Messe in d‑Moll (WAB 26)

Soli, vierstimmiger gemischter Chor, Orchester (2 Fl., 2 Ob., 2 Klar., 2 Fg., 2 Hr., 2 Trp., 3 Pos., Pk., Str.) und Orgel

Sätze: Kyrie: „Allabreve“; Gloria: „Allegro“; Credo: „Moderato“; Sanctus: „Maestoso“; Benedictus: „Moderato“; Agnus Dei: „Andante quasi Allegretto“
EZ: Ende Mai 1864 bis 29.9.1864; Redaktion im Sommer 1876; geringfügige Änderungen im Winter 1881/82
UA: 20.11.1864 in Linz, Alter Dom (Bruckner)
Aut.: ÖNB‑MS (Mus.Hs.19483)
ED: Gross/Reiss, Innsbruck 1892
NGA: Band XVI (Leopold Nowak, 1957) und Revisionsbericht (Rüdiger Bornhöft, 1999)

Entstehungs- und frühe Aufführungsgeschichte

Nach Abschluss seiner Studien bei Otto Kitzler und durch das Erlebnis der musikalischen Moderne, die ihm auch Ignaz Dorn vermittelte, insbesondere aber durch die Werke Richard Wagners, fühlte sich Bruckner nach eigenen Angaben wie „ein Kettenhund, der sich von seiner Kette losgerissen hat“ (Göll.-A. 3/1, S. 144); für ihn begann nun die „Kompositionszeit“ (Göll.-A. 3/1, S. 203). In rascher Folge entstanden große Werke: Nimmt der am Ende der Studienzeit bei Kitzler entstandene Psalm 112 stilistisch noch eine Übergangsstellung ein, so schlägt Bruckner im Germanenzug (der ihn bis zum Herbst 1863 beschäftigte) und v. a. in der Messe in d‑Moll erstmals eine ganz persönliche Musiksprache an. Zwar zeigt besonders die Messe deutlich, wie sehr er in der Tradition der großen Orchestermessen Ludwig van Beethovens und Franz Schuberts wurzelt (Einflüsse und Vorbilder), aber es ist andererseits gerade dieses Werk, in dem schon keimhaft seine Entwicklung in die Zukunft, hin zum Symphoniker, angelegt ist.

Am 4.6.1864 berichtete die Linzer Zeitung über des Domorganisten Bruckner Arbeit an „einer Messe, welche noch im Laufe dieses Sommers in Ischl zur Aufführung gelangen soll“ (S. 519). Obwohl Bruckner das Werk in der erstaunlich kurzen Zeit von vier Monaten vollenden konnte, war es zu spät für die am Geburtstag Franz Josephs I. (18.8.) geplante Aufführung. Bei der Uraufführung im Linzer Dom zum Cäcilienfest am 20.11.1864 erntete das Werk dann einen großen Erfolg.

In einer pädagogisch beispielhaften Serie von fünf (anonym veröffentlichten) Artikeln in der Linzer Zeitung zeigte Franz Gamon (nicht wie früher vielfach angenommen Moritz Edler von Mayfeld) die Stellung auf, die Bruckners Werk innerhalb der Geschichte der Kirchenmusik einnahm: „Die Bewegung und Aufregung, die Herrn Bruckners Erstlingswerk, die Messe in D, in der musikalischen Welt hervorrief, rechtfertigen wohl hinlänglich, daß wir uns in eine ausführlichere Besprechung derselben einlassen“ (30.11.1864, S. 1141). Interessant hierbei ist die durchaus kritische Haltung Gamons gegenüber R. Wagner, der ihm, was die orchesterbegleitete Kirchenmusik betrifft, eine zu puristische Haltung einnahm. Den letzten Artikel der Serie begann Gamon mit der lapidaren Feststellung: „Herr Bruckner hat nicht nur mit großer Meisterschaft die höchsten Aufgaben der Tonkunst gelöst, sondern auch, und zwar namentlich seine Begabung für den höheren Styl, die Symfonie bewiesen.“ (29.12.1864, S. 1235), womit er Bruckner ein besonderes Kompositionstalent zuerkannte.

