Studienbücher
Die Studienbücher Bruckners stellen sowohl mit Blick auf ihren Umfang als auch auf
die darin vermittelten Gegenstände ein musikgeschichtlich nahezu einmaliges Zeugnis
über die Art und Weise dar, wie einem Komponisten Wissen über Elementarkenntnisse der
Musik vermittelt werden. Sie markieren als zeitgeschichtliches Dokument in Bruckners
Leben ebenfalls den Übergang vom Beruf des Schullehrers bzw. Stadtpfarrorganisten
(Orgel), d. h. vom Arbeitsumfeld eines
ausführenden Musikers, hin zur Entscheidung, hauptsächlich als Komponist tätig zu
sein. Als Zeugnis des Unterrichts (Ausbildung und Lehrer
Bruckners) bei Simon Sechter und Otto Kitzler verdeutlichen die Studienbücher
auch aufgrund der detaillierten Beschäftigung mit den Gegenständen Harmonielehre,
Kontrapunkt und
Formenlehre die Ernsthaftigkeit und Entschlossenheit, mit der Bruckner die
kompositorische Eigenständigkeit anstrebte. In diesem Sinne können, wenn auch
inhaltlich voneinander zu trennen, die Studienbücher als Gesamtes verstanden werden,
die die Herausbildung des Komponisten Bruckner widerspiegeln. Auch wenn der Begriff
„Studienbuch“ im Folgenden auf die von Bruckner selbst verfassten
Unterrichtsmaterialien, d. h. die überwiegend autographe Dokumentation der
Unterrichtsaufgaben, bezogen ist, sei in diesem Zusammenhang ebenfalls auf die musiktheoretischen Schriften von Johann August Dürrnberger,
Sechter, Johann Christian Lobe (1797–1881), Friedrich Wilhelm Marpurg (1718–1795) und
Adolph Bernhard Marx (1795–1866) verwiesen, die – als Brucknersche Handexemplare
überliefert – gleichsam Teil des Unterrichts gewesen sein dürften, worauf nicht
zuletzt die Vielzahl an paratextuellen Verweisen innerhalb der Studienbücher sowie
der Druckwerke hindeutet.
Entstehung
Bruckners erster Kontakt zu Sechter, vermutlich durch Robert Führer oder Friedrich Theophil
Mayer vermittelt, ist auf das Jahr 1855 zu datieren. Der als Autorität in
Sachen Harmonielehre und Kontrapunkt geltende Sechter nahm Bruckner in der Folge als
Schüler auf. Der Unterricht, der wie durch Datierungen innerhalb der Studienbücher
feststellbar, von ca. 1855 bis 1861 andauerte, fand einerseits in intensiven
persönlichen Treffen sowie andererseits im postalischen Austausch zwischen Schüler
und Lehrer statt. Bruckner, der in diesen Jahren seinen Pflichten als Dom- und
Stadtpfarrorganist in Linz nachzugehen hatte,
reiste lediglich in den Fastenmonaten – da die musikalische Begleitung der
Gottesdienste unterblieb – sowie teils während der Sommerferien zu Sechter nach Wien. Eine Vermittlerrolle kam dabei Bruckners Freund
Rudolf Weinwurm zu, der für Bruckners
Aufenthalte eine geeignete Unterkunft organisierte sowie teilweise die Übersendung
der Unterrichtsmaterialien übernahm. Dass diese Vermittlerrolle mitunter für
Verzögerungen im Ablauf sorgte, ist der Korrespondenz zwischen Bruckner und Sechter
zu entnehmen, so schreibt Sechter an Bruckner: „Herr Weinwurm kam später zu mir als
ich erwartet hatte, und doch habe ich ihm die kontrapunktischen Beispiele schon so
lange gegeben, daß ich glaubte, Sie müßten dieselben seit einiger Zeit erhalten, umso
mehr war ich überrascht, aus Ihrem Brief zu entnehmen, daß er sie Ihnen noch nicht
geschickt hat.“ (Briefe I, S. 17f.).
Dem „vom Leichten zum Schweren“ strukturierten Unterricht bei Sechter folgten
jährlich durchgeführte Prüfungen, die in überlieferten Zeugnissen mündeten und somit sowohl die
Reihenfolge der unterrichteten Gegenstände als auch die Reihung der Studienbücher
bestätigen. Abschluss des Unterrichtes bei Sechter bildete die von Bruckner
angestrebte Unterrichtsbefähigungsprüfung am Konservatorium der
Gesellschaft der
Musikfreunde in Wien, die in dem vielzitierten Ausspruch Johann Herbecks mündete: „Er
hätte uns prüfen sollen!“ (Göll.-A., 3/1, S. 117).
