Kopfsatz

Alle Kopfsätze in Bruckners Instrumentalmusik folgen dem Strukturprinzip der Sonatenhauptsatzform. Für die symphonischen Kopfsätze hatte sich Bruckner, wie sein Schüler Franz Schalk glaubte, „ein sehr einfaches Schema [...] zurechtgelegt“ (Schalk, S. 89), das man aber wohl weitaus angemessener als eine von Werk zu Werk perfektionierte strukturelle Matrix mit werkübergreifend konstanten Zügen beschreiben sollte. Von diesem geradezu personalstilistisch typisierten Konzept weicht nur der 1. Satz des Streichquintetts in F‑Dur mit seiner freieren Anlage, wohl bedingt durch die besondere Gattung, auffällig ab.

Im Kopfsatz (und meist auch im Finale) disponiert jede Bruckner‘sche Exposition drei im Charakter so individuelle wie in der Funktion typisierte Themen, die, gegeneinander scharf abgegrenzt, ihre je eigenen Zonen oder „Felder“ (Steinbeck 1993, S. 26) beanspruchen. Eine langsame Einleitung begegnet nur in einem einzigen der autorisierten Werke: in beiden Ecksätzen der Fünften Symphonie (und schon früher einmal, im Finale der Symphonie in d‑Moll [„Annullierte“]). Bruckner verzichtete also sehr konsequent auf sie. Dabei ist gerade die Auskomposition des symphonischen Beginnens eine unverwechselbare idiomatische Eigentümlichkeit Bruckners (möglicherweise unter dem Eindruck von Ludwig van Beethovens Neunter Symphonie, die Bruckner am 26.12.1864 oder 24.2.1867 in Wien unter Felix Otto Dessoff gehört haben dürfte). Das markante Hauptthema tritt stets p ein, meistens nach einem mehrtaktigen Klangflächen-Vorspann der tremolierenden Streicher, und es wird nicht nur einmal, sondern stets doppelt exponiert: beim zweiten Mal mit dem Ziel einer gewaltigen klanglichen und dynamischen Steigerung, die sich als erster Vorgriff auf den später zu erwartenden Satzhöhepunkt verstehen lässt. Freilich ist diese erste Steigerung in jeder Symphonie höchst individuell gestaltet; zudem gibt es in der Dritten Symphonie ein eigenes Thema für diesen ersten Höhepunkt, und in der Vierten entfällt der zweite Anlauf des Hauptthemas ganz und wird durch ein eigens für den Höhepunkt geschaffenes Thema ersetzt. Auch bilden sich diese generellen Züge der Hauptthema-Exposition erst mit der Entwicklung von Bruckners Konzept allmählich heraus, das sich um die Zweite Symphonie herum zu stabilisieren beginnt (vgl. Steinbeck 1990).

Die von Bruckner selbst so genannte „Gesangsperiode“ bildet den 2. Themenkomplex, der aber selten infolge einer zielführenden modulierenden Überleitung eintritt, sondern eher als Neuansatz nach dem – manchmal sogar durch die Zäsur einer Generalpause abgesetzten – Abebben des Hauptthemas nach dessen erstem Klangausbruch. Meistens sind die „Gesangsperioden“, deren Entwicklung sich durch Sequenzierung, Variation und Wiederholung vollzieht, als Doppelkantilenen geführt: eindrucksvolle Beispiele Bruckner‘scher Kontrapunktik. Bei allem Eigenrecht und aller Schönheit, die den Bruckner‘schen 2. Themen eignet, darf doch ihre Funktion innerhalb des Satzganzen nicht übersehen werden: Beruhigungszone nach dem ersten Höhepunkt des Hauptthemas zu sein und die Erwartung nach Wiederaufnahme des dynamischen Satzprozesses zu wecken. Der Spannungsabbau ist die Kehrseite des zu erwartenden Anlaufs zu neuer Spannung.

