Mahler, Brüder
Gustav: * 7.7.1860 Kalischt/Böhmen
(Kaliště/CZ), † 18.5.1911 Wien/A. Dirigent, Komponist.
Die nicht geringe
Literatur zum Thema „Bruckner – Mahler“ vermittelt einen zwiespältigen Eindruck.
Einerseits wurde zwischen beiden Komponisten eine enge geistige und stilistische Nähe
festgestellt, manchmal sogar – fälschlich – ein Lehrer-Schüler-Verhältnis
konstruiert, zu dem Mahler selbst sagte: „Ich war nie Schüler Bruckners gewesen,
dieses on dit [sic] dürfte daher stammen, daß ich in jungen Jahren, die ich in Wien
zugebracht, mit Bruckner stets zu sehen war und jedenfalls zu seinen extra Verehrern
und Propagatoren gehörte.“ (zit. n. Göll.-A. 4/1, S. 448f.; in den Nationalen der
philosophischen Fakultät der Universität
Wien scheint Mahler aber zumindest 1877/78 als Hörer Bruckners auf, vgl.
Antonicek). Ebenso wurde aber auch die Differenz betont: So bestritt beispielsweise
Parks William Grant jeden musikalischen Zusammenhang zwischen Bruckner und
Mahler.
Der Wandel in der Tendenz, Bruckner und Mahler als zusammengehörig oder aber als gerade diametral entgegengesetzt anzusehen, ist ein Spiegel der Wirkungsgeschichte. Als Spätromantiker eingestuft, als „Neuerer“ vor der Jahrhundertwende zusammengefügt, gerieten die beiden Komponisten zunächst rasch in einen Zusammenhang, der eklatante musikalische Unterschiede verdeckte. Nicht zuletzt wurde durch die Bruckner Society of America, die nachdrücklich auch Mahler propagierte, diese Sichtweise verstärkt. Nach 1900 wurden beide Komponisten überdies in die problematische Konstruktion einer „österreichischen Linie“ in der Symphonik eingespannt. Nicht zuletzt als Reaktion auf die höchst unterschiedlich verlaufende Mahler‑ und Bruckner-Rezeption in Europa, in den USA (Nordamerika) und in Asien bildeten sich dann zunehmend differenzierte – sachliche, kritische und polemische – Positionen zur Beurteilung des Verhältnisses Bruckner-Mahler heraus.
Die biografischen Fakten sind rasch aufgezählt. Die erste Bekanntschaft fällt in Mahlers Zeit am Konservatorium der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien, wo er seit 1875 bei Julius Epstein und Franz Krenn studierte. Er gehörte damals zum engsten Verehrerkreis Bruckners und war bei der missglückten Uraufführung der Dritten Symphonie am 16.12.1877 anwesend. Gemeinsam mit seinem Freund Rudolf Krzyzanowski stellte er von dieser Symphonie einen vierhändigen Klavierauszug (Bearbeitungen) her. Bruckner schenkte ihm das Autograf dieser Fassung der Dritten. Mahler war es auch, der 1889 die Drucklegung der letzten Fassung der Dritten verzögerte, weil er vehement, aber letztlich erfolglos, für die Beibehaltung der Druckfassung von 1878 plädierte.
Später setzte sich Mahler als Dirigent für Bruckners Werke ein, erstmals mit dem Scherzo der Dritten Symphonie (18.4.1886, Prag). Er leitete Aufführungen des Te Deum (15.4.1892, Hamburg), der Messe in d‑Moll sowie der Dritten, Vierten, Fünften und Sechsten Symphonie (Erstaufführung aller vier Sätze, wenn auch gekürzt am 26.2.1899 in Wien), allerdings veränderte er diese Partituren zum Teil beträchtlich. Sein Einsatz entsprang aber nicht bloß einem rein künstlerischen Enthusiasmus, sondern war zumindest anfangs auch motiviert durch die Solidarität mit dem von den Zeitgenossen unterschätzten oder sogar verkannten Bruckner. Diesbezügliche Bemerkungen fielen gegenüber seiner Schwester Justine (1868–1938) und seiner Vertrauten Natalie Bauer-Lechner (1858–1921).
