Harmonik
„Dieser Geist hätte die Musik geschaffen, wenn es noch keine gegeben hätte.“ – so beschloss Ernst Kurth in seiner großen Monografie das Kapitel über Bruckners Harmonik (1925/1, S. 583). Sie ist geprägt von unterschiedlichsten Eindrücken: von Bruckners Studium von Partituren in St. Florian, seinem Unterricht bei dem renommierten Musiktheoretiker Simon Sechter bis hin zu Franz Schubert oder Richard Wagner. „Kaum faßlich“ sei, so Ekkehard Kreft, „dieser unglaubliche Sprung von einer historisch orientierten zu einer zeitgenössischen Harmonik“ (Kreft, S. 11). Den Einfluss älterer Meister zeigt die modale Harmonik etwa in der Motette Os justi (1879): Sie ist lydisch und hat einen mixolydischen Mittelteil (Horn 1982/4, S. 241). In der Sechsten Symphonie wird das Dur durch die erniedrigte 2., 6. und 7. Stufe der phrygischen Skala eingetrübt (vgl. Cooke, S. 364). Auch plötzliche Akkordrückungen (vgl. Unger) oder stufenweise fortschreitende Harmonien erinnern an modale Vorbilder, z. B. bei Giovanni Pierluigi da Palestrina (z. B. im 1. Satz der Dritten Symphonie, Fassung 1878, 1. Satz, T. 239–256 und die zahlreichen Sequenzen an die Musik des Barocks; Floros 1982, S. 8). Auf Schubert verweisen kühne Modulationen, Terzrückungen, Enharmonik oder das „Mollecho“, bei dem eine Phrase, zunächst in Dur, bei abgeschwächter Dynamik in Moll wiederholt wird (Floros 1982, S. 143). „Weittonalität“, in der Bruckner sich „frei in die entferntesten Tonarten bewegt, ohne das Ziel, die Tonika zu verlieren“ (Auer, S. 74), oder Chromatik und Enharmonik, besonders bei freier Metrik – wie etwa zu Beginn des Adagios der Neunten Symphonie (Nagler, S. 114f.) –, zeigen den Einfluss von Wagner. Trotzdem wirkt Bruckners Musik nicht eklektizistisch: Alle übernommenen Stilmittel werden „vollends assimiliert“ (Floros 1982, S. 8) und zu einer höchst persönlichen Sprache verschmolzen. Aus Bruckners Vorlesungen über Harmonielehre und Kontrapunkt an der Universität Wien ist darüber übrigens wenig zu erfahren (Ernst Schwanzara).
Harmonische Neuerungen entstehen oft weniger durch Erfindung völlig neuen Materials als vielmehr durch überraschende Verwendung von Bekanntem, also durch Verfremdungseffekte. Sequenzen von Akkorden im Quintabstand sind ein traditionsreiches Modulationsmittel; in Bruckners Skizzen zum Finale der Neunten Symphonie finden sich jedoch Sextakkordfolgen, deren Grundtöne im Abstand einer verminderten Quinte (Tritonus) stehen: Es‑Dur – A‑Dur, Ges‑Dur – C‑Dur, A‑Dur – Es‑Dur, C‑Dur–Fis‑Dur usw. Gerade in Sequenzen können einzelne Klänge, die überraschend vom Erwarteten abweichen, besonders intensive Farbwirkungen hervorbringen; etwa beginnt im 2. Hauptthema des 1. Satzes der Neunten Symphonie die Sequenz der ersten Viertaktgruppe nicht mit dem erwarteten C‑Dur, sondern mit a‑Moll (T. 101; Kurth 1925/1, S. 571f.). Im Finale der Sechsten Symphonie ist nicht die Sequenz aus im Terzabstand verschobenen Quintfällen an sich ungewöhnlich, sondern vielmehr ihre Länge: sie moduliert über den gesamten Quintenzirkel von Gis‑Dur nach es‑Moll (T. 340–356). Sequenzrückungen, v. a. im Abstand von Terzen, benutzt Bruckner gern als Modulationsmittel (Kurth 1925/1, S. 551).
