Lemberg (Lwiw)

Stadt in der westlichen Ukraine. 1772–1918 Hauptstadt des Königreichs Galizien und Lodomerien und viertgrößte Stadt der Habsburgermonarchie. 2015: ca. 728.000 EW.

Die ersten dokumentierten Aufführungen der Werke von Bruckner in Lemberg sind mit der Tätigkeit von Mieczyslaw Soltys (1863–1929) als Direktor des Galizischen, ab 1919 Polnischen Musikvereines und des Konservatoriums in den Jahren 1899–1929 verbunden. Mit den Kräften der ortsansässigen Musiker wurden unter seiner Leitung das Te Deum, sowie die Vierte und Siebente Symphonie aufgeführt. In der Bibliothek der Lemberger Nationalen Lyssenko-Akademie für Musik werden die Partituren der Bruckner‘schen Symphonien mit autografen Bemerkungen von M. Soltys aufbewahrt. Von der Anerkennung der Musik Bruckners durch die intellektuelle Elite Lembergs um die Jahrhundertwende zeugt der Artikel Anton Bruckner des Musikwissenschaftlers Adolf Chybinski (1880–1952) in der polnischen Zeitschrift Unser Land (Nasz kraj [1907] H. 1, S. 5). Chybinski bezeichnete Bruckner als „Sänger der Alpennatur“, betonte die „gesunde Religiosität“ des Komponisten und charakterisierte ihn als „zweiten Schubert, welcher sich einen mächtigen Apparat des Wagnerschen Orchesters aneignete“.

In der ersten Saison des Lemberger Symphonieorchesters 1902/03 fanden zwei Konzerte mit Werken Bruckners statt: Im ersten Konzert am 23.11.1902 wurde vom Symphonieorchester und dem Konservatoriumschor unter der Leitung von M. Soltys und Ludwig Czelanski (1870–1931) im Stadttheater das Te Deum aufgeführt; im zweiten Konzert wurde neben dem Auftritt der Sängerin Selma Kurz (1874–1933), die Opernarien und Lieder von Ambroise Thomas (1811–1896), Giuseppe Verdi (1813–1901), Giovanni Battista Pergolesi (1710–1736), Ignaz Brüll (1846–1907) und Jan Karol Gall (1856–1912) sang, unter der Leitung von Czelanski auch Bruckners Dritte Symphonie gespielt.

In 1920er und 1930er Jahren setzte der nächste Leiter des Polnischen Musikvereines, der Sohn von M. Soltys, Adam Soltys (1890–1968), die Tradition der Bruckner‘schen Werke in Lemberg fort. In der Zwischenkriegszeit wurden die Vierte, Siebente, Achte und Neunte Symphonie sowie das Te Deum durch das Symphonieorchester der Lemberger Philharmonie und den Konservatoriumschor aufgeführt, 1936 erneut die Vierte und Neunte Symphonie.

Beachtenswert sind die Erinnerungen des ukrainischen Musikethnologen Philaret Kolessa (1871–1947), der in Lemberg wirkte und 1891/92 in Wien bei Bruckner studierte (Schülerinnen und Schüler; die Inskription einer Bruckner’schen musiktheoretischen Lehrveranstaltung an der Universität Wien ist mittels Inskriptionsblatt bislang nicht nachweisbar). Kolessas Sohn Mykola (1903–2006) erinnerte sich: „Mein Vater [...] studierte zuerst in Wien am Priesterseminar, verließ es aber bald und hörte die Vorlesungen an der Wiener Universität, vor allem die musik-theoretischen Vorlesungen des berühmten Anton Bruckner. Zu Hause erinnerte er sich an seinen Aufenthalt. Er wohnte nicht weit von ihm und beobachtete jeden Morgen, wie Bruckner mit dem kleinen Körbchen mit verschiedenen Gemüsen vom Markt zurückkehrte. Bruckner lebte im Alter allein, an große Bescheidenheit gewöhnt“ (zit. n. Kyyanovska 2003, S. 52).

Zu sowjetischen Zeiten wurden die Werke von Bruckner in Lemberg sehr selten aufgeführt, obwohl sein Schaffen in das Lehrprogramm der Musikakademien und Konservatorien aufgenommen worden war. In den letzten Jahren werden wieder – vor allem durch die Belebung der ukrainisch-österreichischen Kulturbeziehungen – Werke von Bruckner in die Lemberger Konzertprogramme aufgenommen. So führte z. B. das Symphonieorchester der Lemberger Philharmonie am 19.6.2009 die Vierte Symphonie unter der Leitung von Peter Gülke auf. Am 16.11.2009 brachten der Lemberger Chor Trembita (Leiter Mykola Kulyk) und das Orchester des Westlichen Zentrums der Militärmusikalischen Kunst (Leiter Oberst Mykola Oratsch) unter der Leitung von Oleksij Bashenov die Messe in e‑Moll auf die Bühne. Das Ave Maria (WAB 6 [?]) von Bruckner zählt zum Repertoire des Lemberger Knabenchors Dudaryk (Leiter Mykola Kacal).

Literatur
  • Adolf Chybinski, Anton Bruckner, in: Nasz kraj (1907) H. 1, S. 5
  • Magdalena Dziadek, Polnische Musikkritik in den Jahren 1890–1914. Die Zeitschriften und Autoren. Cieszyn 2002, S. 336
  • Lyubov Kyyanovska, Sohn des Jahrhunderts Mykola Kolessa. Lwiw 2003, S. 52
  • Leszek Mazepa/Teresa Mazepa, Der Weg zur Musikakademie in Lwiw. B. 1. Von der Periode der Stadtmusiker bis zum Konservatorium (Anfang des 15. Jahrhunderts bis 1939). Lwiw 2003, S. 148–155, 228
  • Olena Drashnycja, Lemberger Philharmonie (1902–1903): Entstehung, Interpreten, Repertoire im Spiegel der Presse. Masterarb. Lwiw 2005
  • Luba Kyyanovska, Art. „Lemberg (deutsch für ukrainisch L’viv)“, in: www.musiklexikon.ac.at [7.9.2020]
  • www.demos.ac.at [7.9.2020]

LUBA KYYANOVSKA

Zuletzt inhaltlich bearbeitet: 7.9.2020

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