Beethoven, Ludwig van

get. 17.12.1770 Bonn, Nordrhein-Westfalen/D, † 26.3.1827 Wien/A. Komponist.

In der Gattungsgeschichte der Symphonie galt Beethoven schon seinen Zeitgenossen und erst recht den späteren Generationen des 19. Jahrhunderts als ein nahezu unüberbietbares Modell. Nur in wenigen Kontexten wie in der entstehenden nationalen Musikkultur Russlands oder im Frankreich des letzten Jahrhundertviertels gab es kritische Absetzbewegungen von diesem Inbegriff eines „deutsch-österreichischen“ Gattungsideals – was allerdings ex negativo seine Bedeutung nur noch einmal unterstreicht. Für einen Komponisten, der wie Bruckner in seinen späten Jahren „ja doch nur ausschließlich Symphoniker“ (Briefe II, 920708) sein wollte, musste Beethoven also fast zwangsläufig einen zentralen Bezugspunkt darstellen. Bruckner war stolz darauf, dass von vielen Zeitgenossen (etwa von Felix Mottl oder Hermann Levi) seine Ebenbürtigkeit mit Beethoven behauptet wurde und dass ihn sogar der verehrte Richard Wagner als den einzigen Symphonie-Komponisten bezeichnet hatte, „dessen Gedanken in der absoluten Musik denen Beethovens an die Seite gesetzt zu werden verdienen“ (Briefe II, 930407). Hingegen wurde ein bewusstes Anknüpfen Bruckners an Beethoven auf dem Gebiet der Kirchenmusik, insbesondere der Messkomposition, eher selten in Erwägung gezogen (als Überblick über die Diskussion vgl. Rezeption der Kirchenmusik). Während sich Bruckner in seinen letzten Lebensjahren also zweifellos sehr selbstbewusst als bedeutendes, wenn nicht sogar als das bedeutendste Glied in der von Beethoven her zu datierenden symphonischen Genealogie des 19. Jahrhunderts sah, muss hingegen kritisch geprüft werden, wie es um seine kompositorische Beethoven-Rezeption im engeren Sinne wirklich bestellt ist. Von dem für ihn und seine gesamte Epoche verbindlichen ideologischen Konstrukt einer Beethoven-Nachfolge dürfen jedenfalls keine voreiligen Rückschlüsse auf sein Verhalten in der Kompositionswerkstatt gezogen werden. Deshalb sind im Folgenden mehrere Aspekte voneinander zu unterscheiden:

Beethoven als Bruckners musikalisches Vorbild und Studienobjekt
Eine intensive Auseinandersetzung mit Instrumentalmusik und daher auch mit den einschlägigen Werken Beethovens ist für Bruckner erst während seiner Studienzeit bei Otto Kitzler anzunehmen. Er wurde dort systematisch in die Formenlehre und in die Instrumentation eingeführt und hatte in diesem Zusammenhang die Orchestrierung an der Exposition der Sonate pathétique op. 13 zu üben ( Instrumentation der Pathétique , Kitzler-Studienbuch, Bearbeitungen). In diese Zeit fällt auch Bruckners erste Begegnung mit Beethovens Neunter Symphonie, die er in Wien wohl am 26.12.1864 oder 24.2.1867 (Briefe I, 641226, 661202) in einer Aufführung der Wiener Philharmoniker unter Felix Otto Dessoff hörte.

Es fällt auf, dass Bruckner seine ersten selbständigen Symphonien genau in den beiden Moll-Tonarten konzipierte, die auch in Beethovens symphonischem Œuvre begegnen (c‑ und d‑Moll), und zwar dreimal hintereinander in derselben Reihenfolge: am Beginn seiner Laufbahn in der Ersten und der „annullierten“ Symphonie in d‑Moll, dann in der Zweiten und Dritten Symphonie, am Ende noch einmal in der Achten und Neunten. Daraus ist wohl durchaus auf die Verbindlichkeit eines aus Beethovens Gesamtwerk abgeleiteten Symphonie-Modells zu schließen. In den jeweils ersten Fassungen der Zweiten und der Dritten Symphonie zeigt sich Bruckner zudem von der Idee fasziniert, im Finale wie in Beethovens Neunter einen Rückblick auf die Themen der vorangegangenen Sätze zu bieten (allerdings an ganz anderer formaler Stelle und somit in gänzlich veränderter dramaturgischer Funktion). Bekannt ist auch, dass Bruckner in seinem Taschen-Notizkalender von 1876 metrische Studien an Beethovens Dritter und Neunter Symphonie vorgenommen hat, denen er gleichartige Studien (und Korrekturen) an seinen bis dahin komponierten eigenen Symphonien folgen ließ; es ging dabei um den Umgang mit unregelmäßiger Syntax und vor allem um die Schlussbildungen (vgl. weiterführende Arbeiten von Leopold Nowak, Rudolf Stephan, Wolfgang Grandjean).

