Harmonielehre- und Kontrapunktunterricht
Obwohl Bruckner seinen ursprünglichen Beruf als Schullehrer nur relativ kurze Zeit ausübte und mit der Annahme der Dom- und Stadtpfarrorganistenstelle in Linz 1856–1868 zum professionellen Musiker wechselte, blieb er der pädagogischen Familientradition doch treu. Fast bis zu seinem Lebensende gab er sein umfassendes musikalisches Wissen auf instrumentaler wie musiktheoretischer Ebene an seine Schüler weiter.
Es gibt Erinnerungsberichte und Mitschriften von Schülern, die Auskunft geben über die Lehrinhalte und Bruckners individuelle Lehrtätigkeit. Vor allem die musiktheoretischen Bereiche Harmonielehre und Kontrapunkt betreffend, die Bruckner selbst ausgiebig bis zur perfekten Beherrschung bei seinen Lehrern Johann August Dürrnberger 1840/41, Leopold von Zenetti 1843–1855, Simon Sechter 1855–1861 u. a. studiert hatte.
Bruckner baute den eigenen Unterricht zu einem nicht unbeträchtlichen Teil auf den Inhalten und Lehrbüchern seiner eigenen Ausbildung auf. Bei Dürrnberger lernte er dessen Elementar-Lehrbuch der Harmonie- und Generalbaß-Lehre (1841) sowie Friedrich Wilhelm Marpurgs (1718–1795) Handbuch bey dem Generalbasse und der Composition (1755–1758) kennen. Zenetti verwendete die Generalbassschule (1791) von Daniel Gottlob Türk (1750–1813). Auch die bei Sechter anhand seines Lehrbuches Die Grundsätze der musikalischen Komposition (1853/54) sowie einiger Manuskripte vermittelten Lehrgegenstände der Fundamentalbasstheorie, Melodieharmonisierung, des ein- bis vierfachen Kontrapunktes, Kirchenstils, Kanons und der Fuge dienten zumindest partiell als Basis für Bruckners Lehrtätigkeit in Wien.
Der grundsätzlich in die beiden Abschnitte 1. Harmonielehre und 2. Kontrapunkt eingeteilte Unterricht behandelte zwar geradezu stereotyp während der kompletten Lehrzeit 1868–1894 die immer gleichen Inhalte, setzte aber je nach Anspruch und Zielsetzung der jeweiligen Lehranstalten unterschiedliche Schwerpunkte. So konnte Bruckner bei der professionellen Musikerausbildung am Konservatorium der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien ganz andere Maßstäbe bei seinen Schülern setzen als bei den Hörern verschiedener Fakultäten der Universität Wien mit unterschiedlicher musikalischer Vorbildung, die sich nicht nur wegen des Lehrinhaltes, sondern auch wegen der originalen Persönlichkeit Bruckners dafür interessierten. Mitschriften der Universitätsschüler P. Oddo Loidol (1879/80), Carl Speiser (1889/90), Karl Heissenberger (undatiert, vermutlich Ende 1880er Jahre), August Engelbogen (1871–1940, undatiert, vermutlich ca. 1890) und Ernst Schwanzara (der in den Jahren 1891–1894 Bruckners Vorlesungen, die auf ein Jahr bzw. zwei Semester fixiert waren, mehrfach besuchte) bestätigen, wie Bruckner seine zunächst recht hohen Ansprüche doch etwas zurücknehmen musste, den komplexeren kontrapunktischen Bereich kürzte und stattdessen Grundbegriffen der elementaren Musiklehre wie Tonleitern und Intervallen mehr Zeit einräumte, da nicht alle Hörer über entsprechende Kenntnisse verfügten. Umso spannender muss es für die Zuhörer gewesen sein, dass Bruckner gelegentlich, und das vor allem bei der hohen Kunst des komplexen Fugensatzes, nicht nur sein umfassendes Wissen, sondern vor allem sein kompositorisches Können mit einbrachte, indem er eigene Fragmente spontan während des Unterrichts skizzierte (vgl. die Mitschrift von Loidol). Der Lehrplan umfasste elementare Anfangsgründe (Ton-, Intervall- und Akkordlehre), Akkordverbindungen, -vorbereitungen und ‑auflösungen nach allen Fundamentalschritten von Dreiklängen, Sept- und Nonenakkorden, zunächst in Dur, dann in Moll (meist ab dem 2. Semester), Stufengänge, Zwischenfundamente, dazu diverse Übungen im bezifferten Bass, vierstimmigen Satz, in besonderen Fällen, an längeren Kadenzen etc., Harmonisierungen von Melodien, diatonische, chromatische und enharmonische Tonwechslungen, bevor sich Bruckner am Ende des Lehrgangs kurz und bündig auf die Kunst kontrapunktischer Stimmführung einließ. Die Fuge krönte demnach nicht nur seine Werke, sondern bildete auch den Abschluss in seinem Unterricht.
