Andante (Vorspiel) und Nachspiel für Orgel in d‑Moll (WAB 126/1-2 [alt 130 und 126])

Frühe Orgelstücke mit kompositorischen Fremdanteilen

EZ: vielleicht schon 1843 in Enns, spätestens aber 1846 in St. Florian
W: Ignaz Traumihler („Sr. Hochw. Hr. Ignaz Traumihler Chorregent im Stifte St. Florian“)
UA: ?
Aut.: Böhm & Sohn, Verlagsarchiv (o. Sign.)
ED: Böhm & Sohn, Augsburg–Wien 1927
NGA: Band XII/6 (Erwin Horn, 1999) und Revisionsbericht (2001)

Das Manuskript zu Andante (WAB 130) und Nachspiel (WAB 126) dürfte sich ursprünglich im Besitz des Widmungsträgers Traumihler befunden haben. Später kam es aus dem Nachlass des Stiftsorganisten Josef Seiberl durch den Notar Corsin Flir (1827–1894), St. Florian, an Josef Gruber, den Nachfolger Seiberls. Gruber übergab es 1928 nach der Drucklegung dem Musikverlag Böhm & Sohn. Später wurde es noch von Arthur Pichler für die Druckkontrolle einer Neuauflage benutzt (1940); nach dem Zweiten Weltkrieg galt es als verschollen. 1996 wurde es im Rahmen der Nachforschungen für die Neue Gesamtausgabe im Tresor von Böhm & Sohn wieder aufgefunden. Beigelegt war ein Brief mit der Datierung „Linz, am 7./ IV 1928“ von J. Gruber, der den damaligen Verlagsinhaber Theodor Böhm zur Aufbewahrung ermächtigte: „Da Sie mir mitteilen, daß Sie das A. Bruckner‘sche (Präludien) Manuscript gut aufzubewahren in der Lage sind, so bitte ich Sie dasselbe einstweilen zu behalten“ (Revisionsbericht zu NGA XII/6 [2001], S. 5f.). Zusammen mit diesem Brief blieb aus dem Fundus des Verlages beim kriegsbedingten Brand des Gebäudes 1944 Bruckners Manuskript zu Andante und Nachspiel dank der Aufbewahrung im Tresor erhalten. Das Notenblatt weist lediglich an den porösen Rändern Spuren der starken Brandhitze auf.

Obwohl ein Datum ebenso fehlt wie ein Namenszug, ist aus Stilgründen spätestens 1846 als Jahr der Entstehung anzunehmen; denn im Jahr darauf fand Bruckner mit Vorspiel und Fuge in c‑Moll zu einem wesentlich weiter entwickelten Stil. Lt. Max Auer ist die „wie ein schulmäßig ausgeführter Kontinuo“ (Göll.-A. 3/1, S. 535) anmutende Generalbass-Manier des Andante 1847 stilistisch nicht mehr denkbar. Dem zuwider schließt er aus der Widmung für Traumihler, das Andante (von Auer als „Vorspiel“ tituliert) und Nachspiel dürften „kurz nach dessen Amtsantritt 1852 geschrieben worden sein“ (Göll.-A. 3/1, S. 536). Allerdings werden von Auer im chronologischen Werkverzeichnis in Göll.-A. 4/4 unter Nr. 16 „Zwei Orgelstücke, d‑Moll (um 1846)“ (S. 226) ausgewiesen. Neuere Forschungen (Aschauer) verlegen die Annahme einer Niederschrift sogar auf 1843, als Bruckner in Enns bei Leopold von Zenetti Unterricht nahm. Lerngegenstände waren ohne Zweifel das Generalbassspiel (Generalbass) und kontrapunktische Übungen unter Verwendung gängiger Vorlagen. Zudem weist die Widmung auf die Datierung der Übertragung des Amts des Chorregenten auf Traumihler, die wohl nach neuen Untersuchungen vor der regulären im Jahre 1852 schon einmal vorübergehend 1842/43 stattgefunden hatte.

Auf den kompositorischen Zusammenhang von Andante und Nachspiel deuten die Verwendung gleichen Materials wie auch die harmonische Fusion von Andante-Schluss und Nachspiel-Introduktion. So werden die Takte 75–77 des Nachspiels in den letzten drei Takten der Schlusskadenz des Andante fast notengetreu vorweggenommen. Über den Dominantseptakkord auf a und die Molltonika d, deren Grundton im nächsten Takt als Quartvorhalt in die große Terz der Dominante a aufgelöst wird, gelangt die Entwicklung zur Tonika-Variante D‑Dur. Diese harmonische Folge der Kadenzbildung, der stufenweise Oberstimmenabstieg (nur in dem über das d gelagerten fis des Vorspielschlusses variierend), die Vorhaltsbildung, der kurze Orgelpunkt auf a und der von a zum d herabführende Quintsprung im Bassbereich gehören beiden Werken an.

Das Nachspiel ist zweiteilig angelegt, bestehend aus Introduktion (T. 1–12, Großkadenz aus neun taktweise gesetzten Harmonien der Stufenfolge I–VI–II–V, übermäßiger Terzquartakkord T. 10) und fugiertem Hauptteil (T. 13–82). Wie auch schon bei den ersten kompositorischen Gehversuchen der frühen Präludien für Orgel in Es‑Dur (WAB 127/1‑3 und 128/1‑4) zwischen 1835 und 1837 scheint nicht alles auf selbständiger Eingabe Bruckners zu beruhen, wie der Vergleich mit einigen barocken Vorlagen offenbart. Demnach ist Bruckners Introduktion (mit ganztaktigen Akkorden, Vorschlägen und einfachen Überbindungen) vorgebildet in Joseph Drechslers Fortschreitende Generalbassübungen mit Zifferbezeichnung nebst einer Anleitung sammt Beispielen zum richtigen Praeludiren (Wien 1824/25). Für die Fugen-Exposition übernahm Bruckner leicht variiert 16 Takte der 3. Versette im 1. Kirchenton aus Gottlieb Muffats (1690–1770) 72 Versetl sammt 12 Toccaten besonders zum Kirchen-Dienst bey Choral-Aemtern und Vespern dienlich (Wien 1726). Nach der vorgegebenen Exposition führt Bruckner den weiteren Verlauf mit abschließender Kadenz eigenständig durch (T. 32–82). Wie in der Muffat-Vorlage setzt auch Bruckner in kontrapunktischen Phasen nur drei Stimmen ein, kadenzierende Abschnitte sind vier- bis sechsstimmig. Weitere thematische Durchführungen, separiert durch ein längeres Zwischenspiel (T. 38–56), leiten schließlich nach Verarbeitung abgespaltener Themenbestandteile, einem Dominant-Orgelpunkt und dem Kadenz-Zitat aus dem Andante zum homophonen Schlusshöhepunkt mit der zur Durvariante gewandelten Einleitungskadenz.

Die übergreifenden strukturellen Zusammenhänge und die Erprobung neuer, aber noch sparsam eingesetzter kontrapunktischer sowie motivisch-thematischer Verarbeitungsmittel in Andante und Nachspiel deuten auf die wachsende Gestaltungskapazität bei Bruckner. Zudem finden sich in dieser „Kontrapunktstudie“ zumindest tendenziell Bruckner‘sche „Eigennoten“ mit der impulsiven Synkopierung des Kopfmotivs und der durch chromatische Leittonbildungen bewirkten Zielstrebigkeit des Schlussteils.

Literatur

RAINER BOSS, ERWIN HORN

Zuletzt inhaltlich bearbeitet: 12.5.2017

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Erstdruck

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ACDH-CH, Abteilung Musikwissenschaft