Kremsmünster, Stift
Benediktinerstift und (seit 1489) Markt im Kremstal in Oberösterreich. Zur Zeit Bruckners: ca. 3.400, 2019: ca. 6.500 EW.
Das Stift, 40 Meter auf einer Terrasse über dem Markt gelegen, wurde 777 vom Bayernherzog Tassilo III. (ca. 741–ca. 796) gegründet. Es ist bekannt durch die weitläufige Anlage seiner vorwiegend barocken Bauten, seine reichen kunst- und naturhistorischen Sammlungen, die barocke Sternwarte (1758 vollendet), seine Schauräume (Kirche, Kaisersaal, Bibliothek, Fischbehälter und Schatzkammer mit „Tassilokelch“) und sein Gymnasium (seit 1549). Seit dem Beginn des 17. Jahrhunderts ist eine überaus vielseitige und aufwendige Musikpflege belegt. Ein reichhaltiges Musikarchiv („Regenterei“) mit etwa 10.000 Archivalien und rund 60 historischen Musikinstrumenten (darunter Kammerorgel von 1587) zeugen heute noch davon. Unter den verhältnismäßig zahlreichen komponierenden Patres ist der bedeutendste Georg Pasterwiz (1730–1803).
Bruckner war durch Jahrzehnte mit Kremsmünster eng verbunden. Die ersten Kontakte zwischen dem damaligen Schulgehilfen in St. Florian und dem Stift Kremsmünster ergaben sich bald nach 1845. Im Frühjahr 1848 bot man Bruckner eine Lehrstelle für Klavier an der dem 1804 errichteten k. k. Konvikt angeschlossenen Musikschule an. Bruckner nutzte das Angebot möglicherweise als Druckmittel gegenüber St. Florian, entschied sich aber für den provisorischen Posten des Stiftsorganisten in St. Florian.
Das auf den Tod von Bruckners Freund und Förderer Franz Sailer geschriebene und am 15.9.1849 in St. Florian uraufgeführte Requiem in d-Moll (WAB 39) wurde bereits am 11.12.1849, dem sogenannten „Stiftertag“ (Todestag von Tassilo III.), in Kremsmünster aufgeführt. Der Chronist P. Theodorich Hagn (1816–1872) vermerkte: „11. Dezember 1849. Stiftertag. Es wurde ein Requiem von einem Schulgehilfen zu St. Florian, Bruckner, aufgeführt. Es fiel sehr gut aus. Der 25jährige junge Mann ist Virtuos auf der Orgel. Nach der Vesper produzierte er sich. Er und seine Begleiter waren zur Tafel geladen.“ (Kellner 1956, S. 675). Bruckner erntete für seine Totenmesse und für sein Orgelspiel viel Lob und Anerkennung. Ein achtstimmiges Libera mit Bläsern und Pauken des zwei Jahre vorher verstorbenen Regens chori Gunther Kronecker (1803–1847), das Bruckner am Stiftertag 1849 zu hören bekam, bezeichnete er als „geniale Komposition“ (Kellner 1956, S. 648).
Über die Jahre 1850–1877 wissen wir wenig bezüglich Kontakten zwischen Bruckner und Kremsmünster. Es ist belegt, dass Bruckner wiederholt im Stift zu Gast war und sich 1866 den Klavierauszug von Felix Mendelssohn Bartholdys Elias ausborgte. Andererseits jedoch absolvierten zumindest seit 1850 die Kleriker von Kremsmünster ihre theologischen Studien an der Hauslehranstalt des Stiftes St. Florian, und es ist kaum denkbar, dass sie nicht gelegentlich dem Stiftsorganisten Bruckner begegneten, vor allem aber sein Orgelspiel hören und bewundern konnten – und dies wohl auch nach 1856, als Bruckner bereits Domorganist in Linz war, und ebenso nach 1868, da Bruckner zwar in Wien wirkte, dennoch aber immer wieder einmal in St. Florian weilte und bei besonderen Anlässen hier die Orgel spielte.