Anschließend und in Fortsetzung zur Erlangung kompositorischer Eigenständigkeit nahm
Bruckner zwischen 1861 und 1863 Unterricht beim Linzer Theaterkapellmeister Otto
Kitzler in Formenlehre und
Instrumentation. Auch dieser
Unterricht wird durch umfangreiche Selbststudien Bruckners dokumentiert. Im Gegensatz
zum Unterricht bei Sechter richtete sich der Unterricht stärker am Studium
vorbildhafter Kompositionen wie bspw. Ludwig van Beethovens aus. Ebenfalls konträr zu Sechters striktem
Kompositionsverbot – lediglich die Fuge in d-Moll ist hier zu
nennen – mündete der Unterricht bei Kitzler in mehrere, formal groß angelegte Werke,
den Marsch für Orchester, die Drei Orchesterstücke,
die Ouvertüre in
g-Moll sowie die Symphonie in
f-Moll, deren Skizzierung und Ausarbeitung bereits in den
Studienbüchern nachzuvollziehen sind.
(Weiter-)Verwendung und Provenienz
Dass Bruckner die im Unterricht bei Sechter und Kitzler entstandenen Studienbücher
selbst als Professor für Harmonie, Kontrapunkt und Orgel im Unterricht am
Konservatorium ab 1868 benutzte, lässt sich als hinreichend wahrscheinlich annehmen.
Dies wird zum einen durch Eintragungen innerhalb der Studienbücher als auch zum
anderen durch Schilderungen der Schüler gestützt. Die Studienbücher waren demnach
nach absolvierter Ausbildung weiterhin in Verwendung und bis zu Bruckners Tod in dessen Besitz. Zu
welchem Zeitpunkt die einzelnen Bände in ihrer heute überlieferten Form gebunden
wurden, lässt sich bisher nicht eindeutig belegen, es ist jedoch wahrscheinlich, dass
die Bindung auf Bruckners Initiative geschah. Ob die Studienbücher bereits zu Beginn
des Verlassenschaftsverfahrens in Bruckners Nachlass fehlten oder erst später aus
diesem entfernt wurden, ist nicht zu klären (Nachlass), sodass zunächst auf die schwankende Anzahl von sechs oder sieben
Studienbüchern hingewiesen werden muss. Dass diese Folianten sowie einzelne Seiten
daraus für die Schüler als Memorabilien und damit als Reminiszenz an den genossenen
Unterricht gewertet werden dürften, liegt auf der Hand und es scheint daher wenig
verwunderlich, dass in Antiquariats- und Auktionskatalogen des 20. Jahrhunderts
einzelne Blätter sowie auch vollständige Studienbücher zum Verkauf standen. In diesem
Zusammenhang erwarb die Musiksammlung der Österreichischen Nationalbibliothek bis 2013 drei
vollständige Studienbücher, darunter zwei im Rahmen des Unterrichts bei Sechter
angefertigte Quellenkonvolute sowie das sogenannte Kitzler-Studienbuch. Ein
Studienbuch befindet sich heute im Diözesanarchiv Münster in der Sammlung Santini,
das sogenannte Santini-Studienbuch, sodass insgesamt der Harmonielehre- und
Kontrapunktunterricht der Jahre zwischen 1858 und 1861 sowie die Formenlehre und
Instrumentationskunde aus den Jahren 1861–1863 vorliegen. Ein weiteres Studienbuch,
dass aus sieben Teilquellen bestehend – vermutlich ursprünglich nicht gebunden war –
und heute lediglich rekonstruiert werden kann, spiegelt den Harmonielehreunterricht
bei Sechter aus den Jahren 1857–1858 wider. Je nach Zählung ist daher davon
auszugehen, dass fünf der ursprünglichen sechs oder sieben Studienbücher der
Forschung heute zugänglich sind, wobei der Verbleib des übrigen Studienmaterials
weder vermutet noch deren Existenz tatsächlich bestätigt werden kann.
Sechter-Studienbücher (WAB add 246–249)
1. Studienbuch (WAB add 249)
Musikhandschrift, ca. 36 Bll.
