Fuge und Fugato

Bruckners Leben war geprägt von musikalischer Satzkunst. Ob als Lernender (Lehrer Bruckners), Lehrender (Harmonielehre- und Kontrapunktunterricht), Komponierender (Arbeitsweise und Schaffensprozess, Entwürfe und Skizzen) oder Improvisierender (Improvisationen), die Strukturen der Musik faszinierten ihn. Insbesondere galt sein Interesse von Jugend an bis zu seinem letzten Symphoniesatz in der Neunten Symphonie dem Kontrapunkt und dessen satztechnischem Sonderproblem, der Fuge. Die Gestaltung der Fugen Bruckners spiegelt die Entwicklung des Komponisten vom traditionsbewussten Kirchenmusiker zum herausragenden Symphoniker wider. Die kompositorische Wende vollzog sich fließend, manifestierte sich aber in aller Deutlichkeit sowohl werkbezogen als auch biografisch in der 2. Hälfte der 1860er Jahre. Nach der 1864 in Linz komponierten Messe in d‑Moll entstand in den beiden Folgejahren die Erste Symphonie und 1866 die Messe in e‑Moll. 1867 erlitt Bruckner eine Nervenkrise (Bad Kreuzen), die vermutlich durch starke kompositorische wie berufliche Metamorphosen mitbedingt wurde. 1868, im Jahr der Übersiedlung nach Wien, gelang Bruckner im Credo seiner dritten und letzten Linzer Messe, der Messe in f‑Moll, der Durchbruch zur symphonischen Fuge, die er schließlich 1869 im Finalsatz der Symphonie in d‑Moll erstmals in die große Instrumentalgattung einbaute.

Notenbeispiel 1: Symphonie in d‑Moll („Annullierte“), Finale, Streicher, Pk., T. 19–22 (Haupt- und Fugenthema).

Den symphonischen Fugengedanken griff Bruckner dann noch drei weitere Male auf: in den Finalsätzen seiner Fünften, Achten und Neunten Symphonie. Der Gestalt und Funktion aller vier Finalsatz-Fugen ist die vollkommene Einschmelzung in den Grundriss der Sonatenhauptsatzform, verbunden mit der spannungsvollen Kombination von kontrapunktisch-linearer und symphonischer Gestaltung gemein, deren Entwicklung im Rahmen von Bruckners Steigerungstypus auf finale Dur-Apotheose und Wiederausbruch der Thematik des Werkbeginns zielt. Die Fugen in Bruckners Finalsätzen dienen der „Idee des Ganzen“ (Kurth, Bd. 1, S. 524), wie es Bruckner einmal selbst formuliert hat. Ihm ging es nicht darum, seine grandiosen, u. a. bei Simon Sechter erworbenen Kontrapunktkenntnisse für den satztechnischen Selbstzweck einer strengen Fuge zu nutzen, sondern jene als Mittel zum Zweck der jeweiligen Finalsatzgestaltung einzusetzen. So nutzte er den durch sukzessive Themeneinsätze, kontinuierliche Satzverdichtung und Quintbeantwortungen bedingten Spannungsaufbau einer Fugenexposition, um die Hauptsatzexposition des Finales der Fünften Symphonie zu ihrem symphonisch-akkordischen Höhepunkt zu steigern, um den Wiederausbruch des 1. Symphoniethemas in der Reprise des 3. Themas im Finalsatz der Achten Symphonie spannungsvoll vorzubereiten und um das Finale der Neunten Symphonie zu seinem wiederum symphonischen Reprisenausbruch zu führen. In den Finalsätzen der Fünften und Achten ist es gerade der polyphone Fugensatz, der die simultanen Themenvereinigungen ermöglicht.

Notenbeispiel 2: Fünfte Symphonie, Finale, Vl. 2, Kb., T. 522–526 (Kontrapunktisch vereinigte Kopfsatz-Hauptthemen).

