Improvisationen

Bruckners Orgelimprovisationen begegnete man zu seiner Zeit allgemein mit Hochachtung und Bewunderung, ganz im Gegensatz zu seinen Symphonien, die vielfach, insbesondere in der Presse, Gegenstand des äußerst emotional und dadurch häufig unsachlich geführten Parteienstreits zwischen Anhängern von Johannes Brahms und Richard Wagner wurden. Bruckners Improvisationskunst muss in einem unmittelbaren Zusammenhang mit der außergewöhnlichen Beherrschung von Kontrapunkt und Fuge gestanden haben, wie der Leitartikel von Ludwig Speidel zur berühmt gewordenen „Maturitätsprüfung“ Bruckners durch eine Reihe hochkarätiger Wiener Musikautoritäten und der direkt im Anschluss daran gedruckte Artikel im Fremden-Blatt vom 4.9.1894 zu Bruckners 70. Geburtstag bestätigen: „Die Prüfungskommission bestand aus seinem Lehrer Sechter, aus Hellmesberger, Otto Dessoff und Johann Herbeck. Man kam sofort davon ab, an Bruckner theoretische Fragen zu stellen; als Künstler sollte er beweisen, was er konnte. […] Man traf sich in der Piaristenkirche in der Josefstadt, wo eine gute Orgel steht. Sechter wurde aufgefordert, ein Fugenthema niederzuschreiben. […] Bruckner besah sich den Schaden, zögerte eine Weile, fing aber dann zu präludieren an und ließ eine so genial durchgeführte Fuge folgen, daß die Herren der Prüfungskommission erstaunt und entzückt waren.“ (Fremden-Blatt 4.9.1894, S. 6). Im Feuilleton derselben Ausgabe hieß es über Bruckner: „Eine so grausame Entschiedenheit liegt in diesem Profil, eine solche Härte steckt in diesem untapezierten Schädel. So stellt man sich die grimmigen Fugenhelden des achtzehnten Jahrhunderts vor, die Hexenmeister des Kontrapunkts, die um Mitternacht an der Orgel saßen und sich vom Teufel die Bälge treten ließen.“ (Fremden-Blatt 4.9.1894, S. 13).

Die von Max Auer zitierten Erzählungen von Bruckners St. Florianer Registranten Karl Aigner führen noch einen Schritt weiter und lassen eine gewisse Analogie von der Fugen-Improvisation auf der Orgel zum Fugengedanken in Bruckners symphonischen Finalsätzen erkennen (Finale). Bruckner begann „gewöhnlich mit zartesten Stimmen auf dem vierten Manual zu phantasieren, ähnlich, wie auch bei den Anfängen der Sinfonien, worauf das eigentliche Thema mit plastischer Farbengebung eingeführt wurde. Die Verarbeitung war eine höchst mannigfaltige und ließ alle Künste des Kontrapunktes spielen. Dabei werden nach und nach immer neue Stimmen herangezogen. Vor dem Plenospiel trat gewöhnlich eine kurze Pause ein. Häufig wählte der Meister für das volle Werk auch ein eigenes, hierfür passendes Thema, das manchmal auch in freier Fuge durchgeführt wurde.“ (Auer, S. 878).

Diese Zitate erwähnen allesamt ein bemerkenswertes Charakteristikum der Bruckner‘schen Improvisationskunst, nämlich das Fantasieren bzw. Präludieren vor der eigentlichen Fuge. Das mag einerseits auf die Bach‘sche Formtradition zurückgehen, der Fuge ein Präludium voranzustellen mit der Funktion, die Konturen des Fugenthemas entstehen zu lassen und zu seiner festen Gestalt hinzuführen, ist aber andererseits auch deswegen bemerkenswert, weil die Finalsätze der Symphonie in d‑Moll („Annullierte“), Fünften und Neunten Symphonie mit Einleitungen versehen sind, die jeweils zu dem Haupt- und zugleich Fugenthema hinleiten. Da verwundert es nicht, wenn Rudolf Quoika (1897–1972) die Möglichkeit anspricht, den Schlusssatz der Fünften Symphonie als Orgelsatz zu deuten.

