Ave Maria (WAB 5–7) „Ave Maria, gratia plena“

Bruckner vertonte diesen Text insgesamt dreimal. Er besteht in seinem 1. Teil aus dem Gruß des Engels an Maria (Lk 1,28) und dem der Elisabeth (Lk 1,42). Der 2. Teil besteht aus einer später angefügten und seit Pius V. offiziell in das Breviarium Romanum (1568) aufgenommenen Bitte um die Fürsprache Mariens („Heilige Maria, Mutter Gottes, bitte für uns Sünder, jetzt und in der Stunde unseres Todes“).

Bruckners drei auch von der Besetzung her höchst unterschiedliche Kompositionen sind durch Gemeinsamkeiten verbunden: Sie stehen alle drei in F‑Dur (einer „weichen“ Tonart), der Name „Jesus“ ist jeweils durch eine dreimalige Anrufung besonders hervorgehoben, und alle drei Kompositionen haben biografische Bezüge.

Ave Maria (WAB 5)

Vierstimmiger gemischter Chor mit S- und A-Solo, Vc. und Orgel in F‑Dur, „Andante“

EZ: 24.7.1856 in Linz
UA: 7.10.1856 (Rosenkranzfest) in St. Florian
W: Ignaz Traumihler („[…] Sr Hochwürden dem Wolgebornen Hochverehrten Herrn Herrn Ig. Traumihler Musik-Director zum hohen Namensfeste Ehrfurchtsvoll gewidmet […]“)
Aut.: Stift St. Florian, Bruckner‑Archiv (19/10c)
ED: Gross (Reiss), Innsbruck 1893
NGA: Band XXI (Hans Bauernfeind/Leopold Nowak, 1984) und Revisionsbericht (1984)

Diese Vertonung schuf Bruckner als Linzer Dom- und Stadtpfarrorganist für seine frühere Wirkungsstätte St. Florian. Der Satz der 52 Takte umfassenden Komposition weist fast durchgehend eine feinstrukturierte rhythmische Gliederung in kleinen Notenwerten auf und ist in seinem 1. Teil (T. 1–17) vom Wechsel zwischen Chor und Soli, von einer ansatzweise kontrapunktischen Schreibweise und einem kleinen Solo für Alt und Sopran zu den Grußworten des Engels bzw. der Elisabeth („gratia plena“ bis „fructus ventris tui“) gekennzeichnet. Die mehrfach herausgehobene Nennung des Namens „Jesus“ in T. 18–22 (Tempoänderung zu „Adagio“, a cappella-Satz, dreimalige Wiederholung der Anrufung) bildet eine deutliche Zäsur, nach der die Strukturcharakteristika des 1. Teiles wieder aufgegriffen werden.

Ave Maria (WAB 6)

Offertorium für siebenstimmigen gemischten Chor (S, 2 A, 2 T, 2 B) a cappella in F‑Dur, „Andante (Sehr langsam)“

EZ: vor dem 12.5.1861 in Linz
UA: 12.5.1861 in Linz, Alter Dom (Liedertafel „Frohsinn“; Bruckner)
Aut.: verschollen; Stift St. Florian, Bruckner‑Archiv (19/10a und 19/10b, Partitur-As. und Stimmen von Franz Schimatschek)
ED: 2 Kirchen-Chöre. Wetzler (Julius Engelmann), Wien 1887 (zusammen mit „Tota pulchra es, Maria“)
NGA: Band XXI (Hans Bauernfeind/Leopold Nowak, 1984) und Revisionsbericht (1984)

Am 26.3.1861 schloss Bruckner seine Studien bei Simon Sechter ab. Während dieser Zeit der Ausbildung hatte das Schöpferische weitgehend geschwiegen, das Ave Maria (WAB 6) ist das verblüffende Erstlingswerk des reifen Bruckner, von außerordentlicher Dichte der Wirkung bei gleichzeitig sparsamstem Einsatz der Mittel. Die als Offertorium zu einer Vokalmesse von Antonio Lotti (1667–1740) komponierte Motette wurde unter der Leitung Bruckners von der Liedertafel „Frohsinn“ anlässlich ihres Gründungsfestes uraufgeführt und erntete uneingeschränkte Zustimmung seitens der Kritik: „Das Offertorium, ,Ave Maria‘ 7stimmig componirt von Herrn Bruckner, ist ein religiös empfundenes, streng contrapunktisch durchgeführtes Werk, welches auf die Anwesenden mächtig wirkte. Prachtvoll klingt die Repetition ,Jesus‘ im feierlichen A dur Accord.“ (Linzer Zeitung 15.5.1861, S. 454).

