Musiktheorie

Seit dem späten 19. Jahrhundert Sammelbezeichnung für Fächer der musikalischen Satzlehre, als deren wichtigste sich Harmonielehre und Kontrapunkt in der Ausbildung an Musikschulen und Konservatorien etabliert haben. Harmonielehre behandelt Aufbau und Verbindung von Akkorden im tonalen Satz und deren Beziehung zueinander. Kontrapunkt umfasst als Unterrichtsfach die Schichtung von gleichberechtigten Stimmen im Sinne des Intervallsatzes, weiters polyphone Satztechniken wie Kanon und fugierte Schreibweise.

Bruckner befasste sich bei seinem zweiten Aufenthalt in St. Florian eingehend mit Fugentechnik. 1845–1855 studierte er autodidaktisch Friedrich Wilhelm Marpurgs (1718–1795) Abhandlung von der Fuge und kopierte eine Reihe von Fugen aus Kirchenmusik von Antonio Caldara (1670–1736), Franz Joseph Aumann, Joseph Haydn, Johann Georg Albrechtsberger, Michael Haydn, Wolfgang Amadeus Mozart, Joseph Leopold Eybler u. a. Die in der älteren Literatur behauptete frühzeitige Beschäftigung Bruckners mit Johann Sebastian Bach (vgl. Göll.-A. 1, S. 92, 166f., 220f.; Haas, S. 11) wird heute angezweifelt; eine intensive Auseinandersetzung mit Bachs Kontrapunktik hat wohl erst in der Studienzeit bei Simon Sechter eingesetzt. Dass Bruckner bereits in Hörsching und Windhaag Klavierfugen Albrechtsbergers studierte, ist ebenfalls nicht sicher. Bei Johann August Dürrnberger erhielt Bruckner 1840/41 den ersten systematischen Harmonielehreunterricht. Aus Dürrnbergers Elementar-Lehrbuch der Harmonie- und Generalbaß-Lehre, das laut Untertitel als Leitfaden zu den öffentlichen Vorlesungen diente, gehen Umfang und Anordnung des Lehrstoffs hervor. Einem umfangreichen theoretischen Teil folgt ein dem Generalbassspiel (Generalbass) gewidmeter praktischer Anhang. Ähnlich wie Marpurg (dessen Handbuch bey dem Generalbasse und der Composition zu studieren Dürrnberger seinem Schüler Bruckner empfahl und ermöglichte [vgl.  Göll.-A. 1, S. 200]) beschränkte sich der Autor auf einen Teilbereich der Theorie Jean-Philippe Rameaus (1683–1764). Das Prinzip der Akkordumkehrungen („Verwechslung“, „Umwendung“), das erlaubt, sämtliche Klänge auf wenige Stammakkorde zurückzuführen, wird breit ausgeführt, während dessen logische Ergänzung, die Lehre vom Fundamentalbass, ausgeklammert bleibt. Nach dem Vorbild Marpurgs schuf Dürrnberger auch für solche Akkorde im harmonischen System Platz, die sich einfacher als Resultat der Stimmführung, als Durchgangs- oder Vorhaltsakkorde, erklären lassen.

Sechter machte sich dagegen Johann Philipp Kirnbergers (1721–1783) Unterscheidung von Akkord- und Stimmführungsdissonanzen zunutze. Indem er „zufällige“ oder „gekünstelte“ Akkorde als Phänomene der Stimmführung aus dem harmonischen System ausschloss, fand er mit zwei Arten von Stammakkorden, Dreiklängen und Septakkorden, das Auslangen. Selbst die Non in „Septnonaccorden“ wurde von Sechter als ein die Oktave vertretender Vorhalt verstanden, der erst nach dem Wechsel des Fundaments aufgelöst werden muss. Marpurg und Dürrnberger kannten darüber hinaus noch Undezimen- und Tredezimenakkorde samt deren Umkehrungen, Intervallkonstellationen, in denen nach Sechters Auffassung Akkordtöne mit Vorhalten oder Durchgangstönen zusammentreffen. Die neue Qualität, die Bruckner an Sechters Lehre bewunderte, besteht neben der Differenzierung der Dissonanzen in harmonische und melodisch-kontrapunktische Phänomene v. a. darin, dass Sechter im Anschluss an Rameau ein System möglicher Akkordfortschreitungen entwarf. Das zentrale Axiom der Fundamentalbasstheorie besagt, dass Akkordaufbau und Akkordprogression auf denselben beiden Intervallen beruhen, Terz und Quint. Die Folge der Akkordgrundtöne bestimmt die Art der Klangverbindung, in welcher Vorbereitung und Weiterführung der einzelnen Akkordtöne genau festgelegt sind. Der „Schlussfall“ V–I bildet als wichtigste Akkordfolge das Modell für sämtliche Verbindungen mit fallendem Quintsprung im Fundament wie auch für solche mit „scheinbar“ steigendem Sekundschritt, die durch Interpolation eines „Zwischenfundaments“ auf das Modell zurückgeführt werden. Bruckners eigene Lehrtätigkeit lehnte sich in Inhalt und Aufbau eng an sein mehrjähriges Studium bei Sechter an. Der Fundamentalbasstheorie, deren Wiener Tradition Bruckner der Generation von Arnold Schönberg (1874–1951) und Heinrich Schenker vermittelte, widmete er im Unterricht den größten Raum. Für ähnlich ausführliche Kontrapunktübungen, in denen die Johann Joseph Fux‘sche (um 1660–1741) Gattungslehre, ein- und mehrfacher Kontrapunkt, Kanon und Fuge – nach Sechters Vorbild stets unter Zugrundelegung von harmonischen Fundamenten – behandelt wurden, blieb nur im Privatunterricht genügend Zeit, während dieser Bereich der Satzlehre in den Vorlesungen an der Universität Wien lediglich gestreift wurde.

Die Deutung der Akkorde aus ihrem unmittelbaren Kontext heraus – die Funktion eines Klanges ergibt sich aus seiner Weiterführung –, die Herleitung der Chromatik aus der Diatonik und die Annahme einer falschen Quint über der II. Stufe in Dur gehören zur geistigen Hinterlassenschaft Sechters, dessen Autorität in musiktheoretischen Belangen Bruckner immer wieder betonte. Indem Bruckner zur Herleitung von Zusammenklängen die Stimmführung in viel geringerem Ausmaß als sein Lehrer heranzog, entfernte er sich von dessen Position allerdings in wesentlichen Punkten. Im Gegensatz zu Sechter interpretierte er den Vorhaltsquartsextakkord als bloße Dreiklangsumkehrung und er akzeptierte Nonen- sowie gelegentlich auch Undezimen- und Tredezimenakkorde als selbständige Klänge. Bruckner griff dadurch einerseits auf Dürrnberger und die Marpurg-Tradition zurück und wies andererseits auf Schönbergs Polemik gegen sogenannte „harmoniefremde“ Töne und die Idee einer allmählichen Emanzipation der Dissonanz voraus.

Art und Umfang seines Unterrichts lassen sich aus Berichten und Vorlesungsmitschriften seiner Schüler Viktor Christ, Ernst Decsey, Friedrich Eckstein, August Göllerich, Karl Heissenberger, Friedrich Klose, Rafael Loidol, Johann Müller, Josef Schalk, Richard Schultz (1863–1928), Ernst Schwanzara, Carl Speiser und Josef Vockner erschließen.

Literatur

MARTIN EYBL

Zuletzt inhaltlich bearbeitet: 2.3.2022

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