Auch durch Kontrastierung unterschiedlichen Materials kommen neuartige Wirkungen zustande. So betont Bruckner die Leuchtkraft konsonanter Dreiklänge, indem er sie auf längere Passagen mit alterierten Klängen folgen lässt (Kurth 1920, S. 227); in der Motette Vexilla regis (1892) tritt bei den Worten „Fulget crucis“, „es blitzt des Kreuzes [Geheimnis]“ eine Kadenz in H‑Dur strahlend hervor, weil der Text zuvor innerhalb des phrygischen Modus rein modal gesetzt war (Horn 1981/5, S. 365).
Schon Kurth betonte, dass Bruckners Harmonik nicht ohne Einsicht in seine Formbildung verständlich sei (1925/1, S. 548). Grundsätzlich habe die Tonartenwahl eine formdynamische Funktion: In der „romantischen Harmonik“ allgemein und besonders bei Bruckner seien Kreuztonarten gewöhnlich in Verbindung mit melodischem Anstieg oder Spannungssteigerung zu finden, während b‑Tonarten eher mit sinkender Melodik und Spannungsverlust einhergingen (Kurth 1920). Chromatische Veränderungen dienten also oft als „formdynamisches Anzeichen“ eines veränderten Spannungsverlaufs (Kurth 1925/1, S. 546f.), und bis in Lage und melodische Funktion des Einzeltons hinein reiche die „formdynamische Bedingtheit der Harmonik“: Gewichtiges Ruhen kennzeichne die Fundamenttöne; Terzen in der höchsten Stimme signalisierten oft eine Spannungszunahme, denn sie hätten fast schon Leittoncharakter (Kurth 1925/1, S. 551f.). So oszilliert zu Beginn der Sechsten Symphonie der Ton cis zwischen den Funktionen als Terz der Haupttonart (A‑Dur) und als Leitton zu d‑Moll – eine, in den Worten des Bruckner-freundlichen Kritikers Theodor Helm, „echt Brucknersche harmonische Kühnheit“ (zit. n. Haas/Nowak, S. 73). Akkorddissonanzen oder Vorhaltstöne, die nach unten aufzulösen sind, bewirkten dagegen, so Kurth, häufig einen Spannungsabfall (Kurth 1925/1, S. 551f.). Andererseits könne eine zieldrängende Harmonie, etwa ein Dominantseptakkord, bei gleichzeitiger Abschattierung ins pp, wie ein atemschöpfender Neuansatz wirken und auf einen nahen Höhepunkt verweisen (Kurth 1925/1, S. 390). Da melodische Höhepunkte oft in leuchtende Kreuztonarten führten, sei im 1. Satz der Neunten Symphonie (d‑Moll) die harmonische Verdüsterung in den Ces‑Dur-Klang (T. 21) auf dem Gipfel eines melodischen Anstiegs merkwürdig, solange man nur diese Steigerung für sich betrachte. Hier sei die Harmonie aber Abschluss eines größeren Anfangsteiles. Also „ist die ganze subdominantische Dunkelwendung herrlicher Ausdruck der Gesamtdynamik; die Welle als Ganzes ist als Abebben empfunden, stünde sie mit ihrem zackigen Aufriß für sich oder in anderem Zusammenhang, so wäre die Tonartsverdüsterung unmotiviert“. So erkläre sich auch die dunkle Instrumentaltönung mit Hörnern in der Hauptstimme über tremolierenden Streichern in tiefer Lage (Kurth 1925/1, S. 321). Rückungen, die bei Bruckner (außer auf die Musik des 16. Jahrhunderts) auch auf die Registertechnik der Orgel zurückgehen, dienen häufig ebenfalls der Formbildung. Die in der Harmonik des 19. Jahrhunderts überhaupt beliebten mediantischen Rückungen (also entferntere, nicht terz-„verwandte“ Klangbeziehungen), deren Wirkung Bruckner bisweilen noch durch gleichzeitigen Tongeschlechtswechsel erhöht (Kurth 1925/1, S. 574), signalisieren häufig den Übergang zu einer neuen Themengruppe (etwa im Finale der Sechsten Symphonie, T. 63ff.; Unger, S. 125) oder dienen als Höhepunkte von Steigerungen – wie im 1. Satz der Fünften Symphonie, in der auf einen Des‑Dur-Akkord im ff eine weitere Steigerung „im grell aufleuchtenden A‑Dur“ (Kurth 1925/1, S. 419) folgt. Häufig erzeugen sie auch zu Beginn eines Werkes (z. B. in der Vierten oder Fünften Symphonie) eine tonale Unsicherheit, die durch die harmonisch-thematische Entwicklung im Laufe des Satzes dramatisch angespannt und in einem triumphalen Schluss aufgelöst wird. Eine ähnliche Wirkung erzielt Bruckner im Finale der Fünften Symphonie mit der chromatisch-enharmonischen Sequenz „Teufelsmühle“ (Dittrich, S. 118).