Den Aufzeichnungen Natalie Bauer-Lechners nach besaß Mahler ein durchaus ambivalentes Verhältnis zu Bruckner, dessen Umgang mit der Form seinen Vorstellungen von Struktur und musikalischer Logik nicht entsprach. Während er an den Symphonien „Größe und Reichtum der Erfindung“ bewunderte, störte ihn deren „Zerstücktheit“ (Bauer-Lechner, S. 16). Der Persönlichkeit Bruckners gestand er eine „unglaubliche Bescheidenheit und Herzensdemut“ zu (Bauer-Lechner, S. 27). Mahler spricht im selben Zusammenhang, und zwar positiv, von der rührenden „Einfalt“ Bruckners (Bauer-Lechner, S. 28), aber dessen Schmähung als „halb Genie, halb Trottel“ (Hinrichsen, S. 21), wie lange Zeit behauptet, wäre ihm nie in den Sinn gekommen. Dieses böse Bonmot stammt in Wirklichkeit von Hans Guido von Bülow, und es markiert eine Verkennung Mahlers, wenn in der Literatur – fälschlich – ausgerechnet ihm dessen Urheberschaft zugeschrieben wurde. Sie ist allerdings bezeichnend für die zunehmend scharfe Betonung der Unterschiede zwischen Bruckner und Mahler. Für die nachhaltige Fortschreibung dieser Differenz ist, jedenfalls im deutschen Sprachbereich, der Einfluss der 1960 erschienenen Mahler-Monografie Theodor W. Adornos (1903–1969) kaum zu überschätzen, deren Kehrseite die schonungslose Abwertung Bruckners war.
Der Dirigent Bruno Walter erinnerte sich, dass während der Entstehungszeit der Zweiten Symphonie Mahlers dessen künstlerischer Bezug zu Bruckner wohl am stärksten gewesen sei. Aus späterer Zeit sind eher distanzierte, ja ablehnende Äußerungen Mahlers überliefert. So schrieb er am 18.8.1906 aus Salzburg an seine Frau Alma (1879–1964) über die Neunte: „Dieses Werk ist der Gipfelpunkt des Unsinns“ (LaGrange/Weiß, S. 286). Dennoch hat er sich (nach Alma Mahler) für die Drucklegung von Bruckner-Werken eingesetzt, indem er das Risiko auf das persönliche Konto in dem Verlag, der auch seine Werke betreute, übernahm.
Vergleichende Analysen haben in konkreten Fällen Parallelen bzw. Einflüsse aufgedeckt. So hob Rudolf Stephan an den Kopfsätzen von Mahlers Zweiter und Bruckners Dritter ähnliche formale Strukturen sowie Thema‑ und Klangvorstellungen hervor; ebenso verweise das Finale von Mahlers Neunter als reich differenziertes großes symphonisches Adagio (Stephan, S. 142) auf den langsamen Satz von Bruckners Neunter zurück. Constantin Floros zeigte am 3. Satz von Mahlers Vierter formal und motivisch Bruckner-Elemente auf. Weiters bestehen Verbindungen zwischen Bruckners Te Deum, das Mahler besonders schätzte, und seinem eigenen Pfingsthymnus in der Achten Symphonie. In diesem biografisch-weltanschaulichen Kontext wäre die Religiosität (Persönlichkeit) der beiden Komponisten zu diskutieren (für die Mahler bei Bruckner, wie erwähnt, das Charakteristikum der „Einfalt“ betonte). Überdies wurden einige gemeinsame, aus der Tradition weiterentwickelte Satztypen und Charaktere – „Marsch“, „Choral“, „Hymnus“, „Ländler“ – festgestellt (Floros).
Trotz mancher überzeugender Ähnlichkeiten existieren nicht zu überhörende Unterschiede im musikalischen Ton. Die Akzentuierung des gesungenen Wortes (Symphonie, Lied) fehlt in Bruckners symphonischer Auffassung. Auch die Idee einer räumlich gestaffelten Musik, bewusste stilistische Vielschichtigkeit, gezielte Aufgriffe von Trivialmusik, Montagetechniken und Verfremdungen zeigen Mahler in charakteristischer Distanz zu Bruckner. In gewisser Weise war es eine „Spiegelbild-Beziehung“ (Silbermann, S. 35), in der Bruckner und Mahler am Ende der Gattungstradition ihre symphonischen Monumentalkonzepte vorlegten. Dennoch: „Der beträchtliche Einfluss Brucknerscher Musik auf diejenige von Mahler“ (Schubert, S. 71) dürfte weit über das von Mahler selbst Zugestandene hinausreichen. Nach einer lange Zeit vorherrschenden Betonung der Differenzen ist heute der Blick für zahlreiche Verbindungen und Kontinuitäten wieder freier geworden.