EZ: |
Ca. 1857–1858 vermutlich in Wien und Linz
|
Aut.: |
Wienbibliothek, Musiksammlung (MHc-4124 und MHc-4996), ÖNB-MS
(Mus.Hs.2124 und Ms.Hs. 33803), Bayerische Staatsbibliothek München
(Mus.Ms.6561), New York Public Library, Toscanini Memorial Collection (JOC92-6
und JOF72-28)
|
Es handelt sich um ein Doppelautograph Bruckner-Sechter, dass aus einem Konvolut mehrerer Teilquellen
rekonstruierbar ist und ca. 70 Seiten umfasst. Der überwiegende Teil der Übungen ist
von der Hand Sechters geschrieben, wohingegen lediglich ein wesentlich geringerer
Anteil der Übungen von Bruckner vervollständigt wurde. Dagegen stammt eine Vielzahl
der an den Blatträndern vermerkten satztechnischen Regeln, Kommentare und Fragen von
Bruckner. Den Abschluss der Studien bildet ein halbseitig mit Bleistift beschriebenes
Blatt, welches mit „3. Juli [1]858 Conse[r]vatorium“ übertitelt ist. Mit Blick auf
die von Sechter ausgestellten Zeugnisse dürfte es sich bei den vorangegangenen
Übungen also mitunter um diejenigen handeln, deren gründliches Studium Sechter am
10.7.1858 bestätigte. Die teils beschädigten Seitenränder sowie die Knickfalten meist
in der Blattmitte verweisen zudem darauf, dass es sich bei diesen Übungen um jenes
Material handeln könnte, dass postalisch zwischen Sechter und Bruckner ausgetauscht
wurde.
Die Harmonisierungsübungen umfassen dabei die Vorbereitung und Auflösung der
Quartsext- sowie Septakkorde (inklusive der zugehörigen Umkehrungen) auf allen
Tonleiterstufen der Dur- sowie anschließend der Mollskala. Jedes Beispiel besteht
dabei meist aus einer harmonischen Progression von ca. vier bis acht Akkorden in
ganzen Noten. Charakteristisch ist zudem die Notation der Fundamentschritte mittels
Viertelnoten-Köpfen im Basssystem – die Sechter in Anknüpfung an Jean Philippe Rameau
(1683–1764) als tiefsten Ton des Terzenaufbaus der harmonischen Folge zugrunde legt
und anhand derer sich die Sechterschen Gesetzmäßigkeiten der Harmonisierung ableiten
lassen.
Den Abschluss sowie das verbindende Element dieser ersten dokumentierten
Unterrichtseinheit bildet eine weitere Teilquelle, die in den Toscanini Memorial
Archives der New York Public Library unter dem Titel „Chromatische Anmerkungen“ (JOF
72–28) verwahrt wird. Wieder vorwiegend in der Hand Sechters, beinhaltet diese
Handschrift dem Titel entsprechend Chromatisierungen bzw. chromatische Verwechslungen
zu den zuvor durchgeführten Beispielen. Die wiederaufgegriffenen Beispiele werden mit
tonartenverwandten chromatischen Schritten versehen und über ein Referenzsystem
bestehend aus Seitenangaben (Bspw.: „Seite 28“) sowie Buchstaben (bspw.: „a)“) zu den
ursprünglichen Übungen in Beziehung gesetzt. Da die verwendeten Buchstaben auch auf
den entsprechenden Seiten zu finden sind, lässt sich somit der ursprüngliche
inhaltliche Zusammenhang der Teilquellen belegen. Ein ähnliches Vorgehen,
chromatische Varianten der zuvor aufgestellten Übungen mittels Konkordanz an das Ende
eines größeren Komplexes zu stellen, findet sich auch im folgenden Studienbuch.
2. Studienbuch (WAB add 246)
Musikhandschrift, 128 Bll.
EZ: |
ca. Frühsommer 1858–13.8.1859 in Linz und Wien
|
Aut.: |
ÖNB-MS (Mus.Hs.34925)
|
Im Gegensatz zum Doppelautograph Sechter-Bruckner weist das chronologisch folgende
Studienbuch ein autographes Titelblatt auf, das gleichsam über den Inhalt Auskunft
gibt: „Ausarbeitungen über den höheren Theil der Harmonielehre bis anno 1858; dann
über den einfachen Contrapunct [mit Bleistift ergänzt:] v. 1859“. Die inhaltliche
Unterteilung zwischen Harmonielehre und Kontrapunkt spiegelt sich im Umfang der
Übungen insofern wider, als dass ca. das erste Drittel des Studienbuchs dem Abschluss
des Harmonielehreunterrichts gewidmet ist und anschließend wesentlich umfangreicher
die Kontrapunktübungen folgen. In beiden Abteilungen finden sich deutlich weniger
erkennbare Eintragungen von Sechter als im vorangegangenen Studienbuch.
