Stille Betrachtung an einem Herbstabende (WAB 123,2)
Charakterstück für Klavier zu zwei Händen in fis‑Moll, „Feierlich ruhig“
EZ: | 10.10.1863 in Linz |
W: | Emma Thanner („Fräulein Emma Thanner gewidmet […]“) |
UA: | ? |
Aut.: | ÖNB‑MS (Mus.Hs.3161) |
ED: | Göll.-A.August Göllerich/Max Auer, Anton Bruckner. Ein Lebens- und Schaffensbild (Deutsche Musikbücherei 36–39). 4 Bde. (in 9 Teilbänden [1, 2/1–2, 3/1–2, 4/1–4]). Regensburg 1922–1937, unveränd. Nachdruck 1974 3/2, S. 217f. (1930; Faksimile) |
NGA: | Band XII/2 (Walburga Litschauer, 1988) mit Revisionsbericht (in verbesserter Aufl. 2000) |
Der mit der ausgeführten Fassung zusammen überlieferte Entwurf trägt den Titel „Herbstseufzer“. Der melodische Verlauf ist vollständig ausgearbeitet, das Bassmodell hingegen nur im 1. Takt notiert. Vermutlich stammt der Entwurf aus der Unterrichtszeit bei Otto Kitzler und wurde später für die Klavierschülerin ausgearbeitet (Schülerinnen und Schüler). Das Autograf des ausgearbeiteten Stückes zeigt jedoch keinerlei Eintragungen von Bruckners Hand, die darauf hindeuten würden, dass es im Klavierunterricht (Lehrtätigkeit) tatsächlich Verwendung fand. Emma Thanner, die von Bruckner zwischen 1857 und 1863 einmal pro Woche unterrichtet wurde, hat dieses Stück nach eigener Aussage auch nie erlernt (Göll.-A. 3/1, S. 218).
Nach Othmar Wessely lässt das Stück in Tonart (Tonartencharakteristik), Taktart und Grundgestus Felix Mendelssohn Bartholdys Venetianisches Gondellied (op. 30/6 der Lieder ohne Worte) als Vorbild erkennen. Überdies ergibt sich diastematisch ein deutlicher Bezug zum Vorbild, da dessen Themenkopf a‑h‑cis bei Bruckner als variables Grundmotiv (Motivik) fungiert, wobei die Einzeltöne in Umgruppierungen auftreten (Partsch, S. 155). Anders ist hingegen die Form angelegt (A‑B‑A‘). Der Mittelteil zeigt satztechnisch und metrisch ein verändertes Bild, ehe über eine absteigende Skala und in sich kreisende Drei-Achtel-Figuren mit Orgelpunkt D in der Mittelstimme die Reprise erreicht wird.
Als programmatische Idee liegt Bruckners Klavierkomposition nach Aussage ihrer Widmungsträgerin (Göll.-A. 3/1, S. 218f.) deren vergebliche Erwartung ihres Geliebten zugrunde.
Literatur
- Göll.-A.August Göllerich/Max Auer, Anton Bruckner. Ein Lebens- und Schaffensbild (Deutsche Musikbücherei 36–39). 4 Bde. (in 9 Teilbänden [1, 2/1–2, 3/1–2, 4/1–4]). Regensburg 1922–1937, unveränd. Nachdruck 1974 3/1, S. 215–220
- Othmar Wessely, Bruckners Mendelssohn-Kenntnis, in: Bruckner-Studien 1975Othmar Wessely (Hg.), Bruckner-Studien. Festgabe der Österreichischen Akademie der Wissenschaften zum 150. Geburtstag von Anton Bruckner (Veröffentlichungen der Kommission für Musikforschung/Philosophisch-Historische Klasse 16). Wien 1975, S. 81–112
- Walburga Litschauer, Bruckner und das romantische Klavierstück, in: Bruckner‑Symposion 1987Bruckner-Symposion. Bruckner und die Musik der Romantik. Im Rahmen des Internationalen Brucknerfestes Linz 1987. 16.–20. September 1987. Bericht. Hg. v. Anton Bruckner Institut Linz/Linzer Veranstaltungsgesellschaft mbH. Linz 1989, S. 105–110
- Erich Wolfgang Partsch, Stille Betrachtung an einem Herbstabende. Anmerkungen zu einem Klavierstück Anton Bruckners aus der Linzer Zeit, in: Streifzüge 1 (2007)Klaus Petermayr/Erich Wolfgang Partsch (Hg.), Streifzüge. Beiträge zur oberösterreichischen Musikgeschichte 1 (Oberösterreichische Schriften zur Volksmusik 5). Linz 2007, S. 153–158
- Andreas Jacob, Die Klavier- und Orgelwerke, in: Bruckner-Handbuch 2010Hans-Joachim Hinrichsen (Hg.), Bruckner-Handbuch. Stuttgart–Weimar 2010, S. 322–332