Biografien

Vereinfacht formuliert scheint es zunächst, als würden die Bruckner-Biografien seit der ersten von Franz Brunner (1895) bis zum Ende des 20. Jahrhunderts, mit an einer Hand abzuzählenden Ausnahmen, eher die politische Geschichte der Geisteswissenschaften der letzten 100 Jahre erklären, anstatt Leben und Werk des zunehmend an internationaler Bedeutung gewinnenden Komponisten. Tatsächlich hat eine unglückliche Konstellation, die Bruckner als „Musikanten Gottes“ für katholische Kreise und als „Tonheros“ für den deutschen Nationalismus verfügbar machte, eine Kluft zwischen derartigen Ideen anhängenden Autoren und jenen wenigen, die sich ihnen quellenorientiert verweigerten, aufgerissen und das Bruckner-Schrifttum lange arg behindert. So wurden statt sachlicher Darstellung oftmals Klischees entwickelt bzw. bekräftigt. Natürlich trug hierzu auch allgemein das Standardwerk von August Göllerich und Max Auer (1922–1937) bei.

Nationalsozialistisch vereinnahmt, beschworen Autoren die urwüchsige Kraft der deutschen Mystik, die „sinfonischen Offenbarungen“ wurden als „Musik des stillen Deutschtums“ (Lemacher) präsentiert und Robert Haas verstand 1939 – laut dem Vorwort zur Achten Symphonie in der Alten Gesamtausgabe – den „deutschen Michel-Mythos“ als „in der großdeutschen Idee als geschichtliche Geisteshaltung gegeben“ (AGA 8, Vorwort). 1947 war in der alten Einleitung von Auers Bruckner-Biografie – mittlerweile in 5. Auflage – zu lesen, dass „mystisches Dämmerlicht im Innern des Sankt-Stephans-Domes“ die stimmungsvolle Kulisse für den „Meister bei seiner Meditation im Gotteshaus“ (Auer 1923, S. 5f.) abgab. Norbert Tschulik (1927–2012) erklärte in seiner Bruckner-Monografie, „wie der Toni Sängerknabe und Schulgehilfe wurde“ (Tschulik, S. 5) und dass in der Achten Symphonie „das Adagio wiederum ein Gebet in Tönen“ (Tschulik, S. 149) war.

Das Bruckner-Bild (Rezeption) änderte sich seit den späten 1970er Jahren nachdrücklich in Richtung Sachlichkeit. In den Mittelpunkt rückten etwa die kritische Beleuchtung programmatischer Äußerungen Bruckners, die Architektur und Harmonik der Werke oder seine Arbeitsweise die Fassungen der Symphonien betreffend (vgl. Partsch, S. 358).

Zwar haben Bruckners Freunde und Schüler wie Josef Daninger (1880–1945), Ernst Decsey, Friedrich Eckstein, Leo Funtek, A. Göllerich, Franz Gräflinger, Josef Gruber, Fritz Grüninger, Karl Grunsky, Karl Viktor Hruby, Otto Kitzler, Friedrich Klose, Rudolf Louis, Max von Millenkovich, Max von Oberleithner, Franz Schalk und Josef Schalk etc. vieles an mündlichen Mitteilungen überliefert, jedoch gaben sie sich relativ unkritisch jenem Gemeinde-Gedanken hin, der Bruckner mehr usurpierte, als er durch ihn bestimmt wurde. Dies gilt, wenn auch in abgeschwächter Form, ebenso für jene Autoren, die bis in die 1970er Jahre hinein den Nachfolgegruppen oder auch nur den Sympathieträgern jener Gruppen unterworfen waren, die ihr Idol ihrer Gesamtschau einverleibt hatten und, gleichgültig, aus welchen persönlichen Motiven heraus – also der Gemeindezugehörigkeit zu Katholiken, Deutschnationalen, Konservativen, Wagner-Anhängern oder einfach Projektionen eigener Überzeugungen (z. B. Anthroposophie) –, nicht entfliehen konnten. Manche, die thematisch die Chance ergriffen, sich dieser Verbundenheit zu entziehen, bauten sprachliche bzw. terminologische Schranken auf, wie etwa Ernst Kurth. Die angelsächsischen Autoren Erwin Doernberg und Werner Wolff (1883–1961) oder auch Anderssprachige wie Armand Machabey (1886–1966), Lidija Grigorevna Rappoport, Leon van Vassenhove bis hin zu Paul‑Gilbert Langevin waren zum Teil von der deutschsprachigen Rezeptionsgeschichte beeinflusst und rückten – Biografie mit Werk verwechselnd – Bruckner in das Umfeld Richard Wagners oder tradierten andere Klischees.

Erstaunlich ist, dass sich von der Gegenseite – also jenen, denen die Auseinandersetzung mit der Musik an sich genügte, bei der nicht vordergründig außermusikalische Botschaften transportiert werden – nur wenige fanden, die Position Bruckners darzustellen. Dazu zählten Leopold Nowak als Formalexperte, Hans‑Hubert Schönzeler und jene Autoren, die sich ohne Rücksicht auf Parteinahme eine objektivierte Darstellung von Person und Werk zum Ziel gesetzt hatten (Othmar Wessely, Mathias Hansen, Manfred Wagner).

Am Beispiel Bruckners zeigte sich (wie, nebenbei bemerkt, auch am Beispiel R. Wagners) schnell, dass die deutschnationale Vereinnahmung seit den 1870er Jahren ihr Ende nicht mit dem Ende des Nationalsozialismus 1945 gefunden hatte, sondern die Denkstrukturen in den beiden Strömungen der Auffassung von musikalischer Botschaft nachwirkten. Möglicherweise hat dies damit zu tun, dass eine angelsächsische Denkweise einer luziden und mit dem Skalpell durchgeführten Sezierung von Leben und Werk nicht zur Verfügung stand, und dass wahrscheinlich relativ ungebrochen die Kluft zwischen Anhängerschaft und Gegnerschaft Bruckners weiter existierte. Neuere amerikanische Methoden, sich auf Lebens- und strukturalistische Werkanalysen unbeschadet der Einbettung in ihre Zeit zu verlassen, versprechen diesbezüglich keine große Hilfe.

Den durch massive Vorurteile und biografische bzw. künstlerische Widersprüche geprägten, schwierigen Umgang mit dem Komponisten dokumentiert auch das Faktum, dass für das Jubiläumsjahr 1996 kaum Biografien geschrieben wurden (Ausnahmen: Elisabeth Maier, Haymo Liebisch [* 1929]).

Bemerkenswert ist die in den letzten Jahren erfolgte breitere geografische Streuung: Im asiatischen Raum legte Kazumi Negishi (* 1946) 2006 ein Porträt vor, M. Wagners Biografie wurde ins Chinesische übersetzt (2009); weitere Biografien wurden von Alan Crawford Howie (2002), Sergio Martinotti (* 1931; 2003), Alberto Fassone (* 1961; 2005) und Philippe Herreweghe (Sammelband 2008) verfasst. 2012 erschien eine umfangreiche Darstellung von Cornelis van Zwol in niederländischer Sprache, 2014 eine Monografie von Jean Gallois.

Literatur

ERICH WOLFGANG PARTSCH, MANFRED WAGNER

Zuletzt inhaltlich bearbeitet: 11.12.2017

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Abbildungen

Abbildung 1: Neue Zeitschrift für Musik 95 (1928) H. 6, S. 352/2

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ACDH-CH, Abteilung Musikwissenschaft