Innerhalb der Harmonielehreübungen lassen sich wiederum zwei größere Sinneinheiten
unterteilen, die mit den von Bruckner gemachten Datierungen übereinstimmen: Zunächst
von fol. 2–42 ein Abschnitt, der mit einer „Prüfung der Harmonisierung, 7.7.1858“
schließt, und sich damit chronologisch mit dem Material des vorangegangenen
Studienbuchs überschneidet sowie eine Einheit, die von fol. 46–66 reichend eine
brucknertypische Schlussdatierung „Linz den 24. December 1858 h[eiliger]. Abend 6
Uhr“ aufweist. Die erste Einheit schließt zunächst mit der Vorbereitung und Auflösung
von Sept- und Septnonakkorden auf bestimmten Tonleiterstufen an das vorangegangene
Studienmaterial an, ehe Modulationen (Tonverwechslungen) wiederum in Dur- und Moll
bearbeitet werden. Die zweite Einheit, von Bruckner mit durchgängiger
Seitennummerierung versehen, befasst sich dagegen mit der Ausgestaltung von
Melodieverläufen unter speziellen Konstellationen, d. h. die Intervalle innerhalb des
Melodieverlaufs werden in Beziehung zu den zugrundeliegenden Stufenschritten gesetzt.
In beiden Abschnitten finden sich zahlreiche Verweise in Form von Seiten- oder
Paragraphenangaben, die sämtlich auf Sechters Grundsätze der
musikalischen Komposition referenzieren. Während die erste Einheit
ausschließlich auf den 1. Band der Grundsätze (S. 73–181)
verweist, folgt in der zweiten Einheit ein Sprung hin an das Ende des 2. Bandes.
(S. 293–386). Eine Vielzahl der hier vorliegenden Übungen bildet zum Teil
notengetreue Transkriptionen der Sechterschen Vorgaben. Die chronologische Folge der
Datierungen lässt einerseits vermuten, dass die inhaltliche Lücke zwischen beiden
Einheiten des Studienbuchs, die mit Blick auf die Grundsätze
suggeriert wird, nicht auf fehlendes Material, sondern vielmehr auf das
Überspringen der fraglichen Inhalte hindeutet. Andererseits lässt die Abfolge der
Seitenreferenzen vermuten, dass die aktuelle Bindung des Studienbuchs in Bezug auf
die erste Einheit nicht die ursprünglich bestehende Blattreihenfolge wiedergibt,
sodass ein Fehlen weiterer Seiten auch nicht vollständig ausgeschlossen werden
kann.
Ein ähnlich desperates Bild bieten die Kontrapunkt-Studien, deren ursprünglicher
Entstehungszusammenhang in der heutigen Bindung lediglich durch Bruckners Datierungen
sowie die inhaltliche Verbindung bei Ausarbeitungen über den gleichen Cantus firmus
nachvollziehbar ist. Durch die Datierungen bzw. angefügten Ortsangaben lassen sich
Bruckners Studienaufenthalte in Wien für das Jahr 1859 nachvollziehen. Eine erste
größere zusammenhängende, durchgängig paginierte Einheit zum einfachen Kontrapunkt
(Mus. Hs. 34925, fol. 86–100) dokumentiert Bruckners Unterricht im Fach zwischen
13.2.1858 bis ca. 4.5.1859. Der hier enthaltenen Übungen spiegeln kontrapunktische
Ausarbeitungen über vorgegebene Cantus firmi wider. Die Ausarbeitung erfolgt dabei
nach den von Johann Joseph Fux (1659/60–1741) systematisierten fünf Gattungen (Note
gegen Note, zwei Noten gegen eine, vier Noten gegen eine, Synkopen, contrapunctus
floridus) bei gleichzeitiger Versetzung des jeweiligen Cantus firmus in verschiedene
Stimmen. Während diese erste Einheit vermutlich größtenteils im Selbststudium
entstand, finden sich zwei weitere Unterrichtseinheiten, die sich anhand der
Paginierung zusammenfassen lassen, zwischen 24.7.1859 und 13.8.1859 datieren und
teils unter Sechters Aufsicht entstanden. Alle Übungen subsumieren
Anwendungsbeispiele im einfachen Kontrapunkt sowie die zugehörigen Ausarbeitungen in
allen fünf Gattungen. Für den hier angegebenen Zeitraum findet sich im 3. Studienbuch
(s. u., Mus. Hs. 24260, fol. 180–192,) ein Abschnitt, der Datierungen zwischen dem
19.7.1859 und 10.8.1859 aufweist, jedoch inhaltlich bereits Ausarbeitungen zum
doppelten Kontrapunkt enthält. Unter Berücksichtigung, dass sämtliche Datierungen
unmittelbar auf den Zeitpunkt der Niederschrift verweisen, verdeutlichen die Übungen
einerseits das ungemeine Arbeitspensum des sechswöchigen Studienaufenthalts und
andererseits die Simultanität bei gleichzeitig disziplinärer Teilung zwischen
Harmonielehre und einfachem sowie doppeltem Kontrapunkt, wie sie von Sechter
unterrichtet wurde.