Diese tritt mit dem 3. Themenfeld ein, dessen Charakteristika zu seiner Bezeichnung als „Unisonothema“ (Steinbeck 1993, S. 30) geführt haben. Seine Funktion ist integrativ: Die bisher exponierten Gegensätze werden buchstäblich aufgehoben, indem das 3. Themenfeld gewisse Eigenschaften (oft, aber nicht zwingend, auch motivische Anteile) der beiden vorigen Gruppen weiterführt: die sequenzierende und manchmal auch kontrapunktische Satztechnik aus dem 2. Thema, die rhythmische Prägnanz aus dem Hauptthema. Mit dem „Unisonothema“ wird der Expositionshöhepunkt herbeigeführt, der also nun, nach dem Hauptthema, einen zweiten Vorgriff auf die finale Satzsteigerung markiert. Er fällt allerdings bezeichnenderweise nie mit dem Expositionsschluss zusammen, denn auf ihn folgt immer eine Abbau- und Beruhigungszone, die man eigentlich als 4. Themengruppe ansprechen könnte, wenn ihre Funktion nicht so vollständig von derjenigen der drei vorigen Themenfelder abwiche.

Der durch das 3. Thema herbeigeführte Expositionshöhepunkt bricht stets abrupt ab: gespannte Öffnung für noch Kommendes. Nur ausnahmsweise tritt bereits an dieser Stelle das Hauptthema wieder hervor (nur in der 2. und 3. Fassung der Dritten Symphonie); ansonsten gehört gerade der Aufschub des krönenden Hauptthema-Durchbruchs bis zum Schluss des Satzes zum Konzept. Der Sonderstatus der hierauf noch folgenden 4. Themengruppe wird daraus kenntlich, dass diese in der Reprise nicht wieder vorkommt, also am Expositionsende eine dezidiert lokale Funktion zu erfüllen hat; nur in einigen frühen Symphonien vor der endgültigen Stabilisierung des Konzepts begegnet die 4. Gruppe ausnahmsweise auch in der Reprise wieder (Symphonie in d‑Moll [„Annullierte“], Kopfsatz; Zweite Symphonie, beide Ecksätze der 1. Fassung; Vierte Symphonie, Finale der 1. Fassung). Diese gezielt auf das Expositionsende gerichtete lokale Funktion des 4. Themenfelds liegt einerseits im Spannungsabbau, der Platz schaffen soll für den in der „2. Abteilung“ neu in Gang gesetzten Prozess. Andererseits können gerade in dieser – thematisch ‚freien‘ – Zone Materialien ins Spiel gebracht werden, denen man den gleichsam ‚von außen‘ erfolgenden Eintritt offenbar anmerken soll: Zitate etwa (wie die Tristan-Anklänge im Kopfsatz der Zweiten Symphonie, die Kyrie-Zitate aus der eigenen Messe in f‑Moll in deren Finale oder auch die Anspielungen auf die „Miserere“-Rufe der Messe in d‑Moll im 1. Satz der Dritten Symphonie) oder, als besonders eindrucksvolles Beispiel, jener Choral, mit dem Bruckner in der Fünften Symphonie eine singuläre Finale-Idee gestaltete.

