Tonartencharakteristik

Seit der Antike werden den verschiedenen Tonarten verschiedene Charaktere und damit auch unterschiedliche und ganz spezielle Wirkungen auf die Zuhörer zugeschrieben. Während sich einige Elemente durchaus objektivieren lassen (so z. B. die Dur-Terz als „hell“, „heiter“, die Moll-Terz als „dunkel“, „matt“), so ist vieles an dem im Laufe der Jahrhunderte entwickelten Definitionskatalog von Faktoren abhängig, die nicht unmittelbar aus den Tonarten selbst resultieren (so definierte man z. B. D‑Dur nach den D‑Trompeten als „festlich, kriegerisch“; „Ombra“-Szenen wurden nach der venezianischen Operntradition zumeist in Es‑Dur komponiert usw.). Bei einigen Komponisten sind manche Tonarten mit eindeutigen Ausdrucksqualitäten „besetzt“. Diese Charakteristika sind nicht vom jeweiligen Normalstimmton abhängig, was ihre Verwendung und Deutung primär als durch Traditionen motiviert erscheinen lässt. Ein objektives System der Tonartencharakteristik konnte bis jetzt noch nicht erstellt werden.

Bruckner reiht sich in seiner Bevorzugung bestimmter Tonarten ganz in die Tradition ein. So berichtet Max von Oberleithner folgenden Ausspruch Bruckners aus dem Jahr 1889 (Göll.-A. 4/2, S. 691): „Fis‑moll is‘ sehnsüchtig, f‑moll schwermütig, d‑moll feierlich, mysteriös, a‑moll sanft, e‑moll lyrisch, D‑moll g‘fallt mir so guat, daß i‘ die letzte Sinfonie in der Tonart schreib‘. Wann a der Beethoven dö Neunte in d‑moll hat; er wird nix dageg‘n sag‘n!“

Notenbeispiel 1: Herbstkummer

Nach verschiedenen anderen übereinstimmenden Berichten soll Bruckner, verärgert über anzügliche Anspielungen auf Ludwig van Beethovens Neunte erklärt haben, er könne ja nichts dafür, dass ihm das Thema seiner Neunten Symphonie gerade in d‑Moll eingefallen sei. Dies könnte einen Beleg dafür darstellen, dass auch Bruckner spezifische Ausdrucksqualitäten seiner Themen als mit solchen bestimmter Tonarten gekoppelt empfand.

Es ist häufig zu beobachten, dass in Bruckners Kirchenwerken ähnliche textliche Gedankenverbindungen in derselben Tonart stehen, ja manchmal sogar dieselbe harmonische Abfolge aufweisen. So ist die dreimalige Anrufung des Namens „Jesus“ im Ave Maria (WAB 6) als von den Bässen her aufsteigende Dreiklangsschichtung in strahlendem A‑Dur komponiert; drei Jahre später verwendet Bruckner notengetreu dieselbe Abfolge für die ebenfalls auf Jesus Christus bezogene Textstelle im Credo (Messen) „et resurrexit“ in der Messe in d‑Moll.

Auch setzt Bruckner subtil die Tonartencharakteristik für die Schaffung einer theologischen Tiefenschicht in den Kirchenwerken ein: So bewegt sich die Komposition im Credo der Messe in f‑Moll bei der Schilderung der „Ombra“‑ (Schattenreichs‑, Unterwelts‑) Szene bis zum „et sepultus est“ traditionsgemäß in der Tonart Es‑Dur (Notenbeispiel 2), dann blendet Bruckner nach einer Generalpause (dem Ruhen Jesu im Grab) gleichsam das Licht auf; er rückt um einen Halbtonschritt hinauf in ein strahlendes E‑Dur (Notenbeispiel 3), in eine andere „Existenzform“.

Notenbeispiel 2: Messe in f‑Moll, Credo, SATB+B-Solo: T. 181-186

Notenbeispiel 3: Messe in f‑Moll, Credo, SATB: T. 199-202

Ein bisher unbekannter Beleg über Bruckners Tonartenwahl findet sich in den erst seit kurzem bekannt gewordenen, zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch unveröffentlichten Vorlesungsmitschriften August Göllerichs aus den Unterrichtsstunden bei Bruckner an der Universität Wien. In der Stunde vom 18.5.1885 heißt es da: „,F moll druckt [sic] am meisten!‘ Amoll Unschuld. D moll Unantastbares Mysterium. Emoll lyrisch. Fismoll Melancholisch. ,Ach wie so bald‘ eines der schönsten Lieder die ich kenne v. Mendelssohn. D Moll = Bruckner‘s Liebling“ (ÖNB‑MS, F28.Goellerich.492).

Literatur

ELISABETH MAIER

Zuletzt inhaltlich bearbeitet: 12.12.2017

Medien

Kategorien

Links

ACDH-CH, Abteilung Musikwissenschaft