3. Studienbuch (WAB add 247)
Musikhandschrift, 192 Bll.
EZ: |
23.8.1859–24.3.1860 in Linz und Wien
|
Aut.: |
ÖNB-MS (Mus.Hs.24260)
|
Im direkten Anschluss an seinen Studienaufenthalt in Wien begann Bruckner – wieder
zurückgekehrt nach Linz – am 23.8.1859 mit Übungen zum doppelten Kontrapunkt, die in
einem weiteren Studienbuch festgehalten sind. Umfang, Nummerierung,
Korrekturschichten und Tintenfarbe zeigen einen wesentlich höheren Planungsgrad als
das vorausgegangene Material an. Dies zeigt sich auch an dem steten Vermerk „Für
[1]860“, der darauf hindeutet, wann der nächste Studienaufenthalt bei Sechter geplant
war. Tatsächlich dürfte die Nummerierung der Doppelbögen sowie der Inhalt mit
Sechters Mitteilung vom 13.1.1860 übereinstimmen, dort antwortete er Bruckner: „Ihre
17 Hefte mit Arbeiten über den doppelten Contrapunct habe ich durchgesehen, und mich
mit Recht über Ihren Fleiß gewundert, so wie über die Fortschritte die Sie darin
gemacht haben.“ (Briefe I, S. 22). Inhaltlich finden sich in diesen Bögen sämtliche
Ausarbeitungen über den doppelten Kontrapunkt samt aller möglicher
Intervallversetzungen (Nr. 1–8) sowie die Vereinigung zunächst zweier Kontrapunkte
(Nr. 9–21) und anschließend dreier Kontrapunkte (Nr. 22–27). Den Abschluss zum
doppelten Kontrapunkt bilden die Übungen zur Umkehrung und Gegenbewegung (Nr. 28–36)
in sämtlichen Kombinationen der Intervallversetzung. Bruckner datiert in diesen
Abschnitten sowohl sein eigenes Fortschreiten, das sich vom 23.8.1859 bis zum
8.3.1860 erstreckt, sowie die Korrekturen, die er beim neuerlichen Studienaufenthalt
bei Sechter zwischen dem 24.2.1860 und dem 24.3.1860 erhielt.
Während dieses Studienaufenthalts entstanden nun auch die Übungen zum dreifachen und
vierfachen Kontrapunkt (Nr. 37–45), deren Abhandlung ähnlich wie zum vorausgegangenen
doppelten Kontrapunkt, zunächst nur in der Oktavversetzung, darauffolgend aber auch
in anderen Intervallversetzungen abgehandelt wird und das Studienbuch beschließen.
4. Studienbuch (WAB add 248, „Santini“-Studienbuch)
Musikhandschrift, 288 Bl.
EZ: |
16.4.1860–8.11.1861 in Linz und Wien
|
Aut.: |
Diözesanbibliothek Münster/Westfalen, Sammlung Santini (Hs.
4463)
|
Die in diesem Studienbuch enthaltenen Übungen bilden gewissermaßen die Fortsetzung
und den Abschluss der theoretischen Auseinandersetzung mit dem Gegenstand
Kontrapunkt. Das wiederum unmittelbar nach seiner Rückkehr am 16.4.1860 begonnene
Selbststudium folgte der gleichen Struktur wie die bereits im vorangegangenen
Studienjahr erprobte Methodik: In durch Nummerierung unterteilten Einheiten lassen
sich zunächst zwei größere Sinnabschnitte erkennen – die Beschäftigung mit Kanons
(Nr. 1–25) einerseits und mit Fugen (Nr. 26–52) andererseits sowie daran
angeschlossen ein Studienaufenthalt in Wien (Nr. 53–60) und zwei größere Nachträge
(ein mit arabischen Ziffern nummerierter Apparat zu verschiedenen Übungen [fol.
240r–268v] und ein weiterer mit römischen Ziffern nummerierter Appendix [fol.
269r–287v]).