In seiner Kritik der Messe in d‑Moll selbst zeigte Gamon persönliche Vorlieben („Das Credo [...] steigert sich im judicare [...] zur überwältigenden Kraft. Es ist dies die hervorragendste Stelle der Messe“), regte zu Korrekturen an („Von schöner musikalischer Wirkung ist auch das et resurrexit, wofür wir jedoch eine andere Auffassung gewünscht hätten. [...] glauben wir doch nicht Unrecht zu thun, wenn wir sagen, daß es den Eindruck macht, als ob jemand mühsam sich erheben würde.“) und berichtete abschließend über die Widmung eines von Mayfeld stammenden Lorbeerkranzes mit einem Huldigungsgedicht, dessen erste und letzte Zeile auf die Kranzschleife eingestickt waren. Gamon schloß mit dem Wunsch: „Möge Herr Bruckner hierdurch zu fernerem Streben angeeifert werden!“ (Linzer Zeitung 29.12.1864, S. 1235). In der Tat war die Aufführung für Bruckner ein großer Erfolg, so groß, dass die Messe als Concert spirituel am 18.12.1864 im Linzer Redoutensaal wiederholt wurde.

Bruckner schrieb am 26.12.1864 seinem Freund Rudolf Weinwurm nach Wien: „Meine Messe wurde am 20. Nov. im Dom u am 18. Dez. als Concert spirituel im Redoutensaal aufgeführt durch Veranstaltung mehrerer Musikfreunde. Daß letzteres so außerordentlich besucht, ja überfüllt war sei Dir als Beweis, wie in der Kirche angesprochen hat, was mich um so mehr wundert, da die Composition sehr ernst u sehr frei gehalten ist.“ (Briefe I, 641226).

In Wien gelangte die Messe erstmals am 10.2.1867 in der Hofburgkapelle unter Johann Herbeck an die musikalische Öffentlichkeit und hatte so großen Erfolg, dass Bruckner (ob durch Herbeck selbst, ist bisher nicht nachzuweisen) den Auftrag zur Messe in f‑Moll erhielt. Im Salzburger Dom erfolgte die erste Aufführung am 11.9.1870 in Anwesenheit Bruckners.

1876 nahm Bruckner an der Messe in d‑Moll (wie im gleichen Jahr auch an der Messe in e‑Moll und der Messe in f‑Moll) im Zuge einer rhythmischen Ordnung hinsichtlich des Periodenbaus (Metrik, metrische Ziffern) geringfügige Änderungen vor; 1881/82 besserte er vornehmlich im Credo noch einzelne Noten aus. Sowohl im Erstdruck als auch in der NGA wird der Notentext im Überarbeitungsstand von 1882 wiedergegeben.

Vermutlich anlässlich einer der Revisionen vermerkte Bruckner im Autograf wenige Takte vor dem Ende des Gloria (ÖNB‑MS, Mus.Hs.19483, fol. 29r): „Für die kk. Hofkapelle bleiben in diesen fünf Tacten für Trompeten 5 und für die Pauken nur vier Pausen“. Zusätzlich zu dieser auch im Erstdruck aufgenommenen Anmerkung strich Bruckner T. 196–200 der Trompetenstimme sowie T. 197–200 der Paukenstimme. Aufgrund des Auftaktes der Trompeten (T. 196) entsteht die unterschiedliche Pausenzählung. Beide Varianten sind in der NGA notiert.

