Fuge in d‑Moll (WAB 125)
Fuge für Orgel, „alla breve“
EZ: | Skizze 6.–7.11.1861, Reinschrift 8.11.1861 in Linz |
UA: | eventuell schon (teilweise?) am 21.11.1861 in Wien, Piaristenkirche (Orgelprüfung; Bruckner), mit ziemlicher Sicherheit aber am 30.7.1862 in Linz, Stadtpfarrkirche (Primiz von Ferdinand Kerschbaum; Bruckner) |
Aut.: | ÖNB‑MS (Mus.Hs.3167, Skizze); Diözesanbibliothek Münster, Santini-Sammlung (Hs.4463, Reinschrift) |
ED: | Franz Gräflinger, Anton Bruckner. Bausteine zu seiner Lebensgeschichte. München 1911, bei S. 87f. (Reinschrift, mit geändertem vorletztem Takt); Göll.-A.August Göllerich/Max Auer, Anton Bruckner. Ein Lebens- und Schaffensbild (Deutsche Musikbücherei 36–39). 4 Bde. (in 9 Teilbänden [1, 2/1–2, 3/1–2, 4/1–4]). Regensburg 1922–1937, unveränd. Nachdruck 1974 3/2, S. 189f. (Skizze; Faksimile) |
NGA: | Band XII/6 (Erwin Horn, 1999) und Revisionsbericht (2001) |
Die 76-taktige Skizze der Fuge in d‑Moll entstand in Linz gemäß eigenhändig vermerktem Datum am „Mittwoch 6. u Donnerstag 7. November 861“. Die einen Tag später entstandene Reinschrift datierte Bruckner nach dem Schlusstakt: „Linz 8. November 1861 Anton Bruckner m. p.“. Die Niederschrift der Komposition ist eingebunden in das Konvolut von Bruckners kontrapunktischen Studien bei Simon Sechter (1855–1861). 60 Lektionen vom 16.4.1860 bis 25.3.1861, die – in zwei Systemen auf zwölfzeiliges Notenpapier geschrieben – Übungen im Canon und in der Fuge enthalten, wobei Bruckner teilweise Vorlagen aus Sechters Lehrbuch benutzte und variierte. Die Sammlung ist ergänzt um Nachträge mit vollständig ausgearbeiteten Fugen, darunter auch WAB 125.
Anlass für die Komposition der Orgel-Fuge war die von Bruckner am 29.10.1861 selbst beantragte Prüfung zur Erlangung des Titels „Professor der Harmonielehre und des Contrapunktes“ durch eine Kommission des Konservatoriums der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien, die den Probanden für den 19. und 21.11.1861 zur theoretischen wie praktischen Präsentation seines Könnens einbestellte und zuvor um die Vorlage einiger Kompositionen bat. Am 10.11.1861 schickte Bruckner eine Auswahl nach Wien mit der Erklärung: „Um dem Wunsche des Hochlöblichen Direktoriums zu entsprechen ist der Gefertigte so frei, hiermit einige contrap[unktische] Ausarbeitungen zu übersenden. Die letzten Arbeiten‚ Fugen etc. werde er selbst am Morgen des 19. November so frei sein zu überbringen, wie er auch alle früheren Arbeiten vorzulegen sich erlauben wird.“ (Briefe I, 611110). Diese Kompositionen, inklusive der Fuge in d‑Moll, waren so überzeugend, dass man sogleich davon abkam, Bruckner theoretische Fragen zu stellen. So konnte Bruckner am 21.11.1861 in der Wiener Piaristenkirche seine genialen Improvisationsfähigkeiten über ein von Johann Herbeck um einige Takte verlängertes Fugenthema von Sechter unter Beweis stellen. Bruckner selbst beschreibt es rückblickend: „Endlich spielte ich, da das Thema im Baß lag, das Fugenthema frisch an und führte es als freie Fuge durch. Beim Orgelpunkt, der stets mein Lieblings-Element war, indem sich dort die größten Steigerungen und Freiheiten anbringen lassen, ließ ich mich zum Erstaunen aller aufs kühnste aus.“ Begeistert kommentierte Herbeck: „Er hätte uns prüfen müssen!“ (Göll.-A. 3/1, S. 116f.). Da die Charakterisierung der Improvisation ebenso gut zu Thematik und Aufbau von WAB 125 passt, lässt sich spekulieren, dass es schon zu dem Zeitpunkt zu einer partiellen Uraufführung gekommen sein könnte.