Ebenso lässt sich im komplexen kontrapunktischen Satzgefüge die unauffällige Vorbereitung des thematischen Wiederausbruchs strukturell gestalten. Bruckner schöpfte die vielfältigen satztechnischen Möglichkeiten der Fuge für die auf Steigerung und Apotheose angelegte Sonatenform seiner Finalsätze voll aus. Die Fuge wurde in den Grundriss der Sonatenform integriert. Mit äußerst sensiblem musikalischem Gespür führt Bruckner nach und nach in die für die Sonatenentwicklung „neuartige“ Struktur dieser Stellen ein und leitet aus ihr wieder heraus, so in der Hauptthemenexposition des Finales der Symphonie in d‑Moll, wo der Einsatz kontrapunktischer Mittel von der eher unauffälligen Andeutung bis zum Engführungsfugato gesteigert und nach dieser Verdichtung wieder abgeschwächt wird. Der Fugensatz geht aber nicht nur nach den Seiten hin eine Verbindung mit der Sonatenform ein; seine lineare Struktur ist vielfach von rein akkordischen Stimmen umhüllt oder verstärkt, häufig der Harmonik angepasst und mit motivisch-thematischer Arbeit kombiniert, sodass sich polyphon-kontrapunktische Fugengestaltung und symphonisch-akkordische Sonatensatzgestaltung zu einer untrennbaren spannungsreichen Einheit vermischen.

Die Position der Integration des Fugensatzes in die Sonatenform ist verschieden und hängt von der jeweiligen Gesamtanlage des Satzes ab. Die Fugierungen der Hauptthemenexpositionen in den Finalsätzen der Symphonie in d‑Moll und der Fünften Symphonie stehen in direktem Zusammenhang mit den Durchführungsfugen. Die Expositionsfugati haben dabei die Aufgabe, in den Fugensatz einzuführen und somit die Durchführung vorzubereiten. Die Fugierung der Hauptthemenexposition bedingt eine langsame Einleitung, die zum einen als Kontrast für den wirkungsvollen Auftritt des Fugenthemas dient und zum anderen jenes durch Vorstrukturierung verarbeitungsfähig aus sich entlässt. Die entscheidenden Fugenereignisse in den Durchführungen haben ihrerseits eine Aufgabe im jeweiligen Gesamtgefüge des Bruckner‘schen Steigerungstypus zu erfüllen. Bruckner identifizierte den Fugenhöhepunkt mit der Reprise. Die Durchführungsfugen dienen also dazu, die Reprise anzusteuern und an ihrem Ende eine klare, von kontrapunktischen Verflechtungen weitgehend befreite Themengestalt eindeutig erscheinen zu lassen. Dass dieses Reprisenereignis im Gesamtzusammenhang als wichtiges Etappenziel vor dem endgültigen der Apotheose fungiert, erklärt, wie bedeutend diese Steigerungsentwicklung für den Finalsatz und somit für die ganze Symphonie ist. So münden die Durchführungsfugen der Symphonie in d‑Moll, der Fünften und Neunten Symphonie jeweils in einen monumentalen Höhepunktsausbruch, der in seiner Doppelfunktion als Fugenhöhepunkt und als Reprisenereignis durch die Fugengestaltung sorgfältig vorbereitet wird. Ansonsten sind die Durchführungsfugen in ihrer Gestalt verschieden. Die Fuge der Symphonie in d‑Moll besteht aus drei Engführungsblöcken, während die satztechnische Anlage der Fuge der Neunten Symphonie, die im Übrigen nur den Schlussteil der Durchführung ausfüllt, einen ähnlichen kontrapunktischen Verdichtungsaufbau von Fugenexposition, Engführungsepisode und Umkehrungsbildungen aufweist wie die fugierte Reprise des 3. Themas der Achten und der erste Fugenteil der Fünften Symphonie, der separat mit dem Choralthema gestaltet wird. Die Doppelfuge der Fünften verdankt ihre Länge nicht zuletzt der Doppelthematik. Sie bietet gegenüber den kurzen monothematischen Fugen der Symphonie in d‑Moll und der Neunten weitaus mehr Möglichkeiten der Spannungsaufladung und steht somit trotz ihrer Länge der Steigerungsentwicklung nicht entgegen, sondern steuert systematisch auf den Fugenhöhepunkt in Form der Vereinigung beider Fugenthemen im Orchesterunisono zu. Die beiden von vornherein auf den polyphonen Zusammenklang hin konzipierten Fugenthemen weisen trotz ihrer völlig unterschiedlichen Charaktere strukturelle Gemeinsamkeiten auf, die für die gesamte, in den Bruckner‘schen Finalsätzen verwendete Fugenthematik charakteristisch sind. Neben der Beschränkung auf vier Takte und dem Einbau typischer Intervalle mit für das kontrapunktische Geflecht bedeutsamem Wiedererkennungswert (wobei der Oktavsprung eine bevorzugte Stellung einnimmt) fällt die modulatorische Wendung zur Dominante gegen Ende des Themas auf. Somit wird gegen Ende des comes die themenstrukturbedingte Doppeldominante erreicht. Zur harmonischen Vorbereitung des 3. Themeneinsatzes, fügte Bruckner nach dem 2. Themeneinsatz eine zweitaktige modulatorische Erweiterung des comes ein. Dieses Binnenzwischenspiel nach dem comes ist notwendig, weil Bruckner real und infolge dessen die 5. Stufe nicht mit der 8. beantwortet, was einen unmittelbaren Anschluss des dux an den comes ermöglicht hätte. Demnach führt ein Merkmal der Bruckner‘schen Fugenthemenstruktur zu einem stilistischen Kennzeichen seiner Fugenexpositionsgestaltung, d. h., das Thema bindet die Formbildung an seine Struktur.