Die Nachahmungstechniken innerhalb der Kanon-Übungen, umfassen neben der strengen
Imitation die typischen Mittel, wie Augmentation, Diminution, Umkehrung und Krebs.
Dabei folgen auch diese Ausarbeitungen dem Konzept vom leichten zum schwereren
Gegenstand, sodass nach zweistimmigen, drei- und anschließend vierstimmige Kanons
abgehandelt werden. Als formale Ausprägung finden sich innerhalb der Übungen
Gesellschafts-, Zirkel-, und Rätselkanons. Über diese Einheit, wie auch die folgende,
spiegelt eine Vielzahl der Anmerkungen die Unterweisung zwischen Schüler und Lehrer
wider. Bruckner annotiert dabei die von Sechter mündlich gemachten Äußerungen zu
Detailfragen. Diese Anmerkungen dürften jedoch nicht zeitgleich, sondern wiederum
erst während des Studienaufenthalts 1861 entstanden sein.
Die Einheit zur Fugenkomposition beginnt zunächst mit einer dem Gegenstand
gebräuchlichen Einführung über die Verwendung und Anlage von Dux und Comes sowie dazu
vier als Gattungen – nicht die von J. J. Fux bekannten Kontrapunktgattungen –
bezeichnete Formschablonen, die als Art der Fugenimitation und -beantwortung für
sämtliche nachstehende Übungen eine Grundlage bildet. Die sich anschließenden
zahlreichen Fugenexpositionen, die zunächst nur in C-Dur und a-Moll – Ausarbeitungen
in anderen Tonarten folgen später – verfertigt sind, nehmen im Fortgang sowohl an
Umfang und Komplexität zu. Teilweise entstehen so fast vollständige
Fugenkompositionen mit nahezu eigenständigem Werkcharakter. Der Inhalt sowie die
Struktur des Unterrichts lehnen sich stark an das von Sechter neuaufgelegte Lehrwerk
Abhandlung von der Fuge von F. W. Marpurg an, was sich auch
an der häufigen Übernahme von Beispielen und in referenzierenden Seitenzahlen zeigt.
Einem großen Teil der Ausarbeitungen stellt Bruckner die Betitelung als „Versuch“
bzw. „Vortrag“ voran. Die Bedeutung dieser Bezeichnungen lässt sich bisher noch nicht
vollständig klären, naheliegend scheint, dass die mit „Versuch“ gekennzeichneten
Übungen selbstständige Arbeiten Bruckners sind, hingegen die mit „Vortrag“ markierten
auf eine Vorlage Sechters schließen lassen. Da es sich jedoch um größtenteils während
des Selbststudiums ausgearbeitete Übungen handelt, scheinen aus dem mündlichen
„Vortrag“ Sechters entnommene Übungen wenig überzeugend. Wahrscheinlicher wäre ein
weiteres bisher nicht zugeordnetes Manuskript Sechters, welches Bruckner zum
Selbststudium überlassen wurde. Nichtsdestotrotz deutet sich in dieser Aufteilung
zwischen „Vortrag“ und „Versuch“ die didaktische Ausrichtung an, bei der ein
vorgegebenes Modell zuerst kopiert und im Anschluss eine eigene Lösung ausgearbeitet
wird.
Die in Wien unter Sechters Aufsicht angefertigten Übungen dienen meist der Korrektur
und Revision bereits durchgeführter Übungen und führen bereits Begonnenes weiter. Den
ersten Nachtragsapparat beginnt Bruckner wiederum direkt nach seinem Aufenthalt bei
Sechter, sodass der zuvor mehrfach markierte „Schluss“ der Studien, insofern
überschritten wird, als dass der Schüler Bruckner nach Beendigung des Lehrgangs nun
eigenständig Lösungen für kontrapunktische Problemstellungen entwickelt. Dagegen
bildet der zweite Nachtragsapparat eine Art Wiederholung mehrerer bisheriger Themen,
zunächst beginnend mit eigenständigen Fugenkompositionen, folgen Wiederholungen zum
einfachen Kontrapunkt sowie zum Kanon. Die Übungen enden mit der 1. Fassung sowie der
Reinschrift der Fuge in d-Moll, die Bruckner als Exempel
seiner Fertigkeiten in den unterrichteten Fächern zur Prüfung am Konservatorium
einreicht. Mit dem erfolgreichen Abschluss dieser Prüfung endet auch das Studienbuch
sowie insgesamt Bruckners Unterricht bei Sechter.
CLEMENS GUBSCH
5. Studienbuch (WAB add 252, „Kitzler“-Studienbuch)
Musikhandschrift, 163 Bl.
