Rhythmik

Bruckners Werken, insbesondere seinen Symphonien, ist eine unverwechselbare Rhythmik eigen. Charakteristisch sind elementare Gestalten wie die Verbindung Duole-Triole (Bruckner-Rhythmus), kurze Sechzehntel-Auftakte („Vorschläge“), daktylische Rhythmen usw.; ferner Verfahren wie die vielfache Wiederholung von Grundmustern, die Fixierung einer rhythmischen Gestalt bei permanenter Variierung der Diastematik, proportional gestaffelte Bewegungssteigerungen und -reduktionen, die polyrhythmische Schichtung von Stimmen oder ganzer Orchestergruppen sowie heterophone Satzmuster in simultan erklingenden, leicht voneinander abweichenden und sich zu einem Quasi-Unisono ergänzenden rhythmischen Formeln.

Neben diesen Konstanten im Gesamtwerk, die in analytischen oder stilbeschreibenden Betrachtungen als Momente von Motivik, Thematik oder Form vielfach dargelegt wurden, zeigen sich in Bruckners Rhythmik auch Momente, die sich während seines Schaffens geändert haben. Bruckner fand zwar mit seiner Zweiten Symphonie (1872) zu einem für seine Symphonien fortan gültigen Formkonzept – dies begründet die „Familienähnlichkeit“ der Themen und Sätze –, doch entwickelte er auf der Grundlage dieses Konzepts immer kraftvollere, komplexere und ausdrucksstärkere Lösungen, deren Ausdruck maßgeblich durch den Rhythmus bestimmt wird.

Bruckners Rhythmik ist vielfältig hinsichtlich des Gebrauchs der rhythmischen Elemente, d. h. der Notenwerte und der Unterteilungen des Taktes, und dennoch einfach, insofern Takt und metrische Hierarchie in auffälliger Weise nach außen gekehrt werden. Im Unterschied zu anderen Komponisten des 19. Jahrhunderts, wie Robert Schumann oder Johannes Brahms, vermeidet Bruckner es, das Metrum zu verschleiern oder infrage zu stellen. Vielmehr bleibt der Takt durch Wiederholung taktrhythmischer Muster sowie durch eine vom Akzent des Anfangs geprägte fallende Metrik und durch eine Vorliebe für Volltaktigkeit der Themen als Grundeinheit der Form immer deutlich fühlbar. Auf welche Weise die Rhythmik den Takt „darstellt“, lässt sich exemplarisch an den Themen der Zweiten Symphonie aufzeigen, deren Schlichtheit und zugleich „ernste[ ], aber nie schwerfällige[ ] Majestät“ (Carragan, S. 415) nicht zuletzt auf ihren rhythmischen Charakter zurückgeht. So gibt der Bass in der Gesangsperiode des Finales die Zählzeiten des Allabreve-Taktes (Halbe Noten, verkürzt) vor, die Viola zeigt die Unterzeiten der Viertelnoten an, während die 1. Violine mit der Ganzen Note die Taktlänge markiert, um im 2. Takt ebenfalls in die Zählzeiten überzugehen (NB 1; ähnlich auch in der Gesangsperiode des Kopfsatzes).

Notenbeispiel 1: Zweite Symphonie (1. Fsg.), 4. Satz, Vl. 1, Va., Kb., T. 83–84.

Im 2. Thema des Adagio zeigen sich diese elementaren Taktunterteilungen im zeitlichen Ablauf, also horizontal: Es beginnt im 1. Takt mit einer Halben (die Tondauer ist durch pizzicato bzw. Pausen verkürzt), gefolgt von der Zählzeit-Viertel und der Achtelunterteilung (NB 2).

Notenbeispiel 2: Zweite Symphonie (1. Fsg.), 3. Satz, Vl. 1,2, T. 34–38.

Die anderen Themen der Symphonie sind nur geringfügig komplexer und prinzipiell in derselben Weise gestaltet.