Auch Terzenschichtungen von Akkorden können große Spannung erzeugen, die den Satz gleichsam in Gang setzen (z. B. Dritte Symphonie, Scherzo) oder die Wirkung großer Steigerungen erhöhen (Floros 1982, S. 140); z. B. im Finale der Sechsten Symphonie über dem Orgelpunkt c (T. 359–370). Da derart reizvolle Ausdrucksmittel gleichermaßen zur Norm werden, kann die einfache Harmonik einer Kadenz besondere Formkraft gewinnen und einen nahenden Schluss andeuten (Kurth 1925/1, S. 543). Selbst die „Atonalität“, die Kurth zu Beginn des 3. Satzes in der Neunten Symphonie konstatierte, diene „der formalen Entwicklung; die ersten Takte sind, wenn man so sagen darf, vortonartlich“ (Kurth 1925/1, S. 563).
Auch zur Sprachvertonung setzt Bruckner harmonische Mittel ein. Kurth betont, dass Bruckner – wie auch andere Komponisten des 19. Jahrhunderts – sich die Hell-Dunkel-Wirkungen von Dur und Moll und Kreuz‑ und b‑Tonarten zunutze mache (1925/1, S. 545f.). So wird im Graduale Christus factus est III (1884) der Gehorsam Christi „bis zum Tod am Kreuz“ in diatonischer Harmonik ausgedrückt, die sich vom anfänglichen d‑Moll über dunkelstes f‑Moll nach Des‑Dur in tiefer Lage bewegt; die Worte „propter quod et Deus exaltavit illum (darum hat ihn Gott erhöht)“ erklingen zunächst in Des‑Dur, werden intensivierend im E‑Dur-Bereich wiederholt und verharren auf einem Halbschluss in leuchtendem H‑Dur. Zugleich wird der Klangreiz durch Terzrückungen und Enharmonik (z. B. C‑Dur – As‑Dur, T. 22, bzw. C‑Dur – gis‑Moll, T. 25) gesteigert (Horn 1982/6, S. 408–420).
Laut Kurth entsprechen dem Christus- oder Erlösergedanken in Bruckners geistlichen Werken „das Aufglühen plötzlicher Kreuztonarten (meist Fis- oder Cis‑Dur) mit gleichzeitigem pp, oder majestätische Akzente von höchster Pracht und Klangfülle, aber mit Tonartseindüsterung (meist Ges‑ oder Des‑Dur); gemeinsam ist also beiden das eigenartige Zusammenwirken harmonischer und äußerer Dynamik, oder genauer: der Widerspruch zwischen beiden als ein hochmystisches Element“ (Kurth 1925/1, S. 179). Auch Vorstellungen von Höhe und Tiefe könnten eine Rolle bei der Tonartenwahl spielen: In der Motette Virga Jesse (1885) steht die „Weittonalität“ einer chromatischen Modulation von Es‑Dur nach E‑Dur (T. 52–63) bei den Worten „in se reconcilians“: Gott versöhnt – so Erwin Horn – in sich Niedrigstes und Höchstes (Horn 1982/5, S. 336f.).
Im „Alleluja“ danach bleiben die Tonarten im Kreuztonartenbereich. Auch im Chorwerk Helgoland (1893) moduliert eine Passage bei „die brünstige Bitte zum Himmel“ (T. 73–78) von Es‑Dur (mit Molltrübung) nach E‑Dur, diesmal mit einer enharmonischen Umdeutung (Fes = E‑Dur). In Ecce sacerdos (1885) betont nach einem Quintklang (a–e) eine Rückung in einen f‑Moll-Akkord die Wiederholung der Worte „ecce sacerdos“, und ähnliche intensivierende Wiederholungen heben (ab T. 23–30) die Worte „Ideo jure jurando, ([Der Herr] hat ihm geschworen)“, hervor, wenn nacheinander E‑Dur, c‑Moll und G‑Dur, es‑Moll und B‑Dur und weitere Terzrückungen erklingen.