Das Werk

„Sehr ernst u[nd] sehr frei“ (Briefe I, 641226): Das charakterisiert in Bruckners eigenen Worten die Musiksprache seiner Messe, in der Tradition und Moderne eine glückliche Verbindung eingehen, in der historische Elemente (z. B. plagaler Themenduktus und Seufzervorhalte sowie Chromatik im „Kyrie“; das „Christe“ als Umkehrung des Themas, gleichsam „von oben“ herniedersteigend, umspielt von Streicherfiguren; das zweite „Kyrie“ in seiner Dringlichkeit gesteigert durch erweiterten Ambitus) neben moderner Expressivität stehen. Mit „der an Bruckners Entwicklung immer wieder frappierenden Plötzlichkeit ist hier […] der Weg zur sinfonischen Messe im Gewande eines ausgesprochen eigenwilligen musikalischen Tonfalls gefunden. Formgebung, Harmonik, Gesangs- und Instrumentalstil werden souverän beherrscht und der Gestaltungsabsicht dienstbar gemacht. Das etwas schülerhafte Übermaß stilistischer Ansätze ist zugunsten einer charakteristischen Erscheinung reduziert.“ (Wald-Fuhrmann, S. 250).

Ganz individuell gestaltet ist das Credo: Während der Chor lange Strecken in machtvollem Unisono geführt wird und der Hauptakzent auf der deutlichen Rezitation des Textes liegt, spielt das Orchester einen völlig eigenständigen, symphonischen Satz. Erst im „Et incarnatus est“ tritt das Orchester wieder in seine begleitende Rolle zurück, während die Gesangssolisten in durchsichtiger Polyphonie geführt werden. Das für Gamon etwas zu mühsam sich erhebende „Et resurrexit“ (das auch manchen Autoren etwas ungewöhnlich anmutet, vgl. Gruber) ist eine bildhafte Ausdeutung von Auferstehung und Himmelfahrt: Allmählich wird ausgehend von einem Paukenwirbel und bordunartigen Bass ein sich über ca. 30 Takte hinweg zunehmend erweiternder „vibrierender Orchesterklang“ (Wald-Fuhrmann, S. 257) aufgebaut. Auch in weiteren Abschnitten des Werks sind (im besten Sinn) „theatralische“ Elemente greifbar, die auf Bruckners Prägung durch den versierten Theaterpraktiker Kitzler zurückzuführen sind.

Von stärkster Wirkung ist der Beginn des Sanctus: Das im p ansetzende crescendo des Chorunisono erreicht erst beim Wort „Dominus“, das noch dazu als Oktavabsturz komponiert ist, ein ff. Intensive theologische Reflexion dürfte die manchmal erstaunliche Textbehandlung verursacht haben. So ist in der Phrase „gloria tua“ nicht etwa „gloria“ hervorgehoben, sondern „tua“ – mit einem sich über vier Takte erstreckenden Halteton des Soprans.

Das Benedictus verströmt, besonders in seinem 17‑taktigen Orchestervorspiel, pastorale Stimmung; instrumental empfunden ist auch der Mittelteil des Satzes, in dem der Chor dem ausdrucksvoll geführten Cello antwortet (Buchstabe B).

Das Agnus Dei hat durch die straffe thematische Verknüpfung mit anderen Sätzen (Kyrie, Gloria) starke summierende Finalwirkung. Ein hohes Maß gedanklicher Reflexion verrät der Rückgriff auf die Musik des „Et vitam venturi saeculi“ aus dem Credo zur letzten Agnus Dei-Bitte, der Bitte um Frieden, womit Bruckner den Frieden im kommenden Zeitalter evoziert.

Notenbeispiel 1: Messe in d‑Moll, Credo, A, T. 280-287

Notenbeispiel 2: Messe in d‑Moll, Agnus Dei, A, T. 80-86

Literatur

ELISABETH MAIER

Zuletzt inhaltlich bearbeitet: 12.11.2018

Medien

Kategorien

Digitalisate

Quellen (Werkverzeichnis)

Erstdruck

Links

ACDH-CH, Abteilung Musikwissenschaft