Die Realisation des Fugengedankens in den Finalsätzen der Symphonie in d‑Moll, der Fünften und Neunten Symphonie ist mit der Einleitung, der Verwendung des Hauptthemas als Fugenthema und der Durchführungsfuge, die systematisch zu ihrem symphonisch-monumentalen, mit dem Reprisenereignis identischen Höhepunktsausbruch hinleitet, durchaus vergleichbar, wenn auch ganz individuelle Lösungen vorliegen. Das Finale der Achten Symphonie hingegen, das weder eine fugierte Hauptthemenexposition noch eine überwiegend fugierte Durchführung aufweist und als Konsequenz dazu auch keine Einleitung braucht, lässt die Idee der Schlussfuge erkennen. In der finalen Apotheose sind die vier Symphoniehauptthemen simultan übereinandergeschichtet, um die motivisch-thematische Substanzgemeinschaft der Themen und somit der Symphoniesätze, die mit dem Tonmaterial dieser Themen gestaltet werden, offen darzulegen.

Notenbeispiel 3: Achte Symphonie (2. Fsg.), 4. Satz, T. 696–700 (Vereinigung der vier Hauptthemen).

Bei der Gestaltung der Fugen in den Finalsätzen seiner Symphonien konnte Bruckner nicht nur auf herausragende Kompositionen seiner Vorbilder, wie den fugierten Finalsätzen von Wolfgang Amadeus Mozarts Jupiter-Symphonie und Ludwig van Beethovens Neunter Symphonie, sondern auch auf den im eigenen Werk erprobten Gestaltungsideen systematisch aufbauen. Letztere waren bereits im Frühwerk stark von Kontrapunkt und Fuge geprägt, wie Bruckner selbst mit Bezug auf seine kompositorische Ausbildung im Gesuch um eine Stelle in der Wiener Hofmusikkapelle vom 14.10.1867 andeutet: „Der ehrfurchtsvoll Gefertigte ist anno 1824 zu Ansfelden in Oberösterreich geboren, war bis 1855 Lehrer und Stiftsorganist von St. Florian, ist seither Domorganist in Linz. Seit seiner Jugend widmete er sich mit allem Eifer den contrapunctischen Studien; seit dem Jahre 1855 war er Schüler des sel[igen] Hoforganisten und Professors Sechter, und verwendete all sein Ersparniß und alle freie Zeit, ja die Nächte für seine Ausbildung bis Juli 1863.“ (Briefe I, 671014).

Bedingt durch das kirchenmusikalische Umfeld, in dem Bruckner aufwuchs, war der heranreifende Komponist zunächst auf die geistliche Vokalmusik und die Orgelkomposition fokussiert. Das früh zu verzeichnende Interesse an kontrapunktischen Künsten führte schon bald zu ersten Fugierungen. Mit der Komposition „ein[es] fug.[ierten] Kyr.[ie] u[nd] Glor.[ia]“ entsprechend der vorgefundenen Gattungstradition zu seiner Messe für den Gründonnerstag in F‑Dur von 1844 unternahm Bruckner 1845 seinen ersten nachweisbaren Versuch im Bereich der Fugierung. Da beide Sätze verschollen (Verschollenes) sind, findet sich mit dem Asperges (WAB 3/1) Bruckners erste erhaltene Fugierung. Der vierstimmige gemischte Chorsatz mit Orgelbegleitung stammt ebenfalls aus den Jahren 1843–1845 in Kronstorf. Die Fugierung ist auf eine Durchführung bzw. die Fugenexposition beschränkt und besetzt den ersten von drei Teilen des kleinen Chorwerkes. Die durch die vorgegebenen vier Stimmen durchgeführte Thematik ist in der für Bruckners Frühstil typischen schlicht fallenden Stufenmelodik (Melodik) gehalten.

