Mystik

Mystik ist ein seit der Antike in allen Religionen beobachtbares Phänomen. Vom griechischen Adjektiv ‚mystikós’ (= mit den Geheimnissen [mystéria] verbunden, geheimnisvoll; abgeleitet von ‚myo’ = schließen, vor allem der Augen und des Mundes) herkommend, bezeichnet der Begriff „im religionsgeschichtlichen Sinne die das gewöhnliche Bewusstsein und die verstandesmäßige Erkenntnis übersteigende, unmittelbare Erfahrung der göttlichen oder transzendenten Realität. In der Mystik der großen Religionen ist das Ziel die Vereinigung mit Gott, der Weg dazu: Askese, Meditation, Leere und Kontemplation“ (Steggink, Sp. 906). Daraus ergibt sich die Konsequenz, dass „jeder mystische Text etwas artikuliert, das ‚eigentlich‘ nicht zu artikulieren ist“ (Ruhbach, S. 21) – und damit eine Nähe zu semantisch offenen, musikalischen Texten. In der Bruckner-Literatur wurden schon früh Versuche unternommen, den Komponisten mit Mystik in Verbindung zu setzen. Basierend auf der religiösen Haltung des Komponisten und dessen kirchlichen Beziehungen (Stift St. Florian) diente hierbei in erster Linie seine Musik als nicht in Worte zu fassender Ausdruck mystischen Erlebens. Pejorativ formulierte Eduard Hanslick in der Neuen Freien Presse vom 13.11.1894 anlässlich einer konzertanten Aufführung der Messe in f‑Moll : „Neben Gedanken von schlichtester Bescheidenheit und verjährten contrapunktischen Schulstückchen begegnen wir in seinen Werken Ausbrüchen grenzenloser Ekstase und verworrener Mystik“ (S. 1). Dieter Schnebel (* 1930), Komponist und Theologe, nannte – ins Positive gewendet – v. a. die Komponenten Klang und Zahl als für Bruckners Mystik bezeichnend (Schnebel, S. 255).

Bis 1974 findet sich in Renate Grasbergers Bruckner-Bibliographie rund ein Dutzend relevanter Titel, die von Brucknerforschern, aber ebenso von Verfassern belletristischer Werke (Louise George Bachmann) stammen. Max Auer verbreitete das Bild des musikalischen Mystikers und verband es – etwa auf den Kopfsatz der Neunten Symphonie bezogen – mit platter Hermeneutik: „Plötzlich durchbricht ein Lichtstrahl mit überirdischem Glanze das Dunkel; eine Vision zeigt dem Verzücktem Ziel und Weg zur Erreichung des Höchsten. Hier zeigt sich uns Bruckner wieder als Mystiker“ (Auer, S. 313). Wilhelm Furtwängler sah (betont sachlicher) in Bruckner „in Wahrheit einen Nachfahren jener deutschen Mystiker, jener Ekkehardt, Jakob Böhme usw.“ (Furtwängler, S. 33).

Bereits 1925 nahm der Begriff in der monumentalen Darstellung von Ernst Kurth einen großen Raum ein (Kurth, Bd. 2, S. 1343); das erste Kapitel zeigt deutlich Kurths Ausrichtung: „Bruckner mußte verborgen bleiben, weil er seinem Wesen nach verborgen war. […] Der Mystiker schließt sich darum in Einsamkeit: er sucht die göttlichen Urwunder in sich und strebt nach der erlösenden Ausweitung im Gnadenwunder der Allumfassung.“ (Kurth, Bd. 1, S. 4f.). Im Jahrzehnt danach (1936) griff auch Robert Haas das einprägsame Bild des Mystikers auf. Fritz Grüninger betonte als Ausgangspunkt Bruckners katholische Weltanschauung und sah in der Transzendenz den Mittelpunkt alles Seins. So verstand er den musikalischen Inhalt – wie bei Dante im Dichterischen – als „metaphysisch, über dem Vergänglichen schwebend, geboren aus einer Gott anbetenden Seele.“ (Grüninger, S. 259). Wie die beiden letztgenannten Beispiele zeigen, war die so gewendete „Mystik“ ein auch mit nationalsozialistischem Gedankengut durchaus verträgliches Interpretationsmodell.

In jüngerer Zeit hat – aus anderer Perspektive – besonders Peter Gülke (vielleicht auf Kurth oder Furtwängler zurückgreifend) mittels des alten deutschen Mystikers Jakob Böhme (1575–1624) versucht, analytische Beobachtungen am Künstler und seinem Schaffen in einen übergeordneten, spirituellen Kontext zu stellen.

Literatur

ERICH WOLFGANG PARTSCH

Zuletzt inhaltlich bearbeitet: 1.9.2017

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