Vorspiel und Fuge in c‑Moll (WAB 131)

Kompositionsübung für Orgel, 12 T. Vorspiel, 63 T. Fuge, unvollständig (?)

EZ: vollendet 15.1.1847 in St. Florian
Aut.: Stift Seitenstetten, Musiksammlung (Fxv3a2)
ED: Göll.-A.August Göllerich/Max Auer, Anton Bruckner. Ein Lebens- und Schaffensbild (Deutsche Musikbücherei 36–39). 4 Bde. (in 9 Teilbänden [1, 2/1–2, 3/1–2, 4/1–4]). Regensburg 1922–1937, unveränd. Nachdruck 1974 2/1, nach S. 60 (1928; Faksimile der 1. Autografseite); Göll.-A.August Göllerich/Max Auer, Anton Bruckner. Ein Lebens- und Schaffensbild (Deutsche Musikbücherei 36–39). 4 Bde. (in 9 Teilbänden [1, 2/1–2, 3/1–2, 4/1–4]). Regensburg 1922–1937, unveränd. Nachdruck 1974 2/2, S. 77–82 (1928; Übertragung des kompletten vorhandenen Notentextes)
NGA: Band XII/6 (Erwin Horn, 1999) und Revisionsbericht (2001)

Bruckner trug in das Autograf u. a. folgende Anmerkung ein: „NB. Versuchen / versch Contr.[apunkte]“, die wie bei anderen frühen Orgelwerken (WAB 127/128, 130/126) auch auf den Übungscharakter der Komposition verweist. Zudem zeigt sich durch Korrekturen, Überschreibungen, Streichungen, Rasuren, fehlende Akzidentien und Tintenkleckse ein eher skizzenhaftes Erscheinungsbild. Die 3. Autografseite verrät weitere Informationen zu dem Manuskript und dessen Geschichte durch folgende Beischrift: „Dr. Anton Bruckner‘s eigene Handschrift. / (Erhalten aus dem Stifte St. Florian). LKronawittermp / Seitenstetten“ (s. Autograf Aequale [WAB 114]). Ludwig Kronawitter (1853–1929) war in Seitenstetten äbtlicher Kammerdiener, Musiklehrer am Stiftsgymnasium und Primgeiger im Stiftsorchester. Ab 1883 wirkte er fast jährlich im nahegelegenen Stift St. Florian am Augustinus-Fest (28.8.) auf der Empore im Orchester mit und lernte schon bei seinem ersten Besuch Bruckner kennen. Vermutlich wurde Kronawitter bei einem dieser Aufenthalte das Bruckner-Manuskript überlassen.

Der Notentext selbst lässt erkennen, wie sehr Bruckner beim Üben verschiedener Kontrapunkte im Stadium von „Versuch und Irrtum“ befangen war. Bereits der 3. Takt ist durchgestrichen, und im Verlauf der Fuge wurden insgesamt neun Takte für ungültig erachtet, um ihnen optimierte Versionen folgen zu lassen. Auch in gültigen Partien nahm Bruckner zahlreiche Änderungen vor, wodurch das Notenbild unklar wurde. Da er es teilweise selbst nicht mehr lesen konnte, vermerkt er einzelne Notennamen.

Die Bestimmung des Werkes für Orgel ist nicht ausdrücklich angegeben, jedoch aus der Spreizung des Satzes in T. 48 (Thema-Einsatz im Bass) und aus der Oktavierung des Dominant-Orgelpunktes in T. 59f. zwingend zu folgern. Zudem sind die Taktstriche für T. 61 in ein 3. System heruntergezogen, um hier dem Pedalton g Platz einzuräumen.

Nicht nur durch die Tonart c‑Moll, sondern auch durch die von kleiner Terz und Sext geprägte Intervallstruktur erweist sich das Fugenthema als wegbereitend für spätere symphonische Themengestalten wie dem Kopfthema der Achten Symphonie. Unklar ist jedoch, ob die zweimalige Viertelnote as überzubinden ist, da Bruckner im Manuskript zuerst Viertel- mit übergebundener Achtelnote notiert, letztere aber durch eine separate Viertelnote ersetzt hatte. Ein Indiz gegen die ursprüngliche Lösung mit Überbindung findet sich zudem am Ende der 1. Autograf-Seite mit dem durchgestrichenen Thema-Zitat ohne Überbindung, aber inkl. b-Akzidenz für die 2. Viertelnote beim Taktübergang. Hier wie im ganzen Verlauf der Fuge findet sich keine einzige weitere Überbindung.

Wie im Nachspiel (WAB 126,1) bedient sich Bruckner der Formidee, der Fuge eine vorstrukturierende, ebenfalls 12-taktige Einleitung voranzustellen, deren Aufgabe es ist, das Fugengeschehen und dabei v. a. das Thema plausibel vorzubereiten. So gestaltet der offene Schluss auf der Dominante G‑Dur mit Fermate die Spannung auf den c‑Moll-Themeneinsatz der sich attacca anschließenden Fuge. Beide Stücke zusammen spannen einen weiten symphonischen Bogen und sind geprägt von der Gravität der schwergängigen Orgel des Stiftes St. Florian, die einen entschlossen Zugriff erfordert. Gegenüber der zwischen 1843 und 1846 entstandenen Nachspiel-Fuge ist die Einleitung der Fuge in c‑Moll allerdings konkret strukturiert, die Satztechnik des dreifachen Kontrapunktes weiter entwickelt und straffer organisiert, wie allein die Fugenexposition mit zwei beibehaltenen Kontrapunktstimmen zeigt, und eine Engführungspassage vor der den Schluss vorbereitenden Dominant-Orgelpunktspannung systematisch eingebaut. Auch die harmonische Anlage der Fuge zeigt, dass Bruckner schon in diesem Frühstadium seines Komponierens zur Weitung überkommener Formen drängte, indem er gegenüber dem vielfach eng gesteckten Grenzen traditioneller Gestaltung die tonalen Felder auf fünf Quintebenen ausdehnte.

Literatur

RAINER BOSS, ERWIN HORN

Zuletzt inhaltlich bearbeitet: 29.5.2017

Medien

Kategorien

Digitalisate

Quellen (Werkverzeichnis)

Erstdruck

Links

ACDH-CH, Abteilung Musikwissenschaft