Semantik

Disziplin der Semiotik. Im weitesten Sinne untersucht sie die „Bedeutung“ der Sprache, die verschiedenen Codes, die ästhetischen Botschaften und auch die (außermusikalische) Bedeutung der Musik. Jede Erörterung über semantische Fragen bei Bruckner sollte von der Einsicht ausgehen, dass seine Musik – und zwar sowohl die geistliche als auch die symphonische – den Eindruck erweckt, „sprachähnlich“ zu sein. Ihre Sprachähnlichkeit ist primär in ihrem Gestus und in wiederkehrenden „Charakteren“, will heißen: bestimmten Genres mit hervorstechenden Stilmerkmalen und ausgeprägten Ausdrucksvaleurs, begründet. Die auffälligsten Charaktere bei Bruckner sind das instrumentale Rezitativ und Arioso, der Choral, der Marsch, der Trauermarsch, das Pastorale, das Scherzo, der Ländler, das Misterioso und der Typus der „feierlichen“ Musik.

Jedem Charakter ist eine spezifische Semantik immanent. Selbstverständlich war sich Bruckner dieser Spezifität durchaus bewusst. In einem Gespräch mit August Göllerich deutete er die Verkoppelung eines polkaartigen Streichersatzes mit einem choralartigen Bläsersatz im Finale der Dritten Symphonie (2. Themenkomplex bei B) als Vereinigung der Gegensätze „Frohsinn und Leid der Welt“ (Floros 2004, S. 153).

Nach Robert Schumann hat eine Komposition musikalischen Charakter, „wenn sich eine Gesinnung vorherrschend ausspricht, sich so aufdrängt, daß keine andere Auslegung möglich ist.“ (Schumann, S. 330). In letzter Konsequenz bedeutet diese Definition, dass jedem Charakter eine spezifische Semantik immanent ist. Dass der Marsch eine andere Semantik als der Trauermarsch hat, dass die pastorale-artige Musik etwas anderes als ein Scherzo konnotiert, dass der Choral eine „religiöse“ und der Ländler eine „weltliche“ Konnotation hat, leuchtet unmittelbar ein.

Bruckners Tonsprache verfügt über zahlreiche Mittel dramatischer Provenienz. Dazu gehören nicht nur das Tremolo und die berühmten Steigerungswellen, sondern auch Themen, die nach dem Muster der instrumentalen Monodie gebaut sind, und bühnenmusikalische Mittel wie Signale oder Fanfaren. (Diese fallen vor allem im Finale der Achten Symphonie auf.)

Als tonsprachliche Mittel fungieren ferner die Zitate, Anspielungen und Allusionen. Bruckner zitiert in vielen seiner symphonischen Sätze eigene und fremde Werke. Mehrere Zitate enthält vor allem die Dritte Symphonie, die in drei Fassungen vorliegt. Abgesehen von den vielen Wagner-Zitaten, die als Huldigungen an Bruckners erhabenes Vorbild verstanden werden wollen, bietet der Schluss der Exposition des Kopfsatzes ein weiteres instruktives Beispiel. Hier zitieren die hohen Holzbläser und später die Hörner viermal und – wenn man von einigen Alterationszeichen absieht – „wörtlich“ eine miserere-Wendung aus dem Gloria (T. 100–103) der Messe in d‑Moll von 1864.

Notenbeispiel 1: Messe in d‑Moll, Gloria, SAT, T. 100–103.

Notenbeispiel 2: Dritte Symphonie (2. Fsg. 1877), 1. Satz, Fl.1, Fl.2, Ob.1 und Ob.2, T. 231–234.

Die Bedeutung der Stelle als eine Bitte um Erbarmen leuchtet unmittelbar ein, wenn man bemerkt hat, dass der ganze Schluss dieser Exposition mit religiöser Semantik durchsetzt ist. Gleichsam auf dem Höhepunkt der Exposition (2. Fassung, T. 201–207) stimmen die Trompeten eine Melodie an, die den originalen Vermerk „Choral“ trägt. Bei näherer Betrachtung erweist sich diese Melodie als eine Paraphrase der 1. Zeile des katholischen Chorals Crux fidelis inter omnes, und zwar als Paraphrase der Gestalt, in der die Choralzeile gegen Ende der symphonischen Dichtung Hunnenschlacht von Franz Liszt – einem Komponisten, dem Bruckner viel verdankte – erklingt.

Notenbeispiel 3: Franz Liszt, Hunnenschlacht, Trp.1, Trp.2 und Trp.3, Abschnitt Q.

Notenbeispiel 4: Dritte Symphonie (2. Fsg. 1877), 1. Satz, Trp.1 und Trp.2, T. 203–209.

Bruckners Symphonik enthält darüber hinaus zahlreiche Anspielungen auf Werke Richard Wagners – bedeutungsvolle Allusionen, die seine Musik gleichfalls semantisieren. Als Beispiel sei hier das Präludium für Harmonium in C‑Dur, das sogenannte Perger Präludium, genannt. Entwickelt ist das 27 Takte zählende Stück aus dem Schlafmotiv der Walküre, das in verschiedenen Transpositionen mehrfach wiederkehrt. Gewidmet ist die kleine Komposition dem Perger Lederhändler Josef Diernhofer, der Bruckner auf einer Bahnfahrt nach Bayreuth im August 1884 um ein kleines Stück für sein Harmonium bat. Das Präludium hat somit die Bedeutung einer Hommage an Wagner und ist zugleich ein Bekenntnis.

Semantische Bedeutung haben weiter bestimmte formdynamische Prozesse (Form), so die jauchzenden, affirmativen Schlüsse, die wenigen morendo-Schlüsse, sodann die berühmten Steigerungswellen und Höhepunkte, schließlich bemerkenswerte Erscheinungen wie die von Ernst Kurth (1925) beschriebenen Episoden der Leere und Wirrnis.

Das Studium der Charaktere, der Zitate und der erwähnten formdynamischen Prozesse gestattet eine weitgehende Dechiffrierung von Bruckners symphonischer Tonsprache.

Relevant für die Interpretation seiner Musik sind noch Bruckners authentische hermeneutische Äußerungen zu einigen seiner Symphonien (zur Dritten, Vierten, Achten und Neunten). Zwar sind sie sprachlich meist unbeholfen und konstituieren ebenso wenig ein Programm im Sinne Liszts, will heißen im Sinne einer logisch fortschreitenden Handlung. Sie beweisen indes eindrucksvoll, dass er beim Komponieren oft von persönlichen Erlebnissen und bildhaften Vorstellungen ausging.

Ein Hörer, der Bruckners Musik nur als Form und Struktur wahrnimmt, versäumt etwas überaus Wesentliches, nämlich ihre geistige Dimension zu erfassen. Die kühne Behauptung, aus Primärquellen sei über seine Persönlichkeit und über sein Werk kaum noch Signifikantes zu erfahren, entbehrt jeder Grundlage. Ebenso zeugt von Verlegenheit das leichtfertige