, S. 39) am angemessensten zu beschreiben. Da neben den Ecksätzen also auch die Mittelsätze am besten, wenngleich in sehr unterschiedlicher Weise, als individuelle Ausprägungen der Sonatenform aufzufassen sind, ist die Behauptung kaum übertrieben, dass Bruckners Symphonik ausnahmslos (und damit konsequenter als bei den meisten seiner Zeitgenossen) auf diesem durch eine lange Tradition nobilitierten Formprinzip beruht, das er seinen Intentionen mit großer Umsicht anpasste.

In der frühen Rezeption hat freilich die schnell in einen pauschalen Vorwurf zu transformierende Beobachtung überwogen, Bruckner habe sich den Umgang mit der Form leicht gemacht. Von seinem Schüler Franz Schalk wurde Bruckners Formdenken auf eine allzu einfache Schematisierung zurückgeführt: „In der Tat gibt es nichts Primitiveres als die Brucknersche Form. Kaum je ist einer von den Großen mit dem Formproblem sorgloser umgegangen als Bruckner. Er hat sich ein sehr einfaches Schema für seine Sätze zurechtgelegt, darüber offenbar niemals spekuliert, und in all seinen Sinfonien ganz gleichmäßig festgehalten. Hauptthema, hier und da eine Art Introitus vorher, Seitensatz, den er stets sehr charakteristisch mit dem Wort Gesangsperiode bezeichnete, und Schlußperiode für die Ecksätze. Seine Adagios sind alle dreiteilig: Hauptthema, zweites Thema (Gesangsperiode), von denen das erste zweimal irgendwie variiert wiederkehrt, während das zweite nur eine Reprise erfährt. Seine engsten, geschlossensten Sätze sind stets die Scherzi, in denen allein das rhythmische Element den ‚Gesang‘ überwiegt oder ganz verdrängt.“ (Schalk, S. 89f.). Schon zu Bruckners Lebzeiten hatte Hermann Levi bekanntlich auf die Übersendung der Achten Symphonie (1. Fassung) mit erheblicher Irritation reagiert und, zunächst gegenüber Josef Schalk, vor allem „die große Aehnlichkeit mit der 7ten, das fast Schablonenmäßige der Form“ (Briefe II, 870930), kritisiert. Die Begriffe „Schema“ und „Schablone“ haben denn auch mindestens bis zum Erscheinen von Kurths Monografie (1925) die Diskussion beherrscht.

Bruckner, der den Terminus „Sonatenform“ selbst so gut wie nie benutzte (mit einer bezeichnenden Ausnahme aus der Studienzeit bei Kitzler: „Sonatform“ in Briefe I, 620907; zudem auch einige Male im Kitzler-Studienbuch auf S. 105, 206), verwendete indessen in seinen Manuskripten oder in der Korrespondenz sehr wohl Begriffe aus der zeitgenössischen Kompositions- und Formenlehre. Das kantable 2. Thema der Ecksätze wie auch das 2. Thema der langsamen Sätze findet sich häufig als „Gesangsgruppe“ oder „Gesangsperiode“ bezeichnet; und die großformalen Abschnitte der (von ihm nicht so genannten) Sonatenform tragen bei Bruckner die Namen „1.“ und „2. Teil“, häufig auch „1.“ und „2. Abteilung“. All diese Termini stammen bezeichnenderweise aus dem Umkreis der Kompositionslehre Lehrbuch der musikalischen Komposition (4 Bde., Leipzig 1850–1867) von Johann Christian Lobe (1797–1881), die Bruckner besaß (vgl. Briefe I, 631008) und deren Zuschnitt, wie das Studienbuch zeigt, wohl auch den Unterricht bei Kitzler geprägt hat. Sie sind deshalb hier erwähnenswert, weil ihre Verwendung bei Bruckner einen tiefen Einblick in sein Formverständnis erlaubt; er verstand nämlich die Termini geradezu wörtlich und substantiell (was sie bei Lobe nicht unbedingt sind). Die „Gesangsperiode“ trägt bei Bruckner in der Tat ihren Namen mit vollem Recht (während Lobe generell den – oft genug auch nicht kantablen – Seitensatz der klassischen Sonatenform im Auge hat). Bruckners 2. Themen sind in allen Sätzen (die monothematisch konzipierten Scherzi ausgenommen) stets innige, weit ausschwingende Kantilenen, Beruhigungszonen der Form. Die konsequente Vermeidung der Begriffe „Exposition“, „Durchführung“ und „Reprise“ ist vor dem Hintergrund der (auch von Lobe noch vertretenen) zweiteiligen Sonatenformauffassung zu verstehen, gegen die sich die dreiteilige, propagiert von Adolph Bernhard Marx und Hugo Riemann (1849–1919), erst im Laufe des 19. Jahrhunderts durchsetzte. Dass von Bruckner Durchführung und Reprise unter dem begrifflichen Dach der „2. Abteilung“ zusammengefasst wurden, hatte für seine Formauffassung gravierende Konsequenzen, denn er machte damit durchaus kompositorisch Ernst: Im Kopfsatz der Dritten Symphonie etwa ermöglichte diese Auffassung die Gestaltung des Durchführungshöhepunkts mit dem Eintritt des Hauptthemas in der Tonika (die also keineswegs bis zum Reprisenbeginn aufgeschoben werden musste) und in den Ecksätzen der späten Symphonien, eigentlich seit dem Finale der Siebenten, wird es zunehmend schwierig, den Übergang von der Durchführung in die Reprise als distinkte Zäsur zu bestimmen. Schon in den Kopfsätzen der Sechsten und der Siebenten Symphonie ist der Repriseneintritt als solcher zwar erkennbar, aber durch Verschränkung mit dem Ende der Durchführung kunstvoll verschleiert; diese Verschränkung wurde dann in den Kopfsätzen der Achten und der Neunten zum Teil des Konzepts. Dazu gehört auch, dass Bruckners Reprisen (und zwar im Finale noch ausgeprägter als im Kopfsatz) sich ohnehin vom tradierten Modell dadurch unterscheiden, dass in ihnen die drei anfangs exponierten Themenfelder kaum je identisch, sondern mehr oder weniger stark variiert auftreten, somit also die Idee der Weiterentwicklung deutlich diejenige der Wiederkehr überwiegt. Das Ende der Exposition hingegen ist bei Bruckner immer außerordentlich klar: Bis auf wenige Ausnahmen wird es in der Partitur stets durch einen Doppelstrich markiert. Die konventionelle Wiederholung der Exposition gibt es allerdings nur noch in der im Unterricht bei Kitzler entstandenen Symphonie in f‑Moll („Studiensymphonie“).