Im Credo der Messe in f‑Moll stehen Terzrückungen (Cis‑Dur–A‑Dur–F‑Dur) bei den Worten „ex Maria virgine“ im Tenorsolo bzw. „de spiritu sancto“ im Chor (aus Maria, der Jungfrau – durch den Heiligen Geist, T. 132f.). Im selben Satz wird bei „et exspecto resurrectionem mortuorum (und ich erwarte die Auferstehung der Toten)“ jedes Wort durch Kontraste betont: von einem – zuletzt gar terzlosen – Moll wendet sich die Harmonik bei „resurrectionem“ im ff zum hellsten Dur; jedoch fast noch eindrucksvoller scheint danach, bei „mortuorum“, das Unisono im pp. Selbst das Verstummen der Harmonien ist bei Bruckner ausdrucksvolles Mittel seiner musikalischen Sprache.
Literatur
- Ernst Kurth, Romantische Harmonik und ihre Krise in Wagners „Tristan“. Bern–Leipzig 1920
- Ernst Kurth, Bruckner. 2 Bde. Berlin 1925
- Max Auer, Bruckner als Kirchenmusiker (Deutsche Musikbücherei 54). Regensburg 1927
- Ernst Schwanzara (Hg.), Anton Bruckner, Vorlesungen über Harmonielehre und Kontrapunkt an der Universität Wien. Wien 1950
- Klaus Unger, Studien zur Harmonik Anton Bruckners. Einwirkung und Umwandlung älterer Klangstrukturen. Diss. Heidelberg 1969
- Deryck Cooke, Art. „Bruckner, (Joseph) Anton“, in: NGroveD¹Stanley Sadie (Hg.), The New Grove Dictionary of Music and Musicians. 20 Bde. London 1981 3 (1981), S. 352–371
- Erwin Horn, Anton Bruckner: Geistliche Motetten: Vexilla regis, in: Musica sacra 101 (1981) H. 5, S. 363–368
- Erwin Horn, Anton Bruckner: Geistliche Motetten: Os justi, in: Musica sacra 102 (1982) H. 4, S. 236–248
- Erwin Horn, Anton Bruckner: Geistliche Motetten: Virga Jesse, in: Musica sacra 102 (1982) H. 5, S. 334–346
- Erwin Horn, Anton Bruckner: Geistliche Motetten: Christus factus est, in: Musica sacra 102 (1982) H. 6, S. 408–420
- Constantin Floros, Thesen über Bruckner, in: Heinz-Klaus Metzger/Rainer Riehn (Hg.), Musik-Konzepte 23/24. München 1982, S. 5–14
- Norbert Nagler, Bruckners gründerzeitliche Monumentalsymphonie. Reflexionen zur Heteronomie kompositorischer Praxis, in: Heinz-Klaus Metzger/Rainer Riehn (Hg.), Musik-Konzepte 23/24. München 1982, S. 86–118
- Constantin Floros, Parallelen zwischen Schubert und Bruckner, in: Manfred Angerer (Hg.), Festschrift Othmar Wessely zum 60. Geburtstag. Tutzing 1982, S. 133–145
- Robert Haas/Leopold Nowak, Revisionsbericht zu NGAAnton Bruckner. Sämtliche Werke. Kritische Gesamtausgabe. Hg. v. der Generaldirektion der Österreichischen Nationalbibliothek und der Internationalen Bruckner-Gesellschaft. Wien 1951ff. (Editionsleitung: Leopold Nowak, auch als Neue Gesamtausgabe bezeichnet) VI (1986)
- Marie-Agnes Dittrich, „Teufelsmühle“ und „Omnibus“, in: Zeitschrift der Gesellschaft für Musiktheorie 4 (2007) H. 1/2, S. 107–121
- Ekkehard Kreft, Die Harmonik Anton Bruckners. Teil I (Beiträge zur europäischen Musikgeschichte 14). Frankfurt am Main 2009