Bruckner selbst bestätigte die Eignung der Orgelfuge, indem er sie am 30.7.1862 in der Linzer Stadtpfarrkirche zur Primiz des Neupriesters Kerschbaum spielte (erste komplette öffentliche Aufführung?).
Auf der 1. Seite der Reinschrift geht der Fuge in d‑Moll zunächst eine separate „Probe“-Exposition zum selben Thema im Umfang von drei Zeilen mit 23 Takten voran. Sie hatte möglicherweise den Zweck, vor der Reinschrift der skizzierten Fuge noch Varianten der beiden Kontrapunkte zu testen. Die Unterschiede beschränken sich allerdings auf nur wenige Noten.
Die darauf folgende komplette Fuge lässt ein planmäßiges Arbeiten Bruckners erkennen. Sie entstand ein halbes Jahr, nachdem Bruckner den Unterricht bei Simon Sechter beendet und eine „strenge Prüfung über den Canon und die Fuge vollkommen gut bestanden“ hatte (Zeugnis vom 26.3.1861; Dom- und Stadtpfarrorganist, S. 184). Vor den Beginn der Fuge setzte Bruckner die „Bedingung“: „3fach“ (dreifacher Kontrapunkt). An den rechten oberen Rand schrieb er: „NB. Einmal die genaue Umkehrung; dann in Moll die ungenaue. Daß 2 verschiedene Umkehrungen vorkommen, entschuldigt noch die Engführung“, was den Studiencharakter des Stückes nochmals hervorhebt. Aber allein die Tatsache, dass von der Reinschrift immerhin vier Abschriften existieren, teilweise sogar mit autografen Korrekturen vom Komponisten, weist auf die Bedeutung des kleinen Werkes. Mit dieser letzten niedergeschriebenen Orgelfuge wird die durch die Schulung bei Sechter perfektionierte Beherrschung der kontrapunktischen Satztechnik ersichtlich, die Bruckner bei der Maturitätsprüfung wenige Tage nach der Komposition zugutekam und auf dem Weg zu symphonischer Gestaltung, freier Durchführungsarbeit und der Disposition logischer Formrelationen deutlich den Fortschritt anzeigt.
Literatur
- Franz Gräflinger, Anton Bruckner. Bausteine zu seiner Lebensgeschichte. München 1911, S. 87f., S. 119
- Göll.-A.August Göllerich/Max Auer, Anton Bruckner. Ein Lebens- und Schaffensbild (Deutsche Musikbücherei 36–39). 4 Bde. (in 9 Teilbänden [1, 2/1–2, 3/1–2, 4/1–4]). Regensburg 1922–1937, unveränd. Nachdruck 1974 3/1, S. 96, 113–117, 121f., 3/2, S. 189f.
- Hermann Zappe, Anton Bruckner, die Familie Zappe und die Musik. Zur Musikgeschichte des Landes Oberösterreich 1812–1963 bzw. 1982, in: Bruckner-JahrbuchBruckner-Jahrbuch. (Wechselnde Herausgeber). Linz 1980ff. 1982/83, S. 129–161
- Rainer Boss, Gestalt und Funktion von Fuge und Fugato bei Anton Bruckner. Tutzing 1997, S. 93–96
- Erwin Horn, Revisionsbericht zu NGAAnton Bruckner. Sämtliche Werke. Kritische Gesamtausgabe. Hg. v. der Generaldirektion der Österreichischen Nationalbibliothek und der Internationalen Bruckner-Gesellschaft. Wien 1951ff. (Editionsleitung: Leopold Nowak, auch als Neue Gesamtausgabe bezeichnet) XII/6 (2001), S. 75–78
- Briefe IAndrea Harrandt/Otto Schneider (Hg.), Briefe von, an und über Anton Bruckner. Bd. I. 1852–1886 (NGA XXIV/1). 2., rev. und verbesserte Aufl. Wien 2009
- Dom- und StadtpfarrorganistElisabeth Maier, Anton Bruckner als Linzer Dom- und Stadtpfarrorganist. Aspekte einer Berufung. Mit einem Beitrag von Ikarus Kaiser (Anton Bruckner. Dokumente und Studien 15). Wien 2009