Entwürfe und Skizzen

Seit ihrer Frühzeit interessiert sich die Bruckner-Forschung für die Entwürfe und Skizzen des Komponisten, die sich in einzelnen Bibliotheken und Archiven erhalten haben. Zunächst war es die Konstitution von Notentexten – speziell der Neunten Symphonie, deren Finale Bruckner ja nur im Entwurfsstadium hinterließ –, die dieses Interesse motivierte. Doch schon Alfred Orel begründete die Veröffentlichung von Bruckners Skizzen zur Neunten Symphonie im 1934 erschienenen Band der Gesamtausgabe als mehr als eine „Angelegenheit philologischer Gründlichkeit oder wissenschaftlicher Pedanterie“ (AGA 9, S. 5*). Vielmehr wollte er einen Einblick in die Werkstatt des Komponisten und die „Psychologie seines Schaffens“ (AGA 9, S. 5*) offenbaren. Alle Forscher, die seither zu Bruckners Arbeitsmethode publizierten, zogen ihre Schlüsse aus den Quellen für jeweils eine Symphonie. Eine Ausnahme bildet Paul Hawkshaw, der mit seiner Dissertation von 1984 eine Studie vorlegte, die auf Quellen einer längeren Schaffensperiode beruht. Die Erfassung des gesamten Korpus von Bruckners Entwürfen und Skizzen wurde erst in jüngerer Zeit unternommen (Aschauer). Dies erklärt auch, warum Bruckners erhaltene Entwurfsmanuskripte in der Literatur mit unterschiedlichen Termini bezeichnet werden.

Die erhaltenen Handschriften können in vier Hauptkategorien unterteilt werden. Folgt man der gängigen Definition, dass sich Entwürfe und Skizzen v. a. in ihrem Umfang unterscheiden (Benary, Sp. 1508) – eine Skizze kann aus wenigen Noten bestehen, während ein Entwurf einen größeren Formabschnitt vorzeichnet – so können nur relativ wenige Bruckner‘sche Manuskripte als Skizzen bezeichnet werden. Sie enthalten beispielsweise kurze Passagen wie Fugenthemen und eine Auseinandersetzung mit deren kontrapunktischem Potenzial. Weit mehr Autografe sind am treffendsten als Particell-Entwürfe zu beschreiben. Sie enthalten längere Passagen und sind auf zwei, drei, vier oder mehr Systemen notiert. Die dritte Kategorie – ein Produkt von Bruckners spezifischer Arbeitsweise – sei als Partitur-Entwürfe bezeichnet. Diese Manuskripte variieren stark im Grad ihrer Ausarbeitung; einige enthalten nur Noten für führende Stimmen (z. B. 1. Violinen und Bässe), andere sind nahezu fertig gestellt inklusive Angaben zu Spielanweisungen, Dynamik, Artikulation. Die vierte Gruppe bilden die Manuskripte zu kleineren Vokalwerken und zu einigen größeren Werken der Schaffensperiode vor Bruckners Linzer Zeit. Sie können als Kompositionspartituren bezeichnet werden, denn höchst wahrscheinlich gingen ihnen keine weiteren Vorarbeiten voraus. Zahlreiche Korrekturen, auch Streichungen ganzer Taktgruppen, und die in verschiedenen Tintenschattierungen dokumentierten Einzelschritte des Kompositionsprozesses lassen diese Manuskripte als erste Verschriftlichung des jeweiligen Werks identifizieren.

Die heute erhaltenen Manuskripte umfassen eine größere Zahl an Entwürfen für spätere Werke wie die Achte und Neunte Symphonie sowie Helgoland. Darüber hinaus haben sich sehr vereinzelt Particell- und Partitur-Entwürfe für die meisten anderen Symphonien erhalten, sowie für die frühen Orchesterwerke im Kitzler-Studienbuch, die  Messe in d‑Moll, die  Messe in e‑Moll, die  Messe in f‑Moll, das Te Deum und die Festkantate. Unter den erhaltenen Kompositionspartituren finden sich beispielsweise bedeutende Werke wie Afferentur, Os justi, Psalm 22 und Psalm 114 sowie Vexilla regis. Eine kleine Anzahl von Kompositionen ist nie über das Entwurfsstadium hinaus gediehen, wie beispielsweise das Requiem in d‑Moll (WAB 141) und der Symphonie-Entwurf in B‑Dur. Immerhin umfasst das Gesamtkorpus der erhaltenen Quellen alle Genres in Bruckners Werk und alle Perioden seiner Entwicklung als Komponist. Jedoch muss der Großteil seiner Entwurfsmanuskripte als verschollen gelten (s. weiter unten; Verschollenes).