Ein von Speidel zwei Jahre nach seinem Leitartikel zu Bruckners 70. Geburtstag verfasster Nekrolog im Fremden-Blatt scheint (ebenso wie Bruckners Gewohnheit über seine Symphonie-Themen zu improvisieren) sogar auf eine Wechselwirkung zwischen Orgelimprovisation und Symphonik hinzuweisen: „Seine Improvisationen trugen im Grunde einen, wie man früher sagte, ,galanten‘, einen homophonen Charakter (melodische Fortschreitungen mit Begleitung) an sich, als Zwischensätze Imitationen, die sich hin und wieder bis zu Prosalien ausdehnten und abrupte kontrapunktische Stellen. Zu einem eigentlichen Stimmengewebe kam es fast nie.“ (Fremden-Blatt 16.10.1896, S. 6). Der hier angesprochene Wechsel zwischen homophonem Satzcharakter, Imitationen und abrupten kontrapunktischen Stellen könnte ebenso als (allerdings oberflächliche) Beschreibung für so manche Stelle in Bruckners elf Symphonien dienen, deren Formkonzepte (Form in Bruckners Symphonien) und Strukturen zuweilen improvisatorische Züge in sich tragen, aber doch bis ins kleinste Detail durchdacht und logisch aufgebaut sind.

Dass der klassische Schaffensprozess bis zum vollendeten Stück ebenso über Phasen scheinbar improvisatorischer Kreativität laufen konnte und sich somit wie in der Orgelimprovisation unterschiedliche Lösungswege anbahnten, beweist der Blick in kompositorische Vorstufen wie Skizzen oder Particell-Entwürfe. Aber Bruckner war nicht nur für seine Improvisationen an den größten Orgeln Europas in der kirchenmusikalischen Tradition großer Orgelspieler wie Johann Sebastian Bach und Dietrich Buxtehude (1637–1707) bekannt, in denen er frei gewählte Themen oder Motive seiner eigenen Werke verarbeitete. Er interpretierte auch immer wieder aufs Neue „klassische Themen“ wie die Volkshymne oder Georg Friedrich Händels (1685–1759) Halleluja, um die beliebtesten zu nennen.

Damit ergeben sich auch Parallelen zu improvisatorischen Jazzkonzepten (Jazz und Rockmusik) des 20. Jahrhunderts, deren interpretatorische Mannigfaltigkeit diverse Fassungen zu einem Sujet bzw. Standard nebeneinander bestehen lässt, unabhängig ob vom gleichen oder von verschiedenen Interpreten. Überblickt man in dem Zusammenhang Bruckners Gesamtwerk mit all seinen vielen, unterschiedlichen Versionen diverser Symphonien, Messen, Kantaten etc., so ist von einer beinahe unerschöpflichen Fassungsvielfalt zu sprechen, die offensichtlich den großen Schöpfergeist Bruckners reflektiert. Bruckner, der unglaubliche Orgelimprovisator und Fugenmeister, der gleich einem Jazzmusiker der Neuzeit eine Fülle von unterschiedlichen Strukturen zum gleichbleibenden Sujet aufzubauen verstand, dessen kompositorische Kraft gleich mehrere vollendete Fassungen seiner Dritten Symphonie entstehen ließ, lässt sich offensichtlich nicht festlegen. Das vorhandene Material inspirierte ihn immer wieder von neuem. So ist auch heute die Fassungsfrage nicht abgeschlossen. Arrangements für Bruckners Instrument, die Orgel, sind auf der Suche nach Belegen für die große Improvisationskunst Bruckners hinzugekommen. Weitere bearbeitende Fassungen für unterschiedliche Besetzungen werden folgen, um auch neuen Generationen, die über die komplexen Orchesterstrukturen zunächst nicht den Zugang finden, von Bruckners musikalischer Kraft zu berichten. Ansätze finden sich bereits: z. B. Ohad Talmor‘s Jazzadaption von Bruckners Messe in f‑Moll für Nonett, aufgeführt am 21.8.2008 im St. Florianer Bibliothekskeller (Hommagen und Widmungen an Bruckner).

Literatur

RAINER BOSS

Zuletzt inhaltlich bearbeitet: 24.6.2020

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