Im Jahr 1877 beging das Stift Kremsmünster das Jubiläum seines 1.100-jähringen Bestehens. Der seit 1874 amtierende Regens chori P. Georg Huemer (1837–1908) – von ihm sind ca. 120 Kompositionen erhalten – plante ursprünglich, beim Hauptgottesdienst am 18.8. Bruckners Messe in d-Moll aufzuführen. Bruckner übersandte ihm die Partitur der Messe am 1.3.1877 und drückte im Begleitschreiben seine Freude über das Vorhaben aus: „Die D Messe (No 1) erhalten Euer Hochwürden hiemit, und wie groß meine Freude sein würde, selbe […] in Kremsmünster hören zu können, glaube ich kaum versichern zu dürfen.“ (Briefe I, 770301). Huemer dürfte den Mut verloren haben, diese anspruchsvolle Messe aufzuführen, vielleicht entsprach sie auch nicht ganz seinem persönlichen Geschmack. Jedenfalls entschied er sich für Ludwig van Beethovens Messe in C-Dur – lud aber immerhin Bruckner ein, beim Hochamt die Orgel zu spielen. Vom Orgelspiel Bruckners am 18.8. berichtete der Chronist P. Wisinto Hartlauer: „Bei dieser Aufführung wirkten neben den Stiftsmusikern auch ausgezeichnete fremde Kräfte mit. So spielte die Orgel der bekannte Altmeister Herr Anton Bruckner, Hoforganist und Professor am musikalischen Konservatorium in Wien. In das Präludium vor dem Kyrie verwebte er 1. das Thema des Hornsolo im Kyrie der Beethovenmesse, 2. das Alleluja aus ,Messias‘ von Händel, 3. das Thema des ‚Alles was Odem hat‘ aus dem Lobgesang von Mendelssohn und 4. das Kaiserlied.“ (Kellner 1956, S. 729). Was Hartlauer, der kein Musikfachmann war, mit „verwebte“ präzise gemeint hat, wissen wir leider nicht. Es kann jedoch angenommen werden, dass Bruckner eine kontrapunktische Meisterleistung bot – vielleicht sogar ähnlich dem Finale der Fünften Symphonie. Auf jeden Fall zeigten sich die Zuhörer von seinem Spiel tief beeindruckt.
Wirklich intensiv gestalteten sich Bruckners Beziehungen zu Kremsmünster durch seine Freundschaft mit dem jungen P. Oddo Loidol, der im Herbst 1880 Wien verließ und in Kremsmünster als Novize aufgenommen wurde. Zur Primiz widmete Bruckner ihm die Motette Christus factus est (WAB 11) – nachträglich auch das Locus iste – und spielte beim Primizamt die Orgel.
Überraschend oft folgte Bruckner in den Jahren 1883–1893 Loidols Einladungen (Urlaube). Kam Bruckner zu Besuch, wurde er mit der Equipage des Abtes vom Bahnhof abgeholt. Er wohnte im Gasttrakt Zimmer Nr. 2 und speiste mit den Patres im Refektorium. Die freie Zeit nützte man häufig für einen Ausflug in die Umgebung, im Winter verbrachte man sie gern auf dem Wassergraben mit Eisstockschießen, das Bruckner liebte und gut beherrschte, oder einfach mit zwangloser Unterhaltung im Kreis der Mönche. Was Bruckner an diesen besonders angesprochen haben mag, war die Mischung von bäuerlicher Schlichtheit, gediegener Bildung und toleranter Güte – alles auf dem Fundament einer selbstverständlichen, unkomplizierten Gläubigkeit. Kaum einmal ließ man Bruckner wieder ziehen, ohne dass dieser an der 1878 vollendeten Mauracher-Orgel ein Konzert gegeben hätte.
Außer Loidol und Huemer waren noch die Patres Romuald Lang (1821–1896), Siegmund Fellöcker (1816–1887) und Sebastian Mayr (1845–1934) mit Bruckner befreundet (Geistliche).
Das auf Wunsch von Josef Diernhofer, den Bruckner auf seiner Reise nach Bayreuth kennen gelernt hatte, in St. Florian komponierte Präludium für Harmonium in C-Dur („Perger Präludium“) wurde am 21.8.1884 in Kremsmünster fertiggestellt und am nächsten Tag in der Stiftskirche uraufgeführt.