Zu den frühesten Vorbildern, von denen sich Bruckner eine kompositorische Arbeitsmethode aneignen konnte, zählt sein älterer Cousin und Patenonkel Johann Baptist Weiß. Er unterwies den elfjährigen Bruckner für etwa anderthalb Jahre zwischen 1835 und 1836 in Orgel und Generalbass. Nach August Göllerich verwendete Weiß dabei neben Werken von Georg Friedrich Händel (1685–1759), Johann Sebastian Bach, Joseph Haydn, Johann Georg Albrechtsberger und Wolfgang Amadeus Mozart auch seine eigenen Kompositionen als Unterrichtsmaterial. Tatsächlich fanden sich in Bruckners Nachlass mit einem „Domine ad adjuvandum me festina“ und dem Fragment einer Messe in G‑Dur aus dem Jahr 1831 zwei Weiß‘sche Autografe, die uns Einblick in die Arbeitswelt Weiß‘ erlauben. Sie zeigen, dass Weiß direkt in Kompositionspartituren ohne vorhergehende Skizzen arbeitete. Zunächst notierte er hauptsächlich die Vokalstimmen, während die Systeme für die Instrumentalstimmen nur vereinzelt Notate enthalten und in einem späteren Arbeitsschritt ausgeführt werden sollten. Es war nicht notwendig eine Reinschrift dieser mit Korrekturen übersäten Arbeitspartituren anzufertigen, da jedenfalls daraus Stimmenmaterial abgeschrieben werden konnte und eine Partitur für die Aufführung nicht notwendig war – so wie überhaupt die meisten österreichischen Kirchenmusikarchive kaum Partituren enthalten.

Viele von Bruckners kleineren Vokalwerken haben sich in Kompositionspartituren erhalten, die deutlich den Weiß‘schen Arbeitsprozess widerspiegeln: Außenstimmen – Innenstimmen – Revision – Hinzufügen von Aufführungsanweisungen. Bruckners größere musikalische Werke vor der Linzer Zeit entstanden ebenfalls auf diese Weise. Speziell die Kompositionspartitur des Requiem in d‑Moll (WAB 39) (Stift St. Florian, Bruckner‑Archiv, 19/3) zeigt, wie Bruckner vermutlich ohne vorausgehende Skizzen direkt ein Partitur-Skelett aus äußeren Singstimmen und Bass notierte, das er in weiteren Arbeitsschritten zu einer vollständigen Partitur ausarbeitete.

Nach sechs Jahren des Studiums von Harmonielehre und Kontrapunkt bei Simon Sechter nahm Bruckner zwischen Spätherbst 1861 und Sommer 1863 Unterricht bei Otto Kitzler in Linz. Diese Ausbildung war speziell der Komposition in klassischen Formmodellen und einer Einführung in die Instrumentation gewidmet und ist im sogenannten Kitzler-Studienbuch dokumentiert.

Der Beginn der Instrumentationsübungen im letzten Drittel des Studienbuches markiert eine neue Entwicklung in Bruckners Arbeitsweise. Hier notierte Bruckner erstmals eine für größeres Ensemble gedachte Komposition nicht sogleich in Partitur, sondern als Particell auf zwei Systemen im Violin‑ und Bassschlüssel. Eine Methode, zu der Bruckner vermutlich durch das Studium des zweiten, der Instrumentation gewidmeten Bandes von Johann Christian Lobes (1797–1881) Lehrbuch der musikalischen Komposition angeregt wurde und die er sogleich für seine ersten Orchesterkompositionen verwendete. Entsprechende Particell-Entwürfe finden sich im Kitzler-Studienbuch für den Marsch für Orchester in d‑Moll, die Drei Orchesterstücke und die Ouvertüre in g‑Moll. Am 7.1.1863 begann Bruckner schließlich an seinem ersten symphonischen Satz, dem Kopfsatz der Symphonie in f‑Moll ( „Studiensymphonie“), zu arbeiten. Das Manuskript zeigt, wie Bruckner zunächst eine Ideensammlung für die Hauptthemen des Satzes anlegte: 28 als „Motive“ übertitelte Einfälle in der Länge zwischen drei und zwölf Takten. Wiederum dürfte Lobe hier maßgeblichen Einfluss ausgeübt haben, speziell das im 1. Band seines Lehrwerks entworfene Modell der Komposition in vier „Prozeduren“, deren erste in einer Art thematischem Brainstormings besteht. In den weiteren Prozeduren werden die Ideen Schritt für Schritt zu einem Particell-Verlaufsentwurf ausgearbeitet. Bruckner selbst bezeichnete diesen Arbeitsschritt als „Scizze“. So vermerkt er beispielsweise am Ende der fertiggestellten Partitur des Credo der Messe in f‑Moll (Stift Kremsmünster, Musiksammlung, C56/2c): „Scizze 27. Nov. 1867. Linz den 13. Februar 1868. – 15. Febr 1868 ganz fertig.“ Dass für Bruckner mit Vollendung der „Scizze“, also des vollständigen Particell-Verlaufsentwurfs, eine gewisser Grad der Fertigstellung des Werkes erreicht war, zeigt sein Brief an Franz Schalk – „So eben ist die achte Sinf. fertig in der Scitze (leider.)“ (Briefe I, 850816) –, der dasselbe Datum trägt wie die letzte Seite des Particell-Entwurfs der Achten Symphonie (ÖNB‑MS, Mus.Hs.6070, „Steyr, Stadtpfarrhof – 16. August 1885. ABrucknermp. Halleluja!“).