Das Studienbuch mit eigenhändigen Übungen legte Bruckner während seines Unterrichts
beim Dirigenten und Cellisten Otto Kitzler 1861–1863 in Linz an. Bruckner hatte bis
dahin bereits zahlreiche Kompositionen fertiggestellt, darunter auch Werke in großer
Besetzung (Requiem in d‑Moll [WAB 39] und Missa solemnis).
Die Handschrift besteht aus 163 zum Teil unterschiedlich großen Blättern im
Querformat (326 gezählte Seiten), geordnet in chronologischer Reihenfolge mit
zahlreichen autografen Datierungen zwischen H[eilige] Nacht anno [1]861 (S. 30)
und 10.7.1863 (S. 325).
Es handelt sich um eigenhändige Entwürfe, Bemerkungen, vollständige und unvollständige Kompositionen, die eine
rigorose Schulung in Formenlehre und Instrumentation zeigen. Am Anfang stehen Übungen
zu den verschiedenen Kadenzausführungen und zum Periodenbau. Danach folgen zwei- und
dreiteilige Liedformen (z. B. Lieder, Walzer,
Polka, Mazurka, und Galopp), Klavier-Etüden, Themen mit Variationen, Rondo, Sonatenhauptsatzform und das vollständige
Streichquartett in c‑Moll. Fortgesetzt wurden die Studien mit
Instrumentationsübungen (darunter zur Exposition des 1. Satzes von Ludwig van
Beethovens Sonate Pathetique und vier vollständigen
Orchesterstücken (Marsch für Orchester in d‑Moll, Drei Orchesterstücke). Der Band schließt mit Skizzen zur Ouvertüre in g‑Moll und Symphonie in
f‑Moll („Studiensymphonie“). Bruckner verwendete während des Unterrichts bei
Kitzler Lehrbücher von Ernst Friedrich Richter (1808–1879), Johann Christian Lobe
(1797–1881) und Adolf Bernhard Marx (1795–1866).
Das Kitzler-Studienbuch fasziniert wegen seiner Einblicke in die Geschichte der
musikalischen Ausbildung im 19. Jahrhundert sowie wegen der historischen und
theoretischen Bedeutung von Terminologie und Umfang der darin enthaltenen Übungen.
Nicht zuletzt ist dieses Manuskript unverzichtbar für die Untersuchungen über
Bruckners Arbeitsweise. Das Studienbuch konnte 2013 aus Privatbesitz für die
Österreichische Nationalbibliothek (ÖNB) erworben werden.
Das Studienbuch enthält die folgenden in der Gesamtausgabe schon herausgegebenen vollständigen Kompositionen:
Sonate
für Klavier in g‑Moll (WAB add 243)
Streichquartett in c‑Moll (WAB 111)
Rondo für
Streichquartett in c‑Moll (WAB 208)
Drei
Orchesterstücke (WAB 97/1‑3)
Marsch für Orchester
in d‑Moll (WAB 96)
Die folgenden teilweise nur im Faksimile veröffentlichten Übungen wurden von Bruckner
ursprünglich nicht als veröffentlichungswürdige Kompositionen betrachtet. Dabei
schwankt der Grad der Vollständigkeit sowohl mit Blick auf die formale Struktur, die
andeutungsweise ausgesetzte Begleitung als auch die Festlegung zwischen
verschiedenen, skizzierten Textvarianten. Nichtsdestotrotz lassen sich diese Übungen
aufgrund klarer autographer Betitelung oder gattungstypischer Werkgestalt
differenzieren:
Lieder für Singstimme und Klavier:
„O habt die Thräne
gern“ (WAB 205 und WAB add 236)
Nachglück (WAB 204 und WAB add 235) „Wenn die Sonne
niedersank“
Herzeleid (WAB add 232) „Die Menschenbrust ist freudlos und
verlassen“
Vor der schlummernden Mutter (WAB 206) „Da schlummerst nach Schweiß
und Mühen“
Des Baches Frühlingsfeier (WAB 202) „Was solls mit deinem
Brausen“
„Wie neid ich
dich, du stolzer Wald“ (WAB 207)
Last des
Herzens (WAB add 234) „Ringsum des Lenzes Duft“
„Es regnet“
