Symphonisches Präludium (WAB add 332)
2 Fl., 2 Ob., 2 Klar., 2 Fg., 4 Hr., 2 Trp., 3 Pos., Btb., Pk., Str.
UA: | 7.9.1949 in München (Münchner Philharmoniker; Fritz Rieger [1910–1978]) |
Aut.: | nicht bekannt bzw. verschollen; ÖNB‑MS (Mus.Hs.34241, Klavier-Auszug von Heinrich Tschuppik [1890–1950]); Archiv der Münchner Philharmoniker (handschriftliches Orchestermaterial von Tschuppik und einem unbekannten Kopisten) |
ED: | Sikorski, Hamburg 1981 (Neu-Instrumentierung von Albrecht Gürsching [* 1934] nach Tschuppiks Particell als angebliches Werk Gustav Mahlers); Doblinger, Wien 2002 (Wolfgang Hiltl/Benjamin-Gunnar Cohrs; Partitur mit Faksimile-Wiedergabe von Rudolf Krzyzanowskis Kopie) |
Dieser Orchestersatz in c‑Moll (293 Takte) ist nur bekannt durch eine Kopie, die Bruckners Schüler Krzyzanowski 1876 anfertigte; auf deren letzter Seite stand mit Blaustift in großen Buchstaben „Von Anton Bruckner“. Das Manuskript wurde 1948 von dem Wiener Komponisten Tschuppik, dem Neffen Krzyzanowskis, im Nachlass seines Onkels entdeckt. Tschuppik fertigte davon eine edierte Reinschrift, Klavierauszüge und ein Orchestermaterial an und zeigte den Satz herum. Das an sich unbezeichnete Werk nannte er aufgrund seines Charakters Symphonisches Präludium. Nachdem mehrere Bruckner-Forscher seine Ansicht, es handele sich um ein Werk Bruckners, geteilt hatten, initiierte Tschuppik die Uraufführung. Sie sollte ursprünglich am 23.1.1949 durch die Wiener Philharmoniker unter Volkmar Andreae stattfinden, wurde jedoch kurzfristig wieder abgesetzt, denn Leopold Nowak, dem Tschuppik das Manuskript am 3.1.1949 für eine Untersuchung zur Verfügung gestellt hatte, sprach sich vehement gegen Bruckner als Autor aus. Die Aufführung erfolgte daraufhin am 7.9.1949 durch die Münchner Philharmoniker unter Rieger. Tschuppik starb 1950. Das Manuskript gelangte an seine Erben; das Aufführungsmaterial blieb unbeachtet im Archiv der Münchner Philharmoniker. Nowak schloss seine Untersuchungen des Werkes nie ab, und die im Jänner 1949 in der Musiksammlung der Österreichischen Nationalbibliothek (ÖNB) angefertigte Fotografie wurde erst nach seinem Tod 1991 in dessen Nachlass entdeckt. 1949 gelangte jedoch durch Schenkung von Gertrud Staub-Schlaepfer (Zürich) auch einer der Klavierauszüge Tschuppiks in die ÖNB. Sie vermutete einen anderen Autor und notierte am oberen Rand: „Koennte das nicht eine Arbeit f. Prüfung von Gustav Mahler sein? Krzyzanowski gab den Klavierauszug zur dritten Symphonie Bruckners (2. Fassung) heraus mit Mahler zusammen.“ Dies hatte seltsame Folgen: 1978 fand der Musikwissenschaftler Paul Banks den Klavierauszug und war überzeugt, ein Werk Mahlers entdeckt zu haben. Er initiierte eine neue Instrumentierung durch den Komponisten Gürsching. Die bei Nowak verbliebene Kopie der Partitur Krzyzanowskis wie auch das Münchner Aufführungsmaterial waren ihm entgangen. Seit der Erstaufführung der Gürsching-Instrumentierung am 15.3.1981 durch das Radio-Symphonie-Orchester Berlin unter Lawrence Foster (* 1941) wurde das Werk zunächst als vermutlich von Mahler bekannt, bis 1985 der Wiesbadener Dirigent Hiltl das Material im Archiv der Münchner Philharmoniker entdeckte. Später konnte