Mitschriften von Konservatoriumsschülern wie die von Viktor Christ, der 1888–1890 bei Bruckner studierte, dokumentieren nicht nur (dank August Göllerich und Max Auer) eine etwas differenziertere Sicht des Bruckner‘schen Harmonielehreunterrichts, der in vielen (aber nicht allen) Punkten seinen eigenen Lehrern Dürrnberger und Sechter folgte, sondern belegen, dass Kontrapunkt auf Basis der Fugenlehrbücher von Marpurg (1843 von Sechter neu herausgegeben) und wohl auch Ernst Friedrich Richter (1808–1879) ausführlicher als an der Universität Wien anhand einer Reihe von Übungen zur Imitation, Gegenbewegung bis hin zur Fuge behandelt wurde (vgl. Göll.-A. 4/1, S. 56–61).
Mitschriften früherer Vorlesungen Bruckners an der Universität Wien wie die von Loidol 1879/80 weisen allerdings noch eine mit dem Konservatoriumsniveau vergleichbare Anlage auf: ein- bis vierfacher und doppelter Kontrapunkt, Imitation, Gegenbewegung und Kanon werden anhand vieler Beispiele besprochen, bevor der Unterricht wie üblich mit einer Fuge schließt.
Noch umfassender und detaillierter als im Konservatorium konnte Bruckner im Privatunterricht vorgehen. Friedrich Eckstein, der seit 1881 bei Bruckner studierte, berichtet in seinen Erinnerungen von 2 1/2 Jahren Harmonielehre und mehreren Jahren Unterweisung im Kontrapunkt. Friedrich Klose studierte 1886–1889 vor allem Harmonielehre und Kanon, da er in Fuge und anderen Bereichen schon gründlich ausgebildet war. Josef Vockner schließlich war der fleißigste private Theorieschüler Bruckners und studierte ca. zwölf Jahre (1876–1888) bei Bruckner; eine Fülle von aufgezeichneten Satzaufgaben inklusive diverser Korrekturen von Bruckners Hand dokumentieren dies.
Obwohl Bruckner laut Schüleraussagen mit Strenge und Konsequenz die Lehrinhalte trockener Musiktheorie vermittelte und dabei fest an seiner Lehrmethode der ständigen harmonischen Überprüfung durch die Fundamentalbasstheorie seines Lehrers Sechter festhielt, den Schülern während des Studiums sogar von eigener freier Komposition abriet, scheinen Originalität der Persönlichkeit und Genialität des Komponisten vielfach überwogen zu haben, sodass viele seiner Schüler zu Vorkämpfern für sein Werk wurden.
Christ drückte die Sehnsucht des Schülers nach Abschluss der Ausbildung (oder doch nur nach dem Ende der Unterrichtsstunde?) in einem Gedicht aus: „Hier weilen wir zwischen kahlen Mauern / Umfangen von des Kontrapunkts eintönigem Gebimmel. / Wie lange noch wird diese Marter dauern? / Wann strahlt uns wieder Sternenhimmel? / Kein traulich Glockenzeichen will den Lauscher grüßen. / Morastig, stockend keucht die Zeit dahin. / Will denn kein holder Engel uns das Sein versüßen? / Soll uns Erlösung nicht erblüh‘n?“ (Göll.-A. 4/1, S. 61f.; Partsch, S. 260).