Werke
- Symphonien
- Orchester- und Klavierlieder (u. a. Lieder eines fahrenden Gesellen, Kindertotenlieder)
- Bearbeitungen von Werken Johann Sebastian Bachs, Wolfgang Amadeus Mozarts, Ludwig van Beethovens u. a.
Literatur
- Natalie Bauer-Lechner, Erinnerungen an Gustav Mahler. Leipzig 1923
- Göll.-A.August Göllerich/Max Auer, Anton Bruckner. Ein Lebens- und Schaffensbild (Deutsche Musikbücherei 36–39). 4 Bde. (in 9 Teilbänden [1, 2/1–2, 3/1–2, 4/1–4]). Regensburg 1922–1937, unveränd. Nachdruck 1974 4/1, S. 448f.
- Hans Ferdinand Redlich, Bruckner and Mahler. 2. Aufl. London 1963
- Parks William Grant, Bruckner and Mahler. The Fundamental Dissimilarity of their Styles, in: The Music Review 32 (1971) Nr. 1, S. 36–55
- Ernst Hilmar, „Schade, aber es muß(te) sein“: Zu Gustav Mahlers Strichen und Retuschen insbesondere am Beispiel der V. Symphonie Anton Bruckners, in: Bruckner-Studien 1975Othmar Wessely (Hg.), Bruckner-Studien. Festgabe der Österreichischen Akademie der Wissenschaften zum 150. Geburtstag von Anton Bruckner (Veröffentlichungen der Kommission für Musikforschung/Philosophisch-Historische Klasse 16). Wien 1975, S. 187–201
- Theophil Antonicek, Bruckners Universitätsschüler in den Nationalien der Philosophischen Fakultät, in: Bruckner-Studien 1975Othmar Wessely (Hg.), Bruckner-Studien. Festgabe der Österreichischen Akademie der Wissenschaften zum 150. Geburtstag von Anton Bruckner (Veröffentlichungen der Kommission für Musikforschung/Philosophisch-Historische Klasse 16). Wien 1975, S. 434–487
- Bruno Walter, Bruckner und Mahler, in: Rudolf Stephan, Gustav Mahler : Werk und Interpretation. Autographe, Partituren, Dokumente [Ausstellungskatalog]. Köln 1979, S. 15–20
- Rudolf Stephan, Zum Thema „Bruckner und Mahler“, in: Bruckner-JahrbuchBruckner-Jahrbuch. (Wechselnde Herausgeber). Linz 1980ff. 1981, S. 137–143
- Constantin Floros, Gustav Mahler. 3 Bde. Wiesbaden 1977–1985
- Constantin Floros, Bruckner und Mahler. Gemeinsamkeiten und Unterschiede, in: Bruckner-Symposion 1981Othmar Wessely (Hg.), Bruckner-Symposion. „Die österreichische Symphonie nach Anton Bruckner“. Im Rahmen des Internationalen Brucknerfestes Linz 1981. 12. bis 14. September 1981. Bericht. Linz 1983, S. 21–29
- Constantin Floros, Von Mahlers Affinität zu Bruckner, in: Bruckner-Symposion 1986Bruckner-Symposion. Bruckner, Liszt, Mahler und die Moderne. Im Rahmen des Internationalen Brucknerfestes Linz 1986. 17.–21. September 1986. Bericht. Hg. v. Anton Bruckner Institut Linz/Linzer Veranstaltungsgesellschaft mbH. Linz 1989, S. 109–117
- Alphons Silbermann, Bruckner, in: Alphons Silbermann, Lübbes Mahler-Lexikon. Bergisch Gladbach 1986, S. 34f.
