Autografe – Bruckners Handschrift
Die Handschrift eines Komponisten – ob im Schriftzug oder im Notenbild – ist bzw. wird oft erst im Laufe der Jahre ein persönliches Erkennungszeichen und interessiert neben Musikwissenschaftlern auch Schriftpsychologen. Die eigenhändig erstellten Kompositionsmanuskripte, seine Notenautografe, sind das Erbe, das er zumeist mit Absicht (z. B. als zu verwendende Vorlage für den Druck) und mit gewissen Auflagen der Nachwelt zur Forschung hinterlässt. Bruckner hat ähnlich gehandelt (s. auch Testament).
Bruckners Notenschrift ist, fast ebenso wie seine Schreibschrift, im Grunde – speziell in der Frühzeit – weit mehr die typische saubere „Lehrerhandschrift“ als der persönliche Ausdruck eines Genies. Nur in den wenigsten Fällen verlässt sie die „Norm“. Als Charakteristika zur Identifikation nützlich sind Details wie der nach rechts offene Violinschlüssel (Abbildung 1) – den Bruckner schon in seinem ersten erhaltenen Notenmanuskript, der Abschrift von Michael Haydns Deutscher Messe, allerdings noch parallel zur traditionellen Form, verwendet –, die links offenen Auflösungszeichen (Abbildung 2) oder die Achtel- und Viertelpausen (Abbildung 3). Ein genauer Katalog der Charakteristika (wie er z. B. schon für Bruckners Lehrer Simon Sechter vorliegt) steht allerdings noch aus.
Bruckners Schreibschrift ist – wohl maßgeblich verursacht durch den Unterricht an der Präparandie in Linz – nach 1841 voll ausgeprägt. Zeigen die Schulhefte des Knaben aus der Zeit in St. Florian noch eine etwas gekünstelte, unfreie Schrift mit fallweisen Druckverstärkungen (Haar- und Schattenstrich, Abbildung 4, so ist die Schrift des jungen Lehrers plötzlich zügig, leicht nach rechts geneigt, ansonsten kaum durch ein besonderes Charakteristikum das Zeitübliche durchbrechend, sieht man von den zarten, stets weit auslaufenden Schlussstrichen ab. In offiziellen Schriftstücken behält Bruckner diesen Schrifttypus bis ins hohe Alter bei, wenn auch die Hand zittriger wird (Abbildung 5): Der Gesamteindruck ist flüssig und ästhetisch. Der Haupttext ist in Kurrentschrift geschrieben, für Bruckner wichtige Worte wie etwa Werke, Namen etc. sind in zeitüblicher Weise in Lateinschrift und/oder unterstrichen. In privaten Notizen (Taschen-Notizkalender) und weniger offiziellen Schreiben ist der Duktus unruhiger und unausgeglichener (Abbildung 6).
Zum Autografen-Bestand
Die meisten Werke Bruckners sind als Autograf überliefert, viele aufgrund unterschiedlicher Fassungen auch mehrfach. Zu den Autografen zählen weiters Entwürfe und Skizzen (Arbeitsweise), Abschriften fremder Werke, Kompositionsübungen (Kitzler-Studienbuch etc.), Briefe und persönliche Eintragungen (z. B. in den Taschen-Notizkalendern). Nur etwa ein Zehntel des Gesamtschaffens ist derzeit nicht autograf bekannt; einzelne Kompositionen müssen als verschollen gelten (Verschollenes).
Aufgrund eines Legats im Testament vermachte der Komponist der Hofbibliothek (Österreichische Nationalbibliothek) 16 bedeutende Handschriften. Damit wurde der Grundstein für die größte Bruckner-Sammlung der Welt gelegt. Der restliche Nachlass Bruckners wurde mit Einwilligung der Erben an verschiedenste Personen und Institutionen verteilt. Dieser Umstand hat zu einer weiten Streuung geführt. Standorte einzelner Werke befinden sich (außerhalb Österreichs) in Belgien, Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Polen, Tschechien, Kanada (Nordamerika), der Schweiz und der Slowakei, den Niederlanden und den USA.
Österreichische Standorte mit größeren Bruckner-Beständen sind die Musiksammlung der Wienbibliothek und das Archiv der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien, in Oberösterreich die Stiftsarchive von St. Florian und Kremsmünster sowie das Stadtarchiv Wels, das OÖ. Landesmuseum und das Archiv der Stadt Linz. Von musikalischen Vereinen sind der Wiener Männergesang-Verein, die Universitätssängerschaft „Barden zu Wien“ sowie das Archiv der Liedertafel „Frohsinn“ zu nennen. Einzelne Autografe befinden sich in Privatbesitz.
Seit 2015 besteht mit bruckner-online eine vom Institut für kunst- und musikhistorische Forschungen (seit 2020 Austrian Centre for Digital Humanities and Cultural Heritage; ACDH-CH) der Österreichischen Akademie der Wissenschaften erstellte Datenbank, die u. a. sämtliche Autografe und Abschriften Bruckners enthalten soll.
Literatur
- Walter Robert Muckenschnabel, Schweigende Zeugen im Schriftbild Anton Bruckners, in: Bruckner‑Symposion 1977Franz Grasberger (Hg.), Bruckner-Symposion im Rahmen des Internationalen Brucknerfestes Linz 1977. 22.–23. September 1977. Bericht. Linz 1978, S. 43–63 [zum Teil fehlerhafte Deutungen des Materials]
- Agnes Ziffer, Kleinmeister zur Zeit der Wiener Klassik. Versuch einer übersichtlichen Darstellung sogenannter „Kleinmeister“ im Umkreis von Haydn, Mozart, Beethoven und Schubert sowie Studien zur Quellensicherung ihrer Werke (Publikation des Instituts für Österreichische Musikdokumentation 10). Tutzing 1984 [u. a. Handschrift-Analysen von Johann Georg Albrechtsberger und Simon Sechter]
- Verborgene PersönlichkeitElisabeth Maier, Verborgene Persönlichkeit. Anton Bruckner in seinen privaten Aufzeichnungen (Anton Bruckner. Dokumente und Studien 11). 2 Bde. Wien 2001
- Thomas Röder, Blick in die Werkstatt: Bruckners Arbeitsweise, in: Bruckner-Handbuch 2010Hans-Joachim Hinrichsen (Hg.), Bruckner-Handbuch. Stuttgart–Weimar 2010, S. 73–88