Diese fast demonstrative Bindung der rhythmischen Erfindung an die metrische Ordnung – manchmal will es fast scheinen, als sei die Individualität des Rhythmus dem übermächtigen Taktschema abgetrotzt – dürfte durch Simon Sechters systematisch-rationale Takttheorie der Abhandlung Von den Gesetzen des Taktes in der Musik (1854) beeinflusst worden sein, die Bruckner durchgearbeitet hat. Er verdankt dieser Abhandlung offensichtlich noch weitere rhythmische Anregungen, wie das Morphem der Sechzehntel-Auftakte (bei Sechter Vorschläge, auch Nachschläge, S. 48–53, § 10), v. a. aber das Ausweichen in Nebentaktarten (Sechter, S. 9–12, § 4). Nach Sechter können Taktarten und damit rhythmische Bewegungen in ähnlicher Weise wie Tonarten innerhalb eines Tonstücks durch Ausweichungen verändert, ja sogar auf engstem Raum gemischt werden (Sechter, S. 86–90, § 18). So kann ein Stück, das einen 2/2-Takt vorgezeichnet hat, in einen 4/4-, 6/4-, 8/8- oder 12/8-Takt ausweichen, also in alle Taktarten, die durch binäre oder ternäre Unterteilung gewonnen werden.

Die Idee der Nebentaktarten lässt sich z. B. in der Dritten und Vierten Symphonie an Satzanfängen bei proportionalen Bewegungssteigerungen erkennen. Im Finale der Vierten wird zunächst, ähnlich wie in der Zweiten Symphonie, fast demonstrativ der Allabreve-Takt mit seinen natürlichen, binären Unterteilungen durch die simultan geschichteten Notenwerte „dargestellt“, die Halbenote wird dabei durch die wiederholte Gruppe aus vier Achtelnoten markiert.

Anschließend führt die „Taktausweichung“ aus dem anfangs zugrundeliegenden 1/1-Takt in den 2/2- und den 4/4-Takt (T. 19 bzw. 23) – man erkennt an diesem Beispiel, dass die Taktausweichungen, rhythmisch betrachtet, nichts Anderes als streng proportionale Diminutionen sind. Das Unisono-Hauptthema (ab T. 43; NB 3) enthält alle möglichen Taktarten: 1/1-, 2/2-, 3/2-, 4/4 mit 6/4 gemischt (Bruckner-Rhythmus) und 12/8-Takt, also auch solche, die durch ternäre Teilung entstehen.

Notenbeispiel 3: Vierte Symphonie (2. Fsg.), 4. Satz, Vl. 1, Kb., T. 43-55.

Diese Unterteilung des Taktes durch mehrere Divisoren überträgt Bruckner auch auf die Vertikale des Satzes, wodurch polyrhythmische Schichtungen entstehen. Ein extremes Beispiel von fast allen möglichen Unterteilungen findet sich im Andante der Zweiten Symphonie (Fassung 1877) bei der Reprise des Hauptthemas. Nach Buchstabe „K“ werden die Zählzeiten – der 4/4-Takt ist hier als 12/8-Takt notiert – unterteilt in zwei Viertelduolen, drei Achtelnoten, fünf Sechzehntelquintolen und sechs normale Sechzehntelnoten (in den Punktierungen); nach Buchstabe L gehen die Quintolen in einen Rhythmus über, der die Zählzeit in sieben und acht Werte unterteilt: Sechzehntel-Duolen und -Triolen wechseln sich ab und es entstehen 15 Anschläge auf eine punktierte Halbe; in der Fassung von 1872 stand hier sogar eine Unterteilung in neun Sechzehntel-Triolen. Proportionale Organisationen dieser Art – es fehlt eigentlich nur die Unterteilung in vier Werte – lassen an serielle Verfahren der Neuen Musik denken und sind zweifellos aus einer Lust am rationalen Experimentieren mit dem Rhythmus entstanden. Sie finden sich v. a. in den frühen Symphonien.

In der Sechsten bis Neunten Symphonie, die nach der Revisionspause von 1876/78 komponiert wurden, werden die Themen – auch rhythmisch – komplexer und kontrastreicher. Das Hauptthema der Siebenten Symphonie scheint geradezu ein Gegenmodell zu dem stark taktgebundenen der Zweiten Symphonie zu sein. Die viertaktige Anfangsphrase – sie besteht aus drei rhythmischen Elementen: lange Note, fünf Viertelnoten Auftakt, lange Note – erfährt eine Entwicklung durch Verkürzungen und Verlängerungen, v. a. aber durch metrische Verschiebungen innerhalb des Taktschemas mittels wechselnder Auftaktlängen. Dass das für Bruckner unerlässliche Maß an „Taktgebundenheit“ dennoch gewahrt bleibt, verdankt sich dem harmonischen Rhythmus, d. h. der Bewegung des Fundamentalbasses, der bei Bruckner in einer besonderen Weise an das Takt- und Periodenmetrum geknüpft ist.