Notenbeispiel 4: Asperges (WAB 3/1), SATB, T. 1–19.

Die beiden mit Vorspiel versehenen Orgelfugen von 1846 und 1847 (Andante [Vorspiel] und Nachspiel für Orgel in d‑Moll, Vorspiel und Fuge in c‑Moll) sind als Zeugnisse für Bruckners erwachende kontrapunktische Kräfte auf instrumentalem Gebiet zu werten. Ein Bereich, der sich zunehmend auch mit der Begabung für spontane kontrapunktisch-fugierte Gestaltungen in seinen berühmten Orgelimprovisationen kombinierte. 1848/49 folgte Bruckners erste vollständige Vokalfuge in seinem Requiem in d‑Moll (WAB 39) für Soli, vierstimmigen gemischten Chor, Orchester und Orgel.

Notenbeispiel 5: Requiem in d‑Moll (WAB 39), SATB, T. 1–24 (Quam olim-Fuge).

Nach weiteren Vokalfugen, u. a. in Psalm 22, Psalm 114, Psalm 146 und Psalm 112 sowie in der Missa solemnis, gipfelte die Entwicklung in den drei großen Messen der Linzer Zeit (Messe in d‑Moll, Messe in e‑Moll, Messe in f‑Moll). In allen drei Werken sind die Schlussteile der Gloria-Sätze in Anlehnung an die auf der Tradition aufbauende Missa solemnis von 1854 mit einer Fuge besetzt, während das Credo nur in Bruckners letzter Messe, der Messe in f‑Moll von 1867/68, deutlicher auf die Fugierungstradition zurückgreift. Die Kyrie-Sätze der Messe in d‑Moll und der Messe in e‑Moll steuern durch kontinuierlich gesteigerte imitatorisch-kontrapunktische Spannungsverdichtungen, die bis zu freien Fugierungsformen gelangen, den homophonen Satzhöhepunkt im dritten Kyrie-Teil an. Dabei wird die traditionelle textgebundene dreiteilige Reprisenform von der Steigerungsentwicklung überflutet. In vergleichbarer Setzweise steigert sich das Sanctus der Messe in e‑Moll in kanonischen Engführungen zu homophonen Höhepunktstrukturen. Die Credo-Fuge der Messe in f‑Moll wird derart von bereits symphonisch konzipierter, ganz auf den Rückbezug zum Satzbeginn gerichteter Steigerungsentwicklung überflutet, dass es zur Sprengung des traditionellen Fugenbaus kommt. Damit war der letzte Schritt in der Entwicklung bis zur Integration der Fuge in die Symphonie in d‑Moll 1869 getan. Von herausragender Bedeutung für den symphonischen Fugengedanken ist die Bruckner‘sche Vokalfuge wohl vor allem deswegen, weil sie als krönende Schlussfuge das Denken in finalgerichteten Steigerungen geradezu herausfordert. Auch schon die Vokalfugen vor 1869 sind vielfach von Steigerungsentwicklungen im Gesamtzusammenhang eines Satzes oder Werkes geprägt und kündigen somit den Bruckner-spezifischen Symphonie-Steigerungstypus mit Integration der Fuge im Finale bereits an.

Notenbeispiel 6: Messe in f‑Moll, SATB, Orch., T. 437–444 (Credo-Fuge).

Kontrapunkt und Fuge spielen im Gesamtwerk Bruckners ab dem Asperges (WAB 31/1) aus den Jahren 1843–1845 bis zu seinem 1896 unvollendet hinterlassenen letzten Werk, der Neunten Symphonie, eine entscheidende Rolle. Der Weg führte über die Orgelfugen und geistlichen Vokalfugen zur symphonischen Fuge. Diese gab wiederum Impulse für die Gestaltung der Fugen anderer Werkgruppen (u. a. Streichquintett in F‑Dur, Te Deum, Psalm 150 Helgoland). Bruckner lernte anhand der vorgegebenen Tradition, blieb bei ihr aber nicht epigonenhaft stehen, sondern baute systematisch auf dem eigenen Werk auf und entwickelte dadurch seinen eigenen Stil, der sich vor allem in der Synthese von symphonischer Entwicklung und kontrapunktischer Fugensatzkunst darstellt.

Literatur

RAINER BOSS

Zuletzt inhaltlich bearbeitet: 4.2.2020

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