Die Harmonik hat, anders als im klassischen Sonatensatz, bei Bruckner nur noch eingeschränkt formbildende Funktion (Dahlhaus). Alles andere würde der avancierten chromatischen Alterationsharmonik auf dem Entwicklungsstand der Nach-Tristan-Ära auch eine Rolle zumuten, die sie weder erfüllen kann noch will (sehr instruktiv dazu bereits Erpf, S. 131–133, 156–164). Bruckners Harmonik hat in erster Linie „lokale“ und nicht „global[e]“ Bedeutung (Steinbeck 1993, S. 20). Indessen ist es aufschlussreich, jene Formstellen ins Auge zu fassen, an denen Bruckner dennoch einen wohlkalkulierten Tribut an die Konventionen der früheren Formbildungsfunktion entrichtet: Seine Expositionen enden in den Ecksätzen und den Scherzi stets, und sei es manchmal auch erst in den allerletzten Takten vor dem Doppelstrich, in der nach dem tradierten Muster zu erwartenden Tonart (also in Dursätzen in der Dominante, in Mollsätzen in der Durparallele oder der Moll- oder Durdominante). Die einzige Ausnahme bildet hier das – ohnehin von der formalen Norm auffällig abweichende – Finale der Siebenten Symphonie (vgl. Nowak). Dieser scheinbare Konventionsrest fällt umso mehr auf, als er anders als im klassischen Modell ganz unabhängig ist von den Tonarten des Expositionsverlaufs, etwa jenen der „Gesangsperioden“, die nicht zwingend in der „richtigen“ Tonart auftreten müssen und manchmal sogar in Exposition und Reprise ganz regelwidrig dieselbe Tonart aufweisen (Finale der Achten Symphonie). Im Extremfall kann sogar die Schlussgruppe der Exposition nochmals in der Tonika einsetzen (Kopfsatz der Neunten Symphonie).

Zwar würden sich die personalstilistischen Merkmale von Bruckners Umgang mit der Sonatenform durchaus in einem Typenkatalog von „sonata deformations“ (Darcy) versammeln lassen, aber angesichts der pejorativen Konnotation dieses Begriffs ist es zweifellos angemessener, von satztypischer Neudeutung oder sogar von konzeptbezogenen Varianten der Sonatenform zu sprechen. Entscheidend ist nämlich in der Tat die Einsicht in die präzis kalkulierte Rolle, die diese hochgradig typisierten Umdeutungen in Bruckners symphonischem Konzept spielen. Wie ausschließlich sie mit der Symphonik und der spezifischen Idee ihrer Monumentalität verknüpft sind, beweist denn auch nichts besser als der Umstand, dass Bruckners einziges autorisiertes Kammermusikwerk, das Streichquintett in F‑Dur, wie schon Robert Haas bemerkte, ganz im Sinne bewusster Gattungsreflexion „eine starke, ja völlige Abkehr von der in der Symphonie festgelegten Sonatenform“ (Haas, S. 135) vollzieht.

Literatur

HANS-JOACHIM HINRICHSEN

Zuletzt inhaltlich bearbeitet: 1.9.2017

Medien

Kategorien

Links

ACDH-CH, Abteilung Musikwissenschaft