Bruckner-Handschriften in Kremsmünster
Sämtliche
Bruckner-Autografe,
die sich noch im Besitz des Stiftes Kremsmünster befinden (oder sich je befanden),
sind als Geschenke Bruckners für Loidol an das Stift gekommen. Leider stellte Loidol
selbst dem von Bruckner autorisierten Biografen
August Göllerich
einen Teil der von Bruckner empfangenen Handschriften zur Verfügung, ohne schriftlich
festzuhalten, was Göllerich von ihm übernommen hatte. Nach dem Tod Loidols kamen sie
nicht wieder an das Stift zurück, sondern nach Göllerichs Tod mit seinem übrigen
Nachlass an die Österreichische Nationalbibliothek, wo sie sich heute noch befinden. Zu
einem Gutteil handelt es sich bei den noch im Stift befindlichen Autografen um
unvollständige Entwürfe und
Skizzen:
Missa solemnis | Partitur-Autograf von 1854. Kyrie fehlt. |
Messe in d-Moll | Skizze eines Konzepts „judicare“, Skizze zu „Qui cum Patre“. |
Messe in e-Moll | Erste Entwürfe, beginnend mit dem Amen-Thema des Gloria. |
Messe in f-Moll | Entwürfe zum Gloria und Credo (vom „judicare“ an). Bruchstücke des Credo mit Vermerk von der Hand Bruckners „Skizze 27. Nov. 1867 – Linz, den 13. Febr. 1868 – 15. Febr. 1868 ganz fertig. Anton Bruckner“. |
Afferentur | Partitur-Autograf, 1. Niederschrift. |
Te Deum | 2 Arbeitspartituren (keine Reinschrift). 1. Fassung, datiert 17.5.1881, 3.5.1881. 10 Bögen und 1 Blatt. Spätere Fassung (ohne Datum, 5 Bögen). |
Germanenzug | Vollständige Partitur (6 Bögen und 1 Blatt). Harmonie-Partitur (3 Bögen). Klavierauszug (1 Bogen). |
Ouvertüre in g-Moll | Vorsatzbogen mit „Introduction“. 7 Bögen (dazu einer von der Hand Göllerichs). Datiert „Linz 4. Jänner 1863“. 2 Bögen (9 und 10) in 2. Bearbeitung. Datiert „Linz 22. Jänner 1863. A. Bruckner“. Dazu: „Begutachtet Otto Kitzler.“ |
Symphonie in f-Moll | 32 Bögen, 1 Blatt. Vom 1. Satz fehlt der Schluss (T. 581–625). Datierung: „Angef. 15. Febr. 1863 Faschingsonntag. Geschlossen die Symphonie 26. Mai 1863. Pfingstdienstag (3 ½ Monate)“. |
Dritte Symphonie | Scherzo: Bogen 4. Finale: Bögen 9, 10, 12, 16, 17. Erste Entwürfe (7 Blätter). |
Vierte Symphonie | Scherzo: Bögen 2, 3, 4, 6. Datum zum Schluss: „Wien, 20. Nov. 1878 Anton Bruckner“. Finale: 1 Bogen. Datum: „1. Aug. 1878.“ |
Sechste Symphonie | 1. Satz: 4. Bogen. Adagio: 7. Bogen. Finale: 2. Bogen (dreimal), 5. Bogen, 7. Bogen (zweimal) und 10. Bogen. |
Siebente Symphonie | vom Finale Bögen 3, 4, 7. |
Achte Symphonie | 1. Satz: Bögen 1, 2, 4, 5, 6, 7, 8, 9, 10. Ebenfalls 1. Satz: Bögen 1, 2, 3, 4, 6, 10, 11, 12. Finale: erste Entwürfe (2 Bögen). Partitur Hochformat: Bögen 1, 2, 3, 4a, 4b, 6; „zum 13. Bogen“ (dreimal); „zum 18. Bogen“; Bögen 20, 21, 22, 23, 24, 26, 27, 28, 29, 31, 32. Datum auf Bogen 32: „12. Aug. abends“; weiters: Bögen 3, 4, 5, 10; dazu lose Blätter mit Entwürfen (4 Bögen, 6 Blätter). |
1 Notenblatt (3 Streifen Notenpapier) mit Skizzen zum Orgelkonzert am 21.8.1884 in der Stiftskirche. |
Eine Anzahl von Archivalien (frühe Abschriften, Erstdrucke, Widmungsexemplare) tragen den eigenhändigen Namenszug Bruckners, manchmal verbunden mit einer knappen Bemerkung oder mit der genauen Datierung der Komposition.
Literatur
- Altman Kellner, Musikgeschichte des Stiftes Kremsmünster. Kassel 1956
- Altman Kellner, Profeßbuch des Stiftes Kremsmünster. Klagenfurt 1968
- Alfons Mandorfer, Brucknerfreunde unter den Patres von Kremsmünster, in: 139. Jahresbericht des Öffentlichen Stiftsgymnasiums Kremsmünster. Kremsmünster 1996, S. 39–56
- Helmut Windischbauer, Oddo Loidol. Leben und Werk. Diss. Wien 2006
- Altman Pötsch, Marginalien zum Thema Bruckner und Stift Kremsmünster, in: ABIL-MitteilungenABIL-Mitteilungen. Hg. v. Anton Bruckner Institut Linz. Linz 2008ff. Nr. 11 (Juni 2013), S. 6–10
- Andrea Harrandt, Anton Bruckner im Kremstal, in: Bruckner-Tagung 2016Andreas Lindner/Klaus Petermayr (Hg.), Bruckner-Tagung. Musik im Kremstal und Anton Bruckner. Kremsmünster, Schloss Kremsegg, 2. und 3. Juni 2016. Bericht (Bruckner-Vorträge). Linz 2018, S. 99–110
- https://stift-kremsmuenster.net/ [13.7.2020]
- Rudolf Flotzinger, Art. „Kremsmünster“, in: www.musiklexikon.ac.at [13.7.2020]