Anthroposophie

„Anthroposophie – wörtlich aus dem Griechischen: ‚Weisheit vom Menschen‘ – ist in den Worten ihres Begründers Rudolf Steiner (1861–1925) ‚Bewusstsein des eigenen Menschentums‘ und ein spirituell orientierter Erkenntnisweg. Sie versteht sich als Anregung zur Entwicklung des Individuums und zur Neugestaltung von Lebens- und Kulturverhältnissen und nicht als System oder Lehre.“ (www.anthroposophie.or.at [21.1.2016]) lautet die Eigendefinition der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft. Sie wurde von Rudolf Steiner begründet, der sich 1913 von der Theosophie, einer von der russischen Okkultistin Helena Petrovna Blavatsky (1831–1891) vertretenen Geheimlehre, und ihrer Orientierung an fernöstlichen Lehren trennte. Maßgeblich an der Findung dieser eigenständigen Entwicklung Steiners war nach eigenen Angaben Friedrich Eckstein (s. Lit.).

Internationales Zentrum der Anthroposophie ist das von Rudolf Steiner gegründete Goetheanum in Dornach in der Schweiz, das einen eigenen Philosophisch-Anthroposophischen Verlag betreibt. Aus der Anthroposophischen Weltanschauung sind die Waldorf-Pädagogik, die Eurhythmie, die biologisch-dynamische Landwirtschaft „Demeter“, die anthroposophische Medizin und die „Christengemeinschaft“ erwachsen.

Die Anthroposophie fand unter Künstlern zahlreiche Anhänger, so etwa Bruno Walter, Wassily Kandinsky (1866–1944), Saul Bellow (1915–2005) und Christian Morgenstern (1871–1914). Im praktisch-musikalischen Bereich spielt die Anthroposophie neben spekulativen Interpretationsmodellen pädagogisch und therapeutisch (z. B. in der Eurhythmie) eine Rolle.

Während Steiner, im Studienjahr 1879/80 Student Bruckners an der Universität Wien, in seinen Ausführungen über die musikalische Evolution den Komponisten nur kurz einbezog, deutete Erich Schwebsch (1889–1953) diesen in seiner Bruckner-Monografie maßgeblich anthroposophisch: Die entscheidende Voraussetzung hierfür sei die „kosmische Geistigkeit der Brucknerschen tönenden Welt“ (Schwebsch 1923, S. 95), im Übrigen eine in der frühen Bruckner-Literatur des öfteren vorkommende Gedankenfigur. Analytisch spielen auch von Steiner übernommene Charakterisierungen von Intervallen und Tonarten eine bedeutsame Rolle. Die Sechste Symphonie war für Schwebsch aufgrund ihrer kosmischen Höhe und ihrer „Umschau in der geistigen Welt selbst“ (Schwebsch 1923, S. 284) das Hauptwerk Bruckners. Einflüsse dieses Interpretationsmodells finden sich u. a. in den Bruckner-Büchern von Oskar Lang (1884–1950) und Fritz Grüninger, ebenso bei Friedrich Eymann (1887–1954) und in jüngerer Zeit bei Frank Berger (* 1955). Von Walter Beck erschien 1995 eine am Goetheanum in Dornach verlegte Bruckner-Biografie.

Beim „Ost-West-Kongreß“ der Anthroposophischen Gesellschaft, der vom 1. bis zum 12.6.1922 im Wiener Musikvereinsgebäude (Gesellschaft der Musikfreunde in Wien) stattfand, wurde am 5.6. eine Brucknerfeier veranstaltet, bei der durch die Wiener Philharmoniker Bruckners Messe in f‑Moll, das Streichquintett in F‑Dur sowie das Te Deum aufgeführt wurden.

Literatur
  • Rudolf Steiner, Von den menschlichen Grundlagen der Musik. Nach einem Vortrag von Dr. Rudolf Steiner von Erich Schwebsch, in: Die Drei. Monatsschrift für Anthroposophie, Dreigliederung und Goetheanismus 3 (1923) H. 3, S. 169–182 und H. 4, S. 288–298
  • Erich Schwebsch, Anton Bruckner. Ein Beitrag zur Erkenntnis von Entwickelungen in der Musik. 2., wesentlich erw. Aufl. Stuttgart 1923
  • Friedrich Eckstein, „Alte unnennbare Tage“ Erinnerungen aus siebzig Lehr- und Wanderjahren. Wien 1936. Reprint Wien 1988, bes. S. 103–133
  • Hermann Beckh, Die Sprache der Tonart in der Musik von Bach bis Bruckner, unter besonderer Berücksichtigung des Wagnerschen Musikdramas. Stuttgart 1937
  • Erich Schwebsch, Anton Bruckners VI. Symphonie. Stuttgart 1953
  • Friedrich Eymann, Von Bach zu Bruckner. Zehn Vorträge. Bern 1968
  • Walter Beck, Anton Bruckner. Ein Lebensbild mit neuen Dokumenten. Dornach 1995
  • Frank Berger, Karmische Motive im Leben Anton Bruckners, in: Frank Berger (Hg.), Unter neuen Vorzeichen. Bruckner – Mahler – Schönberg und ihr karmischer Umkreis. Dornach 1996, S. 39–69
  • Leopold Brauneiss, Spekulative Analysen: Bruckners Werk in anthroposophischer Deutung, in: Bruckner-Tagung 2001Andrea Harrandt/Elisabeth Maier/Erich Wolfgang Partsch (Hg.), Bruckner-Tagung Gmunden 2001. Anton Bruckner zwischen Idolatrie und Ideologie. Zur Geschichte der Bruckner-Forschung. Kammerhofmuseum, 4.–7. Oktober 2001. Bericht (Bruckner-Vorträge). Wien 2004, S. 53–62
  • Elisabeth Gergely/Tobias Richter (Hg.), Wiener Dialoge. der österreichische Weg der Waldorfpädagogik. Wien 2011, S. 68f.

ELISABETH MAIER, ERICH WOLFGANG PARTSCH

Zuletzt inhaltlich bearbeitet: 1.9.2017

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