Im Verlauf der Schaffenszeit gewinnt die rhythmische Struktur auch immer stärkeren Anteil an der Individualisierung der Themen. Das wird v. a. deutlich, sofern man unter Rhythmus nicht nur das Verhältnis der Notenwerte oder das zeitgestaltende motivische Teilmoment versteht, sondern auch das inhaltliche oder expressive Moment, das sich in Begriffen wie fließend, getragen, majestätisch, monoton oder schwungvoll, hüpfend, stampfend usw. beschreiben lässt. (Solche Charaktere sind allerdings streng genommen auf die Mitwirkung anderer Parameter wie Dynamik und Artikulation angewiesen.) Der federnde Rhythmus am Beginn der Sechsten Symphonie, der den Hintergrund abgibt für das „majestätische“ Hauptthema, die frei fließende, räumlich weitgespannte Anfangskantilene der Siebenten Symphonie mit ihrer komplexen Binnengliederung, der stockende Rhythmus des düsteren Hauptthemas der Achten Symphonie mit seinen Sechzehntel-„Vorschlägen“ – sie alle verleihen dem jeweiligen Werk seinen unverwechselbaren Charakter. Bei der „Entstehung“ des Hauptthemas am Beginn der Neunten Symphonie entwickelt sich alles allmählich aus dem gesetzten Grundton d und seiner durch den Sechzehntel-„Vorschlag“ erweiterten Variante in einem quasi-logischen motivischen Prozess; die einzelnen Stationen dieses Prozesses und die rhythmischen Varianten aber nehmen, bedingt auch durch kontrastreiche Instrumentierung und extreme Dynamikunterschiede, ganz verschiedene Ausdruckscharaktere an – von Choralhaft-Feierlichem über inständiges Flehen zum Markanten des großräumigen Hauptthemas.

Rhythmische Charaktere bestimmen auch die in den Symphonien wiederkehrenden Funktionsabschnitte. So besitzen in den Ecksätzen die Gesangsperioden, die 3. Themen und v. a. auch die Steigerungs- und Abbauabschnitte jeweils gewisse rhythmische „Familienähnlichkeiten“; ebenso auch die einzelnen Sätze der Symphonie, v. a. die Scherzi. Die Rhythmik der melodisch bestimmten Gesangsperioden ist eher fließend und der „Gesang“ entfaltet sich in einer zwischen Polyphonie und Heterophonie stehenden Satztechnik, das heißt in zwei bis vier rhythmisch eigenständigen Teilmelodien, deren Summenrhythmus jedoch einfach ist (exemplarisch im Kopfsatz der Vierten Symphonie). Die 3. Themen der Ecksätze und die Scherzi hingegen besitzen stets ein pointiert „rhythmisches“ Moment. Die kurzen, ostinato-artig wiederholten Formeln der 3. Themen („Unisonothemen“) weisen häufig eine heterophone Satztechnik auf (besonders eindrucksvoll in den Kopfsätzen der Dritten, Siebenten und Achten Symphonie); sie enthalten oft einige der oben benannten Morpheme, wie den Bruckner-Rhythmus (Dritte, Vierte und Sechste Symphonie) oder den „daktylischen Verfuß“, bestehend aus einer Viertelnote und zwei Achtelnoten (Zweite, Neunte Symphonie; in der Siebenten diminuiert; in der Wiener Fassung der Ersten nachträglich in das Stimmengeflecht eingepasst).

Ausgeprägt rhythmischen Charakter besitzen die Scherzi Bruckners, die sich von den anderen Sätzen durch den 3/4-Takt und das generell schnellere Tempo unterscheiden. Typisch sind sich in fließenden Achtelnoten drehende (Erste, Dritte, Siebente, Achte) oder in Viertelnoten stampfende (Neunte, Dritte) Ostinati. Ein charakteristisches Morphem ist hier ein aus zwei Achtelnoten und zwei Viertelnoten bestehendes Taktmotiv (Zweite, Siebente, Achte), das den daktylischen Versfuß der Unisonothemen zum Anapäst umkehrt. Die Verlagerung der Achtelnoten auf die betonte Zählzeit bewirkt eine Änderung im Charakter: Die Figur wirkt nun sperrig und widerborstig, da sie sich dem natürlichen „Fall“ des Metrums widersetzt (als „natürlich“ wird in der Musik die Unterteilung der unbetonten Zählzeiten empfunden). Stärkere rhythmisch-metrische Experimente – wie etwa in den Scherzi Ludwig van Beethovens – gibt es jedoch bei Bruckner nicht. Selbst die für den Dreiertakt naheliegende Figur der Hemiole, der Auflösung von zwei 3/4-Takten in einen 3/2-Takt, oder andere Störungen des Metrums erlaubt Bruckner sich nur selten, meist im Mittelteil der Scherzi (z. B. durch Imitation im Abstand einer Viertelnote in der Siebenten und Achten Symphonie). In der Linzer Fassung der Ersten Symphonie, seinem „kecken Beserl“, kommt die Hemiole zwar bereits in den ersten Takten vor (die Drehfigur des Anfangs wird in T. 3f. hemiolisch auf dreimal vier Achtelnoten verkürzt), zu einer „Gefährdung“ des Taktes kommt es dadurch aber nicht, denn die Taktanfänge werden zugleich durch Akzente markiert. Durch die feste Bindung des Rhythmus an den Takt im Zusammenspiel mit der „quadratischen“ Syntax erhalten die Bruckner‘schen Scherzi den für sie typischen Zug ungebrochener Monumentalität und lassen sie als Paradigma Bruckner‘scher Rhythmik erscheinen.

Literatur

WOLFGANG GRANDJEAN

Bruckner-Rhythmus

Es handelt sich um eine für Bruckner typische Steigerungsart (Stilmerkmale), die in häufig anzutreffenden und charakteristischen Figuren bestehend aus Duolen und Triolen (Ulm, S. 104, 122) als „elementarer Bestandteil der Brucknerschen Kompositionsweise“ (Ochmann, S. 33) gelten. Meist werden zwei Viertel bzw. Halbe mit triolischen Viertelnoten verbunden (Vierte Symphonie, 1. Satz ab T. 43; Dritte, 1. Satz, ab T. 8; Sechste, 1. Satz ab T. 22; Achte, 1. Satz ab T. 34).

Notenbeispiel 4: Nr. 66, aus: Kurth, Bd. 1, S. 530.

Der Bruckner-Rhythmus ist also definiert durch das ständige Nebeneinander und/oder Übereinander von Zweier- und Dreierbildungen in der Rhythmik.

Ernst Kurth (Bd. I, S. 529f.) nennt ihn „Bruckners Schicksalsrhythmus“, als „Ausdruck seiner ganzen inneren Formbewegung“. Tronnier verweist ebenso wie Manfred Wagner auch auf den Einfluss Richard Wagners (z. B. „kühlende Labung spendet der Quell“ aus Siegfried, 1. Akt).

Notenbeispiel 5: Erste Symphonie (Fsg. 1866), 2. Satz, Streicher, T. 30-34.

Notenbeispiel 6: Sechste Symphonie, 1. Satz, Streicher, T. 49-52 (2. Thema).

Oskar Loerke schreibt zur Achten Symphonie: „Melodische Doppelerfindungen, besonders in den Gesangsthemengruppen, verbinden zwei Lebensstimmungen, eine mehr menschliche und eine mehr naturhafte. Sprichwörtlich sind solche Koppelungen geworden wie die im dritten Finale, wo ein Choral und ein Ländler gleichzeitig miteinander gehen: hier trägt man einen Toten hinaus, und nebenan tanzt man auf der Hochzeit – in diesem Sinne drückte sich Bruckner darüber aus. So kommt die zwei- und dreiteilige Hälfte des Brucknerrhythmus übereinander zu stehen, wie es noch viele andere Kontrapunkte der Rhythmen gibt. Sinnbildlich gesprochen, liegen Kristallinisches und Schwarzerdiges in den verschiedenen Sätzen horizontal widereinander.“ (S. 173f.).

Literatur
  • Ernst Kurth, Bruckner. 2 Bde. Berlin 1925
  • Richard Tronnier, Der „Bruckner“-Rhythmus, in: Signale für die musikalische Welt 84 (1926) Nr. 51/52, S. 1834ff.
  • Oskar Loerke, Anton Bruckner. Ein Charakterbild. Berlin 1938
  • Manfred Wagner, Die Melodien Bruckners in systematischer Ordnung. Ein Beitrag zur Melodiegeschichte des 19. Jahrhunderts. 3 Bde. Diss. Wien 1970
  • Patrick Ochmann, Anton Bruckner und die Rezeptionsgeschichte seiner Symphonien (Europäische Hochschulschriften, Reihe 36, Musikwissenschaft 211). Frankfurt am Main–Wien 2001
  • Renate Ulm (Hg.), Die Symphonien Bruckners. Entstehung, Deutung, Wirkung. München 2005

ANDREA HARRANDT

Zuletzt inhaltlich bearbeitet: 7.5.2018

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