Loidol-Fugenfragment in C‑Dur (WAB add 261)
Fugenfragment in einer Mitschrift von Rafael Loidol aus Bruckners Harmonielehre- und Kontrapunktunterricht
EZ: | Sommersemester 1880 an der Universität Wien |
Aut.: | Stift Kremsmünster, Musiksammlung (Unterrichtsmitschrift von [Rafael] P. Oddo Loidol) |
ED: | Rudolf Flotzinger, Rafael Loidols Theoriekolleg bei Bruckner 1879/80, in: Bruckner-Studien 1975Othmar Wessely (Hg.), Bruckner-Studien. Festgabe der Österreichischen Akademie der Wissenschaften zum 150. Geburtstag von Anton Bruckner (Veröffentlichungen der Kommission für Musikforschung/Philosophisch-Historische Klasse 16). Wien 1975, S. 379–431, bes. S. 428ff. |
Verbunden mit Bruckners Übersiedlung nach Wien 1868 war die Annahme des Lehrauftrags als Professor für Harmonielehre und Kontrapunkt in der Nachfolge seines 1867 verstorbenen Lehrers Simon Sechter am Konservatorium der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien. Nach mühseligen Verhandlungen mit der Philosophischen Fakultät der Wiener k. k. Universität (für die Eduard Hanslick als zuständiger Fachprofessor für Geschichte und Ästhetik der Tonkunst die Gutachten zu Bruckner erstellte) wurde ab dem Sommersemester 1876 außerdem an dieser ein Lektorat speziell für Bruckner für das gleiche Stoffgebiet eingerichtet.
In den Mitschriften einiger seiner Schüler haben sich spontan während des Unterrichts entworfene kompositorische Fragmente von Bruckners Hand erhalten. V. a. sind die Fugenfragmente in den Mitschriften von Rafael Loidol (später P. Oddo Loidol), der im Rahmen seines Studiums 1879/80 dem Harmonielehre- und Kontrapunktunterricht Bruckners an der Universität Wien beiwohnte, und Viktor Christ (Christ-Fugenfragment in D‑Dur), der 1888–1890 als Konservatoriumsschüler bei Bruckner studierte, zu nennen.
Ganz am Ende der Mitschrift Loidols findet sich zum Abschluss von Bruckners Unterrichtsstoff im Sommersemester 1880 die Ausführung einer vierstimmigen Fuge. Die Fuge ist aufgeteilt auf vier Notenbeispiele von insgesamt 31 Takten (8, 7, 11 und 5 T.) im Klavier-Doppelsystem notiert. Sie reicht vom Fugenbeginn mit der thematischen Exposition bis zum Schluss mit Dominant- und Tonika-Orgelpunkt. Auch Bruckners verbale Unterrichtsanmerkungen sind dokumentiert.
Das Loidol-Fugenfragment in C‑Dur stellt ein zweitaktiges Thema als „Dux[,] der in der Tonika beginnt und in der Dominante hinzieht“ (s. Autograf, S. 44; vgl. Transkription bei Flotzinger, S. 428), wie Bruckner selbst die allgemeine Bedingung für das Thema in der dux-Gestalt formulierte, vor. Dem 2. dux im Tenor ist die harmonische Deutung des Themas zu entnehmen, das mit dem vorletzten Ton d die Doppeldominantspannung für den nachfolgenden comes-Einsatz auf der Dominante aufbaut (T. 6). Die harmonische Anlage des Fugenthemas weicht insofern von der für Bruckner charakteristischen Wendung zur Dominante gegen Themenende ab. Die einem Sequenzmodell sich nähernde Themenstruktur lässt nicht die für Bruckners Fugenthemen typische Zweiteilung in einen sprunghaften Themenkopf in längeren Notenwerten mit deutlichem Wiedererkennungswert und ein in schnelleren und gleichmäßigeren Werten vorantreibendes Folgemotiv erkennen (abgesehen von der anfänglichen Punktierung). Auch die tonale Beantwortung des comes, die schließlich gegen Ende von T. 4 zur Dominantspannung zurückführt, um die unmittelbare harmonische Verbindung ohne Modulationszwischenspiel mit dem folgenden, wieder tonikalen 2. dux zu ermöglichen, lässt keinen Bruckner-Stil erkennen. Das Festhalten an dem aus dem 1. dux fortgesponnenen Kontrapunkt, der überzählige 5. Einsatz in der wieder tonikalen dux-Ausgangsstimme, die sequenzierte Abspaltung des Themenendes für das zur 2. Durchführung in der Moll-Parallele mit zwei Einsätzen auf a (T. 13) und e (T. 15) überleitende Zwischenspiel, die nach dem modulierenden Mittelteil einsetzende mehrfache Engführung, der über den Orgelpunkten auf der Dominante und dann auf der Tonika verarbeitete Themenkopf und die Augmentierung des fallenden Stufengangs ganz am Ende der Fuge sind allerdings auf der Fugentradition aufbauende Elemente, die ebenso auch bei Bruckner‘schen Fugengestaltungen eine Rolle spielen, v. a. sehr deutlich in seinen früheren Werken, aber versteckt auch vielfach in den späteren selbständigen Schöpfungen.
Literatur
- Göll.-A.August Göllerich/Max Auer, Anton Bruckner. Ein Lebens- und Schaffensbild (Deutsche Musikbücherei 36–39). 4 Bde. (in 9 Teilbänden [1, 2/1–2, 3/1–2, 4/1–4]). Regensburg 1922–1937, unveränd. Nachdruck 1974 4/1, S. 602ff.
- Altman Kellner, Musikgeschichte des Stiftes Kremsmünster. Kassel–Basel 1956, S. 746–762
- Rudolf Flotzinger, Rafael Loidols Theoriekolleg bei Bruckner 1879/80, in: Bruckner-Studien 1975Othmar Wessely (Hg.), Bruckner-Studien. Festgabe der Österreichischen Akademie der Wissenschaften zum 150. Geburtstag von Anton Bruckner (Veröffentlichungen der Kommission für Musikforschung/Philosophisch-Historische Klasse 16). Wien 1975, S. 379–431
- Rainer Boss, Die Dittrich-Fuge, das Loidol-Fragment, das Christ-Fragment und die c‑Moll-Skizze: Neue Einträge in das Werkverzeichnis Anton Bruckner (WAB), in: Bruckner-JahrbuchBruckner-Jahrbuch. (Wechselnde Herausgeber). Linz 1980ff. 1997–2000, S. 63–66
- Erwin Horn, Bruckneriana zwischen St. Florian und Kremsmünster. Aufzeichnungen von Simon Ledermüller und Oddo (Rafael) Loidol, in: Bruckner-JahrbuchBruckner-Jahrbuch. (Wechselnde Herausgeber). Linz 1980ff. 2001–2005, S. 177–250
- Helmut Windischbauer, Oddo Loidol. Leben und Werk. Diss. Wien 2006