- Erich Wolfgang Partsch, Schubert, Bruckner, Mahler und die Frage nach einer „österreichischen Linie“ in der Symphonik, in: Nachrichten zur Mahler-Forschung 31 (1994), S. 3–16
- Henry-Louis de LaGrange/Günther Weiß (Hg.), Gustav Mahler, Ein Glück ohne Ruh‘. Die Briefe Gustav Mahlers an Alma. Berlin 1995
- Andrea Harrandt, „Gustav Mahler. O! Mögen Sie nur der Meinige bleiben ...“ – Unbekannte Briefe zu zwei Aufführungen von Bruckners Te Deum in Hamburg, in: Erich Wolfgang Partsch (Hg.), Gustav Mahler. Werk und Wirken. Wien 1996, S. 50–63
- Hans-Joachim Hinrichsen, „Halb Genie, halb Trottel“. Hans von Bülows Urteil über Anton Bruckner, in: IBG-MitteilungsblattMitteilungsblatt der Internationalen Bruckner-Gesellschaft. Studien & Berichte. Hg. v. der Internationalen Bruckner-Gesellschaft. Wien 1971ff. Nr. 55 (Dezember 2000), S. 21–24
- Giselher Schubert, Bruckners Musik, in: Bruckner-Handbuch 2010Hans-Joachim Hinrichsen (Hg.), Bruckner-Handbuch. Stuttgart–Weimar 2010, S. 62–72
- Peter Revers, „Durch Größe und Reichtum der Erfindung hingerissen“. Anton Bruckner und Gustav Mahler, in: Reinhold Kubik/Thomas Trabitsch (Hg.), Gustav Mahler und Wien. „leider bleibe ich ein eingefleischter Wiener“. Wien 2010, S. 102–107
- http://gustavmahler.com/ [14.5.2019]
- https://gustav-mahler.org/ [14.5.2019]
- Uwe Harten/Christian Fastl, Art. „Mahler, Familie“, in: www.musiklexikon.ac.at [14.5.2019]
Otto: * 18.6.1873 Iglau/Mähren (Jihlava/CZ), † 6.2.1895
Wien/A. Musiker, Komponist, Dirigent.
Schon früh zeigte er eine besondere
musikalische Begabung. Dadurch, dass die Familie Mahler selbst alle Erinnerungen
an den unglücklichen Verwandten völlig zu verwischen trachtete, ist bislang jedoch
wenig über ihn bekannt.
Ab dem Studienjahr 1888/89 scheint Mahler in den Jahresberichten des Konservatoriums der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien als ordentlich inskribierter Student auf (Harmonielehre bei Bruckner, Klavier bei Ernst Ludwig [1852–1915]) und erhält die besten Benotungen, ebenso im 2. Studienjahr (Kontrapunkt bei Bruckner, Klavier bei Ludwig). Trotz vieler Nachhilfelehrer sank sein Studienerfolg im 4. Studienjahr zunehmend ab, vor allem im Fach Komposition (bei Johann Nepomuk Fuchs [1842–1899]), das er nicht abschloss. Im April 1892 schließlich verließ er das Konservatorium und dürfte privat weiterstudiert haben. Durch die Intervention Gustav Mahlers konnte er am 1.9.1893 eine Stelle als Chormeister und 2. Kapellmeister an der Oper in Leipzig antreten, wo er erste Erfolge erzielte. Im Winter 1894/95 kehrte Mahler nach Wien zurück. Dort verbrachte er die meiste Zeit bei seiner alten Freundin Nina Hoffmann-Matscheko (1844–1914, Ehefrau des Malers Josef Hoffmann [1831–1904], Philanthropin, Schriftstellerin und Übersetzerin) in der Theresianumgasse 6, 4. Bezirk, Wien, wo er sich am 6.2.1895 erschoss.
Zeitlebens konnte sich Gustav Mahler nicht überwinden, die Kiste zu öffnen, in der sich der Nachlass seines Bruders befand. Nach Gustavs Tod entdeckte Alma Mahler darin in einem Konvolut von Schulheften das Autograf der ersten drei Sätze der Dritten Symphonie (2. Fassung) Bruckners. Dieses wurde 1948 aus dem Besitz Alma Mahlers für die Österreichische Nationalbibliothek angekauft.
Werke
- Symphonien
- Lieder
Literatur
- Selbstmord eines Componisten, in: Die Presse 7.2.1895, S. 10
- Alma Mahler, Mein Leben. Frankfurt am Main 1960
- Henri-Louis de La Grange, Gustav Mahler. Chronique d’une vie. Bd. 1. Paris 1979
- Vladimir Karbusicky, Mahler in Hamburg. Chronik einer Freundschaft. Hamburg 1996
- Thomas Röder, Revisionsbericht zu NGAAnton Bruckner. Sämtliche Werke. Kritische Gesamtausgabe. Hg. v. der Generaldirektion der Österreichischen Nationalbibliothek und der Internationalen Bruckner-Gesellschaft. Wien 1951ff. (Editionsleitung: Leopold Nowak, auch als Neue Gesamtausgabe bezeichnet) III/1–3 (1997), S. 6f.
- Elisabeth Maier, Ein Bruckner-Schüler namens Mahler, in: Nachrichten zur Mahler-Forschung 28 (2003) H. 49, S. 16–23
- Uwe Harten/Christian Fastl, Art. „Mahler, Familie“, in: www.musiklexikon.ac.at [14.5.2019]