So sehr dem Rezensenten in Bezug auf die Ausdrucksdichte der Motette beizupflichten ist, so irreführend ist jedoch der Hinweis auf den „streng kontrapunktisch“ durchgeführten Satz: Dieses Ave Maria (WAB 6) gewinnt seine Wirkung gerade durch einen feierlichen, ruhig schwebenden, gleichsam „betrachtenden“ Satz, der „fast durchweg homophon deklamierend [ist], mit Generalpausen nach einzelnen Textphrasen und ohne jede rhythmisch-melodische Prägnanz. Stattdessen geht es Bruckner – und das wird für alle seine folgenden geistlichen Chorstücke gelten – um eine ausgesprochen klare Art der Textdarstellung und um die Verlagerung des Ausdrucks in Dynamik und Harmonik [...]“ (Wald-Fuhrmann, S. 273).

Der Satz wird durch die Frauenstimmen („Engelsgruß“) eröffnet, die Männerstimmen setzen im pp mit dem Gruß an die „fructus ventris tui“ fort. Die dreimalige Anrufung des Namens „Jesus“, vom pp bis zum ff gesteigert, in einem sich auftürmenden, strahlenden A‑Dur-Akkord, ist von außerordentlich eindringlicher Wirkung. Der in die folgende Generalpause nachhallende Akkord stellt eine Zäsur in der Satzstruktur und Stimmung dar; die flehenden Bitten („Sancta Maria ...“) sind imitatorisch gestaltet, wobei auch hier Ober- und Unterchor einander gegenübergestellt werden (T. 21–26). Ab „pro nobis peccatoribus“ wird der Satz wieder akkordisch-homophon, die beiden Chöre sind nicht mehr getrennt und vereinigen sich zum gemeinsamen Gebet.

Ave Maria (WAB 7)

Singstimme (Alt) und Klavier, Orgel oder Harmonium in F‑Dur, „Alla breve. Weihevoll“

EZ: 5.2.1882 (bei Göll.-A.August Göllerich/Max Auer, Anton Bruckner. Ein Lebens- und Schaffensbild (Deutsche Musikbücherei 36–39). 4 Bde. (in 9 Teilbänden [1, 2/1–2, 3/1–2, 4/1–4]). Regensburg 1922–1937, unveränd. Nachdruck 1974 4/3 wohl irrtümlich mit 30.4.1882 datiert)
W: Louise Hochleitner in Wels
UA: ?; gesichert 5.2.1903 in Wien, Universität Wien (Gisela Seehofer, A)
Aut.: verschollen, vormals bei Martha Ginzkey (1872–1950); ÖNB‑MS (Mus.Hs.3185, As. mit autografen Eintragungen)
ED: Musikbeilage 13 der Neuen Musikzeitung 23 (Carl Grüninger, Stuttgart–Leipzig–Wien 1902); Böhm & Sohn, Augsburg–Wien 1927
NGA: Band XXI (Hans Bauernfeind/Leopold Nowak, 1984) und Revisionsbericht (1984)

Bruckner sah (vermutlich) 1881 anlässlich eines Besuchs in Wels in der Auslage eines Fotografen ein Mädchenporträt, das ihn fesselte: Es handelte sich zufälligerweise um die Schwester der Braut seines Schülers und Begleiters Camillo Horn, Luise Hochleitner, Tochter eines Oberlandesgerichtsrats. Bruckner drängte, wie es seine Art war, vehement darauf, sie sofort kennenzulernen, obwohl es schon spätabends war („Ahhh – herrlich! Wer is‘ dös? […] Da führt‘s mi‘ hin. Dö muaß i‘ seg‘n!“, Göll-A. 4/2, S. 51). Luise musste Bruckner ihr ganzes Gesangsrepertoire vortragen. Noch monatelang begeistert von ihrer schönen Kontra-Alt-Stimme widmete er ihr im Februar darauf dieses Ave Maria (WAB 7). Die Vertonung ist weniger von ruhiger Versenkung ins Gebet als von Dramatik und einer Vielzahl effektvoller Stilmittel, ja fast opernhaftem Pathos gekennzeichnet (also keinesfalls ein „anspruchslose[s] Stück“, Göll.-A. 4/2, S. 52). Die Harmonik ist äußerst bewegt und farbig, alte Topoi (z. B. Oktavsprung auf „Dominus“) gelangen zum Einsatz. Auch hier ist der Name „Jesus“ wieder besonders hervorgehoben. Zu den Worten „Sancta Maria“ (T. 59–62) zitiert Bruckner wörtlich die entsprechende Stelle aus dem Ave Maria (WAB 6; Zitate).

Das Autograf wurde 1896 von Theodor Reisch an M. Ginzkey (geb. von Schmitt) übergeben (Frauen). Sie heiratete 1911 den Schweizer Industriellen Robert Thyll (1864–1929).

Die bislang früheste bekannte Aufführung (Uraufführung?) fand nach Erscheinen des Erstdruckes im kleinen Festsaal der Universität Wien im Rahmen des 5. Bruckner-Abends des Wiener Akademischen Gesangvereines statt, bei dem die Opernsängerin Gisela Seehofer neben diesem Ave Maria auch Amaranths Waldeslieder und Im April vortrug. Eine weitere Aufführung fand während des Brucknerfestes in Stuttgart im Oktober 1921 statt.

Literatur

ELISABETH MAIER

Zuletzt inhaltlich bearbeitet: 25.10.2018

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