Langsamer Satz

Der langsame Satz, der in Bruckners Instrumentalmusikzyklen zunächst stets an zweiter Stelle, später im Streichquintett in F‑Dur sowie in der Achten und der Neunten Symphonie an dritter Position steht, ist nach August Halms schöner Charakterisierung „für Bruckner der zentrale Satz, das Heiligtum, dessen Vorhof in der melodischen Gruppe des ersten Satzes uns empfangen hatte“ (Halm, S. 105). Bruckners langsame Sätze folgen der traditionellen Dreiteiligkeit, wie sie Franz Schalk in seiner Skizzierung des Bruckner‘schen „Schema[s]“ (Schalk, S. 89f.) pauschal unterstellte, nur scheinbar bzw. nur in den ersten Werken. Spätestens seit der Zweiten Symphonie ist diese Dreiteiligkeit tiefgreifend umorganisiert und in den Dienst des für Bruckner typischen symphonischen „Durchbruch[s]“-Konzepts (dieser Begriff nach Steinbeck 1993, S. 24) gestellt.

Die Bezeichnung der langsamen Sätze lautet seit der Vierten Symphonie (gelegentlich auch schon vorher) stets „Adagio“, von der Sechsten an (und auch schon in der Zweiten und der Dritten) mit dem Zusatz „feierlich“. Obwohl sie ihrem überkommenen Charakter nach der Innerlichkeit, der Versenkung und der Beruhigung nach dem gewaltigen Höhepunkt des Kopfsatzes gewidmet sind, folgen auch sie der für Bruckners Symphoniekonzept grundlegenden Steigerungsdramaturgie. Zu diesem Zweck wird die scheinbar traditionelle Dreiteiligkeit so gravierend umgedeutet, dass sich zutreffender von einer speziellen Zurichtung der Sonaten(hauptsatz)form sprechen lässt. Jeder der drei Teile (Bruckner selbst nannte sie bisweilen auch „Abteilungen“) beginnt mit dem expressiven, tiefgründigen Hauptthema, dem in den ersten beiden Teilen ein kontrastierendes Thema meist sehr innigen Tons (auch hier wäre, wie im Kopfsatz, von „Gesangsperiode“ zu sprechen) entgegengestellt wird. Die eigentliche, auf den Durchbruch zielende Entwicklung vollzieht sich jedoch, am Beginn jeder Abteilung auf einem gesteigerten Energieniveau ansetzend, nahezu ausschließlich mit Hilfe des Hauptthemas; sie erreicht ihr logisches Ziel in der letzten, der 3. Abteilung, in der das gesangliche Kontrastthema gar nicht mehr oder nur noch in höchst sekundärer Erscheinungsweise auftritt. Anders aber als im Kopfsatz ist dieser von langer Hand vorbereitete und das Ziel des Satzes bildende Durchbruch im Adagio nicht thematischer, sondern in erster Linie klanglicher Natur. Er ist sogar, eben damit seine primär aufs Klangliche zielende Natur beweisend, über viele Bruckner‘sche Adagio-Sätze hinweg bemerkenswert einheitlich gestaltet: als Ausbruch auf der Basis eines über zahlreiche Takte hinweg gehaltenen Dur-Quartsextakkords, der sich aus der vorbereitenden Dissonanz eines übermäßigen Quintsextakkords (oder einer funktional äquivalenten Variante) löst und auf diese Weise geradezu als strahlende Epiphanie inszeniert wird, für die Bruckner in der Siebenten Symphonie nachträglich sogar die Verstärkung durch Beckenschlag und Triangel erwogen hat. Zusätzliches Indiz dieser erstaunlichen Einheitlichkeit ist die Tatsache, dass der Quartsextakkord-Durchbruch sich in mehreren Sätzen unabhängig von der Satztonika in der Tonart C‑Dur ereignet, wohl dem Inbegriff des Reinen und Strahlenden schlechthin (Dritte, Vierte, Siebente und 1. Fassung der Achten Symphonie).

Die äußerliche Symmetrie der Dreiteiligkeit wird also überlagert von einer jeweils vom Hauptthema des Satzes ausgehenden Steigerung. Es liegt eben keine symmetrische Bogenform vor. Die Abweichungen vom Umriss der Sonatenform sind indessen ebenfalls im Auge zu behalten. Da ist zunächst einmal der Tonartenplan: Jede Abteilung mit dem Zweck der steigernden Wiederkehr des Hauptthemas setzt – wie im Sonatenrondo – in der Regel in der Tonika an (eine Ausnahme bildet nur der langsame Satz der Vierten Symphonie). Und die letzte, auf den klanglichen Durchbruch zustrebende Wiederkehr des Hauptthemas stellt keine die Symmetrie der Form garantierende Reprise dar – dagegen spricht schon die Abwesenheit oder allenfalls marginale Bedeutung des gesanglichen Kontrastthemas in diesem 3. Teil. Die offenkundige Entbehrlichkeit des Kontrastthemas an dieser Stelle enthüllt retrospektiv dessen dramaturgische Funktion: Es erklingt in den ersten beiden Abteilungen des Satzes eben „nicht um seiner selbst willen, sondern um die Wiederkehr des Hauptgedankens weiter zu vertiefen.“ (Nowak, S. 163). Am angemessensten zur Bezeichnung dieser Formidee ist daher zweifellos der von Wolfram Steinbeck vorgeschlagene Begriff „strophische Sonatensatzform“ (Steinbeck 1993, S. 39).