(WAB add 231)
Wunsch
(WAB add 238) „Sie singt an jedem Morgen“
Der Trompeter an der Katzbach (WAB 201) „Von Wunden ganz
bedecket“
Klavierstücke:
Walzer in Es‑Dur (WAB 224/1)
Walzer in C‑Dur (WAB
224/2)
Polkas in C‑Dur (WAB 221/1‑4)
Mazurka in a‑Moll (WAB
218)
Menuett in
C‑Dur (WAB 219)
Menuett in G‑Dur (WAB
220)
Märsche für Klavier (WAB 217/1-3)
Andante für Klavier in
d‑Moll (WAB 211/2)
Andante für Klavier in
Es‑Dur (WAB 211/1)
Etüde in G‑Dur
(WAB 214)
Chromatische Etüde in
F‑Dur (WAB 212)
Themen mit
Variationen für Klavier (WAB 223/1‑5)
Fantasien (WAB
215/1‑4)
Galopp in C‑Dur (WAB add 239)
Duo in a‑Moll (WAB
213)
Klavierstücke (WAB 216/1‑5)
Rondos für Klavier
(WAB 222/1‑7)
Sonatenentwürfe für
Klavier (WAB add 242/1‑5)
Kammermusik:
Scherzi für
Streichquartett (WAB 209/1‑6)
Thema mit Variationen für Streichquartett in Es‑Dur (WAB 210)
Orchesterwerk:
Instrumentation der
Pathétique (WAB add 266) von Beethoven
Symphonie-Entwurf in
d‑Moll (WAB add 244)
PAUL HAWKSHAW
Literatur
- Otto Kitzler, Musikalische Erinnerungen mit Briefen von Wagner, Brahms, Bruckner und Richard Pohl. Brünn 1904, S. 28–34
- Göll.-A.August Göllerich/Max Auer, Anton Bruckner. Ein Lebens- und Schaffensbild (Deutsche Musikbücherei 36–39). 4 Bde. (in 9 Teilbänden [1, 2/1–2, 3/1–2, 4/1–4]). Regensburg 1922–1937, unveränd. Nachdruck 1974, 3/1, S. 117f.
- Nowak, Leopold: Ein Doppelautograph Sechter-Bruckner, in: Wilhelm Riedel/Hubert Unverricht (Hg.), Symbolae Historiae Musicae. Hellmut Federhofer zum 60. Geburtstag. Mainz 1971, S. 252–259
- Walter Zeleny, Die historischen Grundlagen des Theoriesystems von Simon Sechter (Wiener Veröffentlichungen zur Musikwissenschaft 10). Tutzing 1979
- Robert W. Wason, Viennese harmonic theory from Albrechtsberger to Schenker and Schoenberg (Studies in musicology 80). Ann Arbor 1985
- Paul Hawkshaw, Das Kitzler-Studienbuch: ein unschätzbares Dokument zu
Bruckners Arbeitsweise, in: Bruckner‑Symposion
1995Othmar Wessely u. a. (Hg.), Bruckner-Symposion. Zum Schaffensprozeß in den Künsten. Im Rahmen des Internationalen Brucknerfestes Linz 1995. 20.–24. September 1995. Bericht. Linz 1997, S. 95–109
- Paul Hawkshaw, A Composer Learns his Craft: Anton Bruckner‘s Lessons in Form and Orchestration, 1861–63, in: The Musical Quarterly 82 (1998) H. 2, S. 336–361
- Wolfgang Grandjean, Bruckners Studienbuch 1860/61 der Santini-Bibliothek in Münster/Westfalen als biographisches und musiktheoretisches Dokument, in: Bruckner-JahrbuchBruckner-Jahrbuch. (Wechselnde Herausgeber). Linz 1980ff. 2001–2005, S. 303–331
- Paul Hawkshaw, Lied als Lehrmittel: Lieder in den Formenlehren Anton
Bruckners während seiner Studienzeit bei Otto Kitzler 1861–1863, in: Bruckner-Tagung 2003Roland Bachleitner/Erich Wolfgang Partsch (Hg.), Bruckner-Tagung Steyr 2003. Bruckner – vokal. Sonderthema: Musikgeschichte Steyrs. Stadtpfarrhof, 23.–25. Oktober 2003. Bericht (Bruckner-Vorträge). Wien 2009, S. 179–195
- Dom- und StadtpfarrorganistElisabeth Maier, Anton Bruckner als Linzer Dom- und Stadtpfarrorganist. Aspekte einer Berufung. Mit einem Beitrag von Ikarus Kaiser (Anton Bruckner. Dokumente und Studien 15). Wien 2009, Dokumente, S. 184
- Briefe IAndrea Harrandt/Otto Schneider (Hg.), Briefe von, an und über Anton Bruckner. Bd. I. 1852–1886 (NGA XXIV/1). 2., rev. und verbesserte Aufl. Wien 2009