Literatur
- Friedrich Wilhelm Marpurg, Handbuch bey dem Generalbasse und der Composition mit 2, 3 und mehreren Stimmen. Berlin 1755–1758
- Daniel Gottlob Türk, Kurze Anweisung zum Generalbaßspielen. Halle–Leipzig 1791
- Johann August Dürrnberger, Elementar-Lehrbuch der Harmonie- und Generalbaß-Lehre. Abgesondert in den theoretischen und practischen Theil, mit systematisch geordneten, vollständig ausgeführten Cadenzen und eigenen Orgelsätzen, als Leitfaden zu den öffentlichen Vorlesungen und auch zum Selbst-Unterrichte. Linz 1841
- Friedrich Wilhelm Marpurg, Abhandlung von der Fuge nach den Grundsätzen und Beispielen der besten in- und ausländischen Meister. Neu bearbeitet mit erläuternden Anmerkungen und Beispielen vermehrt von S. Sechter. 2 Teile. Wien [1843]
- Simon Sechter, Die Grundsätze der musikalischen Komposition. Leipzig 1853/54
- Ernst Friedrich Richter, Lehrbuch der Fuge. Anleitung zur Komposition derselben und zu den sie vorbereitenden Studien in den Nachahmungen und in dem Canon. Leipzig 1859
- Ernst Decsey, Anton Bruckner als Lehrer der Sechterschen Theorie. Erinnerungen und Beiträge, in: Die MusikDie Musik. Stuttgart–Berlin–Leipzig 1901/02–1914/15 und 1922/23–1942/43. Zusatz ab 1934: Amtliches Organ der NS-Kulturgemeinde; Zusatz ab 1937/38: Organ des Amtes für Kunstpflege beim Beauftragten des Führers für die gesamte geistige und weltanschauliche Erziehung und Schulung der NSDAP; Zusatz ab 1939: Organ der Hauptstelle Musik beim Beauftragten des Führers für die gesamte geistige und weltanschauliche Erziehung und Schulung der NSDAP; Zusatz ab 1940/41: Organ der Hauptstelle Musik beim Beauftragten des Führers für die Überwachung der gesamten geistigen und weltanschaulichen Schulung und Erziehung der NSDAP 6 (1906/07) H. 22, S. 191–204
- Friedrich Klose, Meine Lehrjahre bei Bruckner. Erinnerungen und Betrachtungen (Deutsche Musikbücherei 61). Regensburg 1927
- Max von Oberleithner, Meine Erinnerungen an Anton Bruckner (Von deutscher Musik 38). Regensburg 1933
- Göll.-A.August Göllerich/Max Auer, Anton Bruckner. Ein Lebens- und Schaffensbild (Deutsche Musikbücherei 36–39). 4 Bde. (in 9 Teilbänden [1, 2/1–2, 3/1–2, 4/1–4]). Regensburg 1922–1937, unveränd. Nachdruck 1974 4/1, S. 43–62
- Paul Stefan, Pupils of Bruckners Preserve the Composer‘s Theory, in: Musical America 59 (25.11.1939), S. 38
- Alfred Orel, Ein Harmonielehrekolleg bei Anton Bruckner (Wiener Musikbücher 1). Berlin–Wien–Zürich 1940
- Karl Kobald, Erinnerungen an Anton Bruckner, in: ÖMZÖsterreichische Musikzeitschrift. Wien 1946ff. 1 (1946) H. 9, S. 309ff.