Für die Jahre zwischen 1869 und 1881, und damit für die Zweite bis Sechste Symphonie, bricht die ohnehin lückenhafte Überlieferung von Particell-Entwürfen vollständig ab. Einzige Ausnahme ist ein Doppelblatt, das einen Particell-Entwurf zum Finale der Fünften Symphonie enthält und im Mai 1875 entstanden ist. Dieser Entwurf zeigt neben dem ersten Erscheinen von metrischen Ziffern ein weiteres neues Charakteristikum: Notat nicht nur in Tinte, sondern auch in Bleistift.

Bruckner wird in der Erinnerungsliteratur geradezu ausschließlich als Komponist zwischen Klavier und Schreibtisch (beide heute in St. Florian) beschrieben. Verschiedene Indizien in den Manuskripten weisen darauf hin, dass der jeweilige Arbeits‑ und Schreibort auch die Wahl des Schreibutensils ergab: Zum Schreiben auf dem aufrechten Notenpult am Klavier benützte Bruckner den Bleistift, für die Arbeit am Schreibtisch Feder und Tinte. Der Erarbeitung kleiner und kleinster Formabschnitte am Klavier in Bleistift folgt eine erste Tintenreinschrift am Schreibtisch. Diese unterzog Bruckner mehreren Kontrollen und Revisionen am Klavier, teilweise mit Hilfe von Kollegen und Freunden. In einem oft mehrmaligen Hin und Her zwischen Klavier und Schreibtisch entstanden auf diese Weise immer größere Abschnitte, die in der Folge zu einem Verlaufsentwurf zusammengehängt wurden. Die kompositorische Entwicklung geschah dabei im Spannungsfeld zwischen Kreativität und Verklanglichung am Klavier einerseits sowie der Ordnung und Organisation am Schreibtisch andererseits. Die verwendeten Schreibmaterialien Tinte und Bleistift sowie der sich aus der Schreibunterlage ergebende unterschiedliche Schriftduktus dokumentieren die jeweilige Arbeitsphase in den Manuskripten, wie sich besonders am Beispiel der Achten und Neunten Symphonie beobachten lässt, für die zahlreiche Particell-Entwürfe erhalten blieben.

Zur Ausarbeitung seiner Partituren verwendete Bruckner lose Doppelblätter maschinell hergestellten Notenpapiers, die er selbst als „Bogen“ bezeichnete und fortlaufend nummerierte. Die Instrumentierung erfolgte in mehreren Etappen, in denen Bruckner nach und nach, vereinfacht formuliert, zunächst die Streicher, dann die Bläserstimmen ausarbeitete und schließlich in einem eigenen Arbeitsgang Ausführungsanweisungen anbrachte. Wann immer im Zuge der verschiedenen Ausarbeitungsstadien eine größere Korrektur notwendig wurde, ersetzte Bruckner den jeweiligen „Bogen“ durch einen neuen. Auf diese Weise ausgeschiedene Doppelblätter mit Partituren in unterschiedlichsten Graden der Ausarbeitung haben sich zu beinahe jeder Symphonie erhalten, nicht zuletzt, da Bruckner diese „Makulatur“ gerne verschenkte, wann immer er von Besuchern, Freunden und Bekannten um Manuskript-Souvenirs gebeten wurde.

Göllerich und Max Auer berichten (Göll.-A. 4/3, S. 512), dass Bruckner im Zuge der Übersiedelung in seine letzte Wohnung im Belvedere, möglicherweise auch noch einmal danach, durch seinen Sekretär Anton Meißner Manuskripte vernichten ließ, die er der Nachwelt nicht zugänglich machen wollte – „Dös braucht Neamt (Niemand) z‘wiss‘n – das is für mi alloan (allein)“ (Göll.-A. 1, S. 39). So haben wir es dem „Reliquieninteresse“ verschiedener Personen in Bruckners Umfeld zu verdanken, dass wir heute, abgesehen von den Entwürfen zur Achten und Neunten Symphonie, überhaupt einen Einblick in die Werkstatt des Komponisten erhalten können. Dies betrifft speziell das Kitzler-Studienbuch und das wohl größte erhaltene Entwurfs-Konvolut im Stift Kremsmünster. Diese Quellen erlauben uns immerhin eine Rekonstruktion von Bruckners gewohnheitsmäßiger Arbeitsweise und damit ein tieferes Verständnis von Komponist und Werk.

Literatur

MARIO ASCHAUER

Zuletzt inhaltlich bearbeitet: 14.9.2017

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