Hiltl die Handschrift Krzyzanowskis aus dem Besitz der Tschuppik-Familie käuflich erwerben. Gemeinsam mit Cohrs erstellte er davon eine Neuausgabe, die mitsamt einem Faksimile der Krzyzanowski-Abschrift 2002 bei Doblinger in Wien erschien. Hiltl kam aufgrund von Handschriftenvergleichen und stilkritischen Erwägungen zu dem Schluss, dass es sich am ehesten um einen ausführlichen Entwurf Bruckners handeln dürfte, der von Krzyzanowski oder einem Dritten in Partitur gebracht, wenn nicht gar auskomponiert wurde. Stilistisch sprechen viele Argumente für Bruckner, insbesondere die Anlage der umfangreichen Exposition mit drei auf Bruckner‘sche Art entwickelten Themengruppen, die Großform aus zwei „Abtheilungen“, nicht zuletzt ein dramatisches Fugato, das in einem Höhepunkt mit einer Überlagerung des 1. und 2. Themas mündet. Auch gibt es frappante Ähnlichkeiten mit Werken Bruckners, die 1876 noch gar nicht veröffentlicht waren, sogar Verweise auf bis dahin nicht einmal Komponiertes. (Man beachte z. B. die Ähnlichkeit des choralartigen Ausbruches T. 59–72 mit dem Choralthema im Finale-Fragment der Neunten Symphonie.) Einiges ist freilich auch untypisch für Bruckner, darunter die Auslassung des 3. Themas in der Reprise, die kurze Coda wie auch die Gesamtgestalt, die eher einem Opern-Vorspiel nahe steht. Der Satz wäre mithin als „apokryph“ zu bezeichnen, denn die Frage der Urheberschaft ist nicht abschließend geklärt (Incerta und Falsa). Dazu hätte das Manuskript weiteren, gründlichen Untersuchungen unterzogen werden müssen. Dies ist jedoch nicht mehr möglich: Nach Auskunft von Uwe Harten wurde nach dem überraschenden Tod des letzten Besitzers, Hiltl, im November 2008 dessen Wohnung von der Gemeinde Niedernhausen in Hessen geräumt; das Manuskript dürfte auf einer städtischen Mülldeponie sein Ende gefunden haben.
Literatur
- Heinrich Tschuppik, Ein neu aufgefundenes Werk Anton Bruckners, in: Schweizerische Musikzeitung 88 (1948), S. 391
- Max Högel, Stammt das „Symphonische Präludium“ von Bruckner?, in: Das Musikleben 2 (1949) H. 10, S. 280f.
- Paul Banks, An early Symphonic Prelude by Mahler?, in: 19th Century Music 3 (1979) Nr. 2, S. 141–149
- Wolfgang Hiltl, Symphonisches Präludium. Ein vergessenes, unerkanntes Werk Anton Bruckners?, in: Studien zur Musikwissenschaft 36 (1985), S. 53–85
- Rudolf Stephan, Das "Symphonische Präludium": Kein Werk Mahlers, in: Nachrichten zur Mahler-Forschung 17 (April 1987), S. 3-6
- Wolfgang Hiltl, Krzyzanowskis Partitur-Niederschrift authentisch. Zur Aufführung des "Symphonischen Präludiums" bei den Salzburger Festspielen, in: Musica 41 (1987) H. 6, S. 533ff.
- Wolfgang Hiltl, Verwarf Bruckner das "Symphonische Präludium"? Krzyzanowskis Partitur Niederschrift. Zeugnis und Perspektiven, in: Das Orchester 36 (1988) H. 6, S. 636-643
- Wolfgang Hiltl, Symphonisches Präludium. Einsichten zu einer Musik im Jahrhundertschlaf, in: IBG‑MitteilungsblattMitteilungsblatt der Internationalen Bruckner-Gesellschaft. Studien & Berichte. Hg. v. der Internationalen Bruckner-Gesellschaft. Wien 1971ff. Nr. 63 (Dezember 2004), S. 13–16
- Leopold Nowak, Symphonisches Präludium, Materialien und Studien. Manuskript (ÖNB-MS, F110.Nowak,L.607/1-10)