- Ernst Schwanzara, Anton Bruckner und die reine Stimmung, in: ÖMZÖsterreichische Musikzeitschrift. Wien 1946ff. 4 (1949) H. 9, S. 260–263
- Ernst Schwanzara (Hg.), Anton Bruckner, Vorlesungen über Harmonielehre und Kontrapunkt an der Universität Wien. Wien 1950
- Georg Bieri, Bruckner als Lehrer für Musiktheorie, in: Schweizerische Musikpädagogische Blätter 43 (1956) Nr. 4, S. 164–174
- Erich Schenk/Gernot Gruber, „Die ganzen Studien“: Zu Josef Vockners Theorieunterricht bei Anton Bruckner, in: Bruckner-Studien 1975Othmar Wessely (Hg.), Bruckner-Studien. Festgabe der Österreichischen Akademie der Wissenschaften zum 150. Geburtstag von Anton Bruckner (Veröffentlichungen der Kommission für Musikforschung/Philosophisch-Historische Klasse 16). Wien 1975, S. 349–377
- Rudolf Flotzinger, Rafael Loidols Theoriekolleg bei Bruckner 1879/80, in: Bruckner-Studien 1975Othmar Wessely (Hg.), Bruckner-Studien. Festgabe der Österreichischen Akademie der Wissenschaften zum 150. Geburtstag von Anton Bruckner (Veröffentlichungen der Kommission für Musikforschung/Philosophisch-Historische Klasse 16). Wien 1975, S. 379–431
- Theophil Antonicek, Bruckners Universitätsschüler in den Nationalien der philosophischen Fakultät. Mit einem Verzeichnis der Hörer von Vorlesungen über musikalische Gegenstände vom Sommersemester 1875 bis zum Wintersemester 1896/97, in: Bruckner-Studien 1975Othmar Wessely (Hg.), Bruckner-Studien. Festgabe der Österreichischen Akademie der Wissenschaften zum 150. Geburtstag von Anton Bruckner (Veröffentlichungen der Kommission für Musikforschung/Philosophisch-Historische Klasse 16). Wien 1975, S. 433–487
- Elisabeth Maier, Bruckners oberösterreichische Lehrer, in: Bruckner‑Symposion 1988Othmar Wessely (Hg.), Bruckner-Symposion. Anton Bruckner als Schüler und Lehrer. Im Rahmen des Internationalen Brucknerfestes Linz 1988. 21.–25. September 1988. Bericht. Linz 1992, S. 35–49
- Andrea Harrandt, Harmonielehreunterricht bei Bruckner – Zu zwei neuaufgefundenen Vorlesungsmitschriften, in: Bruckner‑Symposion 1988Othmar Wessely (Hg.), Bruckner-Symposion. Anton Bruckner als Schüler und Lehrer. Im Rahmen des Internationalen Brucknerfestes Linz 1988. 21.–25. September 1988. Bericht. Linz 1992, S. 71–83
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- Andrea Harrandt, Eine unveröffentlichte Vorlesungsmitschrift. Karl Heissenberger als Theorieschüler Bruckners an der Universität, in: Bruckner-JahrbuchBruckner-Jahrbuch. (Wechselnde Herausgeber). Linz 1980ff. 1991/92/93, S. 155–189
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- Rainer Boss, Die „Dittrich-Fuge“, das „Loidol-Fragment“, das „Christ-Fragment“ und die „c‑Moll-Skizze“: Neue Einträge in das Werkverzeichnis Anton Bruckner (WAB), in: Bruckner-JahrbuchBruckner-Jahrbuch. (Wechselnde Herausgeber). Linz 1980ff. 1997–2000, S. 63–66
- Gerhard Baumgartner, Aus dem Kontrapunktunterricht bei Anton Bruckner. Eine Mitschrift von Lorenz Ritter, in: Bruckners Wiener JahreRenate Grasberger/Elisabeth Maier/Erich Wolfgang Partsch (Hg.), Anton Bruckners Wiener Jahre. Analysen – Fakten – Perspektiven (Wiener Bruckner-Studien 1). Wien 2009, S. 31–36
- Erich Wolfgang Partsch, Viktor Christ – Anton Bruckners Schüler und Kopist, in: Bruckners Wiener JahreRenate Grasberger/Elisabeth Maier/Erich Wolfgang Partsch (Hg.), Anton Bruckners Wiener Jahre. Analysen – Fakten – Perspektiven (Wiener Bruckner-Studien 1). Wien 2009, S. 259–272