Im Formverlauf der Exposition (die bei Bruckner, mit der Ausnahme der bei Otto Kitzler entstandenen Symphonie in f‑Moll [„Studiensymphonie“], nicht wiederholt wird) überlagern sich also die Gestaltungsprinzipien bogenförmiger Symmetrie (mit der „Gesangsperiode“ als ihrer ruhigen Mitte) und linearer Steigerung (die vom 1. Hauptthema-Höhepunkt über das 2. Thema hinweg bis in den Klangausbruch des 3. Themas reicht). Man versteht daher die Suggestion von Ernst Kurths metaphorisch beschworener „Kraftwelle“ (Kurth, Bd. 1, S. 249), die darin besteht, dass alle durch lange Beruhigungszonen voneinander separierten Steigerungen einander bis zum Ende hin übergipfeln. Das gilt nicht nur für die Exposition, sondern für den gesamten Satz: Durchführung und Reprise („2. Abteilung“) haben die gemeinsame und in jeder Symphonie auf andere Weise realisierte Aufgabe der weiteren Steigerung. Nach dem Ende der Reprise setzt dann, mit der Coda, der für Bruckners Formkonzept entscheidende Vorgang ein (der nur in der 2. Fassung des Kopfsatzes der Achten Symphonie entfällt), der den – lang erwarteten – krönenden Durchbruch des auf seinen Motivkern reduzierten Hauptthemas bringt: Inbegriff thematischer Erfüllung und symphonischer Monumentalität zugleich. Nachträglich wurde auch der Kopfsatz der Ersten Symphonie bei seiner Umarbeitung (2. Fassung) soweit wie möglich diesem Konzept angepasst.

Wie wandlungsfähig diese schematisierte Konzeption im Einzelnen ist, zeigt nicht nur die Tatsache, dass sie erst im Verlauf der Arbeit an den frühen Symphonien entstand, sondern auch dass sie sich später gravierend veränderte. Bestes Dokument dafür ist die Neunte Symphonie, die für die Steigerungsanlage eine weitere Zuspitzung disponiert und dafür ein eigens zugerichtetes Hauptthema einsetzt: Dieses ist zweiteilig (T. 63–70, T. 71–75) und wird, anders als sonst, nur einmal exponiert, allerdings nach langer steigernder Vorbereitung gleich fff wie früher das Thema im zweiten Anlauf. An dem mit dem Durchführungsschluss überblendeten Repriseneintritt wird nur seine erste Hälfte zu monumentalem Durchbruch gebracht (T. 333ff.); auf die wiederum ins Monumentale vergrößerte zweite Hälfte (und damit den Eindruck von finalem Durchbruch und endgültiger Erfüllung synthetisierend) muss man bis zum unmittelbaren Satzabschluss warten (T. 548–567).

Zum Verständnis der groß dimensionierten Gebilde Bruckner‘scher Kopfsätze, die den Zeitgenossen oft genug in unvereinbare Einzelereignisse auseinanderbrachen, ist es unabdingbar, bisher nicht gekannte Kategorien in das Repertoire formbildender Maßnahmen aufzunehmen. Sachverhalte wie Auf- und Abbau von Spannung, die auch über die Generalpausen hinwegreichen können, lassen sich schwer mit nur technischen Kategorien beschreiben; sie sind eher physikalischer oder sogar psychologischer Natur. Doch ist alles, was Bruckner an Klang, Dynamik, Schroffheit der Kontraste und Proportionen aufbietet, in einem präzisen technischen Sinne auf die Erzielung dieses wellenförmig verlaufenden Steigerungs- und Spannungseffekts hin kalkuliert. Daraus ergibt sich, dass das „Schema“ (Schalk) und die „Kraftwelle“ im Grunde genommen zwei Seiten derselben Medaille sind, die sich zu einem Gestaltungskonzept von hoher Plausibilität zusammenschließen.

Literatur
  • Ernst Kurth, Bruckner. 2 Bde. Berlin 1925
  • Lili Schalk (Hg.), Franz Schalk, Briefe und Betrachtungen. Wien 1935, bes. S. 87–92
  • Wolfram Steinbeck, Zu Bruckners Symphoniekonzept oder Warum ist die Nullte „ungiltig“?, in: Siegfried Kross (Hg.), Probleme der symphonischen Tradition im 19. Jahrhundert. Kongreßbericht. Internationales Musikwissenschaftliches Colloquium Bonn 1989. Tutzing 1990, S. 545–569
  • Wolfram Steinbeck, Anton Bruckner. Neunte Symphonie d-Moll (Meisterwerke der Musik 60). München 1993

HANS-JOACHIM HINRICHSEN

Zuletzt inhaltlich bearbeitet: 1.9.2017

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