Musikalischer Versuch / Vergißmeinnicht (WAB 93a–b [alt 93a–c]) „Es blühten wunderschön auf der Au“
Kantate für vier- und achtstimmigen gemischten Chor, S-, A-, T-, B-Solo und Klavier in D‑Dur; zwei Fassungen: eine davon als Musikalischer Versuch (a), die andere als Vergißmeinnicht (b)
Sätze: |
Fsg. a: Eingangschor; Sopran- und Alt-Rezitativ; Sopran- und
Alt-Arie; Sopran-Alt-Duett: „Allegro“; Solo-Quartett; Tenor-Bass-Duett:
„Moderato“; Schlusschor a cappella: „Andante“ (laut der
1. Niederschrift, im Widmungsexemplar folgende Abweichungen:
Eingangschor:„Munter“; Sopran- und Alt-Arie: „Andante“; Solo-Quartett:
„Adagio“; Tenor-Bass-Duett: „Andante“) Fsg. b: Eingangschor; Sopran- und Alt-Rezitativ; Sopran- und Alt-Arie: „Mäßig“; Sopran-Tenor-Duett: „Moderato“; Solo-Quartett: „Sehr langsam“; Tenor-Bass-Duett: „Etwas schnell“; Schlusschor a cappella |
Text: | Wilhelm Dobelbauer |
EZ: |
Fsg. a: Mai/Juni 1845 in Kronstorf
Fsg. b: nach Fsg. a, vermutlich Juni/Juli 1845 in Kronstorf |
W: |
Fsg. a: Alois Knauer
(„Gewidmet zum hohen Nahmensfeste von Sr. Hochw. H: Pfar: im Jahre 1845 als
schwacher Beweis seiner tiefen Hochachtung […]“) Fsg. b: Friedrich Mayer („Diesen kleinen Versuch meinem Gönner und Herrn, dem Hochgelehrten Herrn Friedrich Mayer, regulirten Chorherrn und Kanzlei-Director des Stiftes St. Florian ehrfurchtsvollst gewidmet.“) |
UA: | ?; eine allfällige Wiedergabe von Fsg. a (in der Variante des Widmungsexemplars) erfolgte am Namenstag des Widmungsträgers Knauer, dem 21.6.1845, oder am Vorabend in Kronstorf |
Aut.: |
Fsg. a: ÖNB‑MS (Mus.Hs.6004,
1. Niederschrift; Mus.Hs.6003, Widmungsexemplar) Fsg. b: Stift St. Florian, Bruckner‑Archiv (19/1b, Widmungsexemplar) |
ED: | Fsg. b: Göll.-A.August Göllerich/Max Auer, Anton Bruckner. Ein Lebens- und Schaffensbild (Deutsche Musikbücherei 36–39). 4 Bde. (in 9 Teilbänden [1, 2/1–2, 3/1–2, 4/1–4]). Regensburg 1922–1937, unveränd. Nachdruck 1974 1, S. 283–300 (1922; Faksimile; Stift St. Florian, Bruckner‑Archiv, 19/1b zusammen mit 19/1a) |
NGA: | Band XXII/1 (Franz Burkhart/Rudolf H. Führer/Leopold Nowak, 1987) |
Die für den 27. und 28.5.1845 angesetzte Lehrbefähigungsprüfung („Lehrer-Konkursprüfung“) ließ das Ende der Kronstorfer Zeit für Bruckner als absehbar erscheinen. Mit dem Musikalischen Versuch (WAB 93a) wollte er dem ihm wohlgesinnten dichterisch veranlagten Ortspfarrer Knauer ein selbstgefertigtes Abschiedsgeschenk bereiten. Der vollständige Titel dieser Fassung lautet: Musikalischer Versuch nach dem Kammer-Styl über ein kurzes Gedicht für Sänger mit Begleitung des Pianoforte (laut der 1. Niederschrift, im Widmungsexemplar unwesentlich verändert) und ist Bruckners erste Kantaten-Komposition. Die 1. Niederschrift, in der sich Bruckner unter seinem Namenszug als „Cand[idatus]“ der Lehrbefähigungsprüfung bezeichnet, entstand vor dem 27.5.1845. Die als Widmungsexemplar angefertigte Reinschrift, die Bruckner noch im Mai/Juni 1845, jedenfalls vor dem 21. Juni, notierte, weist geringfügige Veränderungen im Eingangschor, Sopran-Rezitativ und im Tenor-Bass-Duett auf – daher fand diese Variante im Werkverzeichnis von Renate Grasberger als eigene Fassung (alt 93b) Aufnahme. Die Unterschiede zwischen beiden Partituren sind allerdings „nicht sehr bedeutend“ (Nowak, S. 249), weshalb sie von der neueren Forschung nicht als zwei Fassungen verstanden werden. Die Aufteilung der elf gleichförmigen Text-Strophen auf sieben Sätze in Kantatenform verstärkt die Anschaulichkeit der textlichen Handlung. Die Komposition zeigt trotz allgemeiner Einfachheit satztechnische Geschicklichkeit sowie Sinn für Tonmalerei und Deklamation; die Klavierbegleitung dient als harmonische Stütze. Warum Bruckner für das Fest – war es mehr Namenstags- oder Abschiedsgeschenk? – den rührselig-traurigen Text wählte, ist schwer verständlich. Vielleicht spielte das im letzten Vers enthaltene Wort „Vergißmeinnicht“ eine Rolle?
Mit der erfolgreich abgelegten Lehrbefähigungsprüfung hatte Bruckner die von seinem St. Florianer Gönner Mayer gestellten Bedingungen erfüllt und hoffte auf die Einlösung des Versprechens der Versetzung auf den besser bezahlten Lehrerposten in St. Florian. Die Widmung der zweiten Fassung (WAB 93b) sollte den Chorherrn ausdrücklich daran erinnern. Da die Zeit drängte, griff Bruckner auf die Pfarrer Knauer gewidmete Kantate (in der Form der 1. Niederschrift) zurück, veränderte einiges daran (Erweiterung instrumentaler Vorspiele, melodische Umformungen im Sinne von Melismen, aber auch Vereinfachungen durch die neue Textauffassung, s. im Sopran-Tenor-Duett, T. 96–101) und wählte einige deutsche Vortragsbezeichnungen. Den neuen beziehungsreichen Titel Vergißmeinnicht hat der Widmungsträger Mayer verstanden: Bruckner kam mit 25.9.1845 nach St. Florian.
Literatur
- Morgenblatt für gebildete Stände 25.9.1820, S. 1
- Göll.-A.August Göllerich/Max Auer, Anton Bruckner. Ein Lebens- und Schaffensbild (Deutsche Musikbücherei 36–39). 4 Bde. (in 9 Teilbänden [1, 2/1–2, 3/1–2, 4/1–4]). Regensburg 1922–1937, unveränd. Nachdruck 1974 1, S. 281–313
- Leopold Nowak, Die Kantate „Vergißmeinnicht“ von Anton Bruckner, in: Über Anton BrucknerLeopold Nowak, Über Anton Bruckner. Gesammelte Aufsätze 1936–1984. Wien 1985, S. 249–253
- Ivana Rentsch, Weltliche Vokalmusik, in: Bruckner-Handbuch 2010Hans-Joachim Hinrichsen (Hg.), Bruckner-Handbuch. Stuttgart–Weimar 2010, S. 290–309