Christ-Fugenfragment in D‑Dur (WAB add 260)

Fugenfragment in einer Mitschrift von Viktor Christ aus Bruckners Harmonielehre- und Kontrapunktunterricht

EZ: 1889/90 in Wien
Aut.: verschollen
ED: Göll.-A.August Göllerich/Max Auer, Anton Bruckner. Ein Lebens- und Schaffensbild (Deutsche Musikbücherei 36–39). 4 Bde. (in 9 Teilbänden [1, 2/1–2, 3/1–2, 4/1–4]). Regensburg 1922–1937, unveränd. Nachdruck 1974 4/1, S. 60f. (1936)

Wie auch im Fall des Loidol-Fugenfragments in C‑Dur von 1880 hat sich mit dem Christ-Fugenfragment in D‑Dur eine spontan während des Unterrichts entworfene kompositorische Skizze Bruckners in der Mitschrift eines Schülers erhalten. Viktor Christ notierte das Fugenfragment während des Besuchs von Bruckners Kontrapunktunterricht am Konservatorium der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien in den Jahren 1889/90. Wie es für das Jahr 1880 durch die Mitschrift des Studenten Rafael Loidol (P. Oddo Loidol) belegt ist, stand auch 1889/90 eine Fuge am Ende des 2. Teils der musiktheoretischen Ausbildung, der dem kontrapunktischen Satz gewidmet war. Zwar bildete die in den Lehrbüchern zur Fuge von Friedrich Wilhelm Marpurg (1718–1795) und Ernst Friedrich Richter (1808–1879) vermittelte Tradition den wesentlichen Unterrichtsgegenstand, Bruckner unternahm jedoch auch Exkurse in Bereiche kompositorischer Peripherie und brachte Elemente seines Personalstils ein.

In Christs Mitschrift folgt nach einigen Imitationsübungen das 13 Takte umfassende Fugenfragment. Der im Klavier-Doppelsystem notierte vierstimmige Fugensatz reicht über die Exposition nicht hinaus. In der etwa zehn Jahre nach dem Loidol-Fugenfragment in C‑Dur niedergeschriebenen Skizze sind die Themengestaltung und der Expositionsaufbau schon stärker von Bruckners Personalstil beeinflusst. Das Thema lässt mit der punktierten halben Note und den folgenden Stufengängen in Vierteln v. a. Parallelen zu den Fugenthemen früherer Bruckner‘scher Werke erkennen. Durch die Vorwegnahme der Dominante gegen Ende des zweitaktigen Themas, welche die zum comes-Einsatz gleichzeitige Rückkehr der Tonika bewirkt, erscheint der comes-Einsatzton in der für Bruckner charakteristischen Weise als Quinte der zugrundeliegenden Harmonie. Da nun der comes, wie bei Bruckner üblich, real beantwortet und somit gegen Themenende (T. 4) die Doppeldominante erreicht, ist ein zweitaktiges zur Dominantspannung zurückführendes Modulationsbinnenzwischenspiel eingeschoben, um den 2. dux in T. 7 im Alt harmonisch vorzubereiten. Dem 4. Einsatz in T. 9 im Sopran folgt ein 2. Zwischenspiel mit Elementen der Kontrapunktstimmen, um in gleicher Weise den im letzten Takt des Fragments noch angedeuteten überzähligen 5. Einsatz in der Ausgangsstimme der Fugenexposition im Bass auf der Tonika harmonisch zu motivieren. Neben diesem 5. Einsatz ist auch die in den Stimmenlagen kontinuierlich vom unteren zum oberen Bereich gesteigerte Einsatzfolge dieser Fugenexposition ein für Bruckner typisches Gestaltungsmittel, das außerdem sein Steigerungsdenken im Rahmen einer Fuge andeutet. So ist auch das unter das Fragment gesetzte Zitat Bruckners zu verstehen: „Auf die Steigerung muß man losgehen im Kontrapunkt.“

Literatur

RAINER BOSS

Zuletzt inhaltlich bearbeitet: 18.11.2019

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ACDH-CH, Abteilung Musikwissenschaft