Doch wird auch dieses Satzkonzept von Bruckner nicht starr gehandhabt; erkennbar bleibt es indessen auch in seinen Varianten. Eine Ausnahme von der strengen Adagio-Schematisierung scheint beispielsweise die Dritte Symphonie in den beiden späteren Fassungen von 1877 und 1889 zu sein. Aber gerade diese bestätigen bei näherer Betrachtung die Regel: Hier hat Bruckner durch die radikale Kürzung der 1. Fassung die gesamte 2. Abteilung mit der ersten steigernden Wiederkehr von Haupt- und Kontrastthema entfernt, so dass in den beiden Fassungen ein Satz übrigbleibt, der – wenn auch merkwürdig unproportioniert – die Dreiteiligkeit der konventionellen Bogenform suggeriert. Weitere Varianten bieten die langsamen Sätze der Vierten und der Sechsten Symphonie, weil in ihnen die 2. Abteilung unter Auslassung der „Gesangsperiode“ mit dem Hauptthema allein bestritten wird (in beiden Fällen bei Buchstabe E) und das Adagio der Sechsten zudem innerhalb der 1. Abteilung noch ein trauermarschartiges 3. Thema exponiert, das in der letzten Abteilung wiederkehrt. Dennoch gilt auch hier das Steigerungsprinzip, dem gemäß der 3. Einsatz des Hauptthemas nicht als Reprise einer Bogenform erscheint, sondern in gesteigerter Wiederkehr auf den klanglichen Höhepunkt des Satzes zielt (s. Übersicht aller Sätze bei Steinbeck 1984, S. 310). Es ist bezeichnend für Bruckners Adagio-Formauffassung, dass gerade der langsame Satz der Sechsten, der am weitesten vom Bruckner‘schen Adagio-Schema abweicht, die Matrix der „regulären“ Sonatenform durchscheinen lässt, weil man den Satz auch als Abfolge von tri-thematischer Exposition, knapper, auf das Hauptthema gestützter Durchführung (bei Buchstabe E) und durchführungsartig variierter Reprise (bei G) hören kann, in der die beiden Seitenthemen ganz regelkonform in der Tonika beginnen (bei I und K).

Vor diesem Hintergrund – der enormen Flexibilität bei grundsätzlicher Einheitlichkeit des Adagio-Modells – wird auch die gewandelte Konzeption der Neunten Symphonie greifbar. Ihr Adagio folgt zwar weiterhin der in drei Abteilungen realisierten Steigerungsidee, aber sein Durchbruch ist nun zum ersten Mal ein dezidiert thematischer. Der klangliche Höhepunkt ist identisch mit dem Ausbruch des Hauptthema-Kerns (T. 199ff.) und zielt nicht mehr auf die strahlende Erscheinung des Dur-Quartsextakkords, sondern auf die spektakulärste Dissonanz von Bruckners gesamtem Œuvre. Damit ereignet sich der Durchbruch nicht als Erfüllung, sondern eher als Katastrophe. Diese neue Konzeption hat auch Folgen für andere Teile des Satzes; so bezieht sich etwa der Beginn der 3. Abteilung nicht wie sonst auf das Haupt-, sondern auf das Kontrastthema.

Literatur
  • August Halm, Die Symphonie Anton Bruckners. München 1914
  • Lili Schalk (Hg.), Franz Schalk, Briefe und Betrachtungen. Mit einem Lebensabriss von Victor Junk. Wien 1935, bes. S. 87–92
  • Wolfram Steinbeck, Schema als Form bei Anton Bruckner. Zum Adagio der VII. Symphonie, in: Werner Breig/Reinhold Brinkmann/Elmar Budde (Hg.), Analysen. Beiträge zu einer Problemgeschichte des Komponierens. Festschrift für Hans Heinrich Eggebrecht zum 65. Geburtstag. Stuttgart 1984, S. 304–323
  • Adolf Nowak, Die Wiederkehr in Bruckners Adagio, in: Studien zu Werk und WirkungChristoph-Hellmut Mahling (Hg.), Anton Bruckner. Studien zu Werk und Wirkung. Walter Wiora zum 30. Dezember 1986 (Mainzer Studien zur Musikwissenschaft 20). Tutzing 1988, S. 159–170
  • Wolfram Steinbeck, Zu Bruckners Symphoniekonzept oder Warum ist die Nullte „ungiltig“?, in: Siegfried Kross (Hg.), Probleme der symphonischen Tradition im 19. Jahrhundert. Kongreßbericht. Tutzing 1990, S. 545–569
  • Wolfram Steinbeck, Anton Bruckner. Neunte Symphonie d-Moll (Meisterwerke der Musik 60). München 1993

HANS-JOACHIM HINRICHSEN

Zuletzt inhaltlich bearbeitet: 1.9.2017

Medien

Kategorien

Links

ACDH-CH, Abteilung Musikwissenschaft