Bruckners Bemühen um unverwechselbare symphonische Eigenständigkeit
Der Vorbildfunktion Beethovens stehen im Detail kompositorische Entscheidungen gegenüber, die bei näherer Betrachtung das Bemühen um eine dezidierte Eigenständigkeit markieren. Während Bruckner von Beethovens Modell anfangs die Tonarten, den viersätzigen Zuschnitt, das Konzept symphonischer Monumentalität und die prozessorientierte Finalgestaltung (vgl. Lederer) übernimmt, sind manche scheinbaren Ähnlichkeiten nur noch äußerlich und verbergen eine fundamentale ästhetische und technische Differenz. Das ist exemplarisch zu verdeutlichen an den Anfängen aller drei d‑Moll-Symphonien, die man immer wieder als Nachahmungen des Beginns von Beethovens Neunter interpretierte. In Wirklichkeit probierte Bruckner in allen dreien, bei äußerlicher Ähnlichkeit, etwas sehr Eigenes aus, dem man in seiner Entwicklung die drei Stufen des Experimentierens, der Konsolidierung und der Neuorientierung zuordnen kann: in der Symphonie in d‑Moll („Annullierte“) ein Hauptthema von geradezu riskanter Gestaltarmut (wohl mit ein Grund für ihre spätere Verwerfung); in der Dritten die Exposition eines Themas (in der Trompete), das gerade nicht wie bei Beethoven die allmähliche Annäherung an das dann erst ausbrechende Hauptthema, sondern bereits die den gesamten Prozess bestimmende Hauptsache ist; und in der Neunten einen Beginn, der anders als in Beethovens Modell von Anfang an die Tonika fixiert, um sie dann um so spektakulärer durch harmonische Zentrifugalkräfte zu destabilisieren. Fixierung und Destabilisierung dringen danach als vorher bereits eingeführte Gestaltungselemente in das für Bruckners Verhältnisse ungewöhnlich spät eintretende Hauptthema der Neunten ein und bestimmen von da an den gesamten Satzprozess. Die Analogie zum ebenfalls spät eintretenden, aber von der Dominante aus sorgfältig vorbereiteten Hauptthema bei Beethoven ist also bloß äußerlich und folgt einer gänzlich anderen Dramaturgie. In allen drei Fällen gilt vor allem, wie für Bruckners reife Symphonien generell, dass die von Beethoven auf einen Höhepunkt hin entwickelte Technik der motivisch-thematischen Arbeit hier nicht sinnfällig für die Kohärenzbildung zuständig ist. Diese erfolgt vielmehr durch assoziative Verkettungen und sprunghaft erfolgende Mutationen von Motiven in einer Tiefenschicht des Werks (Korte, S. 26–32), während der eigentliche symphonische Prozess durch die Stationen einer gesteigerten Wiederkehr des symphonischen Hauptthemas organisiert wird (Zyklus).

Insgesamt befinden sich also die von Beethoven übernommenen Anregungen, die eher die großformale Struktur betreffen, in einem ausbalancierten Verhältnis zur Entwicklung eines sehr eigenen Weges auf der Ebene der detaillierten Tonsatzorganisation, wobei man für die letztere wohl auch das von Bruckner aufmerksam beobachtete Alternativmodell in Rechnung stellen darf, das ihm (wie auch anderen Komponisten nach Beethoven) die Symphonik Franz Schuberts bot.

Beethoven und Bruckner in der Sicht der Mit- und Nachwelt
In der enthusiastischen Bruckner-Rezeption im Wagner-Umkreis hat die von Bruckner selbst als schmeichelhaft empfundene Behauptung einer Kontinuitätslinie Beethoven-Bruckner die Diskussion bestimmt, während diese von Kritikern um Johannes Brahms vehement bestritten wurde. Während die Wagnerianer, und zwar implizit gegen die geschichtsphilosophische These Wagners von der Überlebtheit der Gattung Symphonie, mit Bruckner einen modernen Symphoniker gegen Brahms in Stellung bringen konnten, stellte genau dies für Kritiker wie Eduard Hanslick oder Max Kalbeck eine Provokation dar. Beide Positionen bei der Beurteilung von Bruckners Beethoven-Bezug konnten aus den oben dargelegten Gründen gute Argumente vorweisen, und der Ertrag dieser Diskussion dürfte aus heutiger Perspektive in der Anerkennung einer insgesamt höchst ambivalenten, vor allem aber hartnäckig um ästhetische Eigenständigkeit bemühten Beethoven-Rezeption Bruckners liegen. In der Typologie der in der Literaturwissenschaft fruchtbar gemachten Theorie der „anxiety of influence“ („Einflussangst“) wäre der an Beethoven sich abarbeitende Symphoniker Bruckner als ein „starker“, weil sich vom verehrten Vorbild erfolgreich emanzipierender Autor, einzustufen.

Werke
  • Oper Fidelio
  • Oratorium Christus am Ölberge
  • Bühnen- und Ballettmusik
  • 9 Symphonien
  • 2 Messen
  • Kammermusik
  • Klavierwerke
  • Kantaten
  • Lieder
Literatur

HANS-JOACHIM HINRICHSEN

Zuletzt inhaltlich bearbeitet: 8.4.2019

Medien

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Abbildungen

Abbildung 1: Beethovens Totenmaske, in: Neue Zeitschrift für Musik 94 (1927) H. 3, S. 144/1

Abbildung 2: Beethoven-Denkmal, in: Österreichische Kunst-Chronik 4 (1880) H. 1, S. 9

Abbildung 3: 3. Seite des Beethoven-Briefes an die Philharmonische Gesellschaft in Laibach, in: Neue Zeitschrift für Musik 55 (1888) H. 34, S. 368

Normdaten (GND)

Beethoven, Ludwig van: 118508288

Links

ACDH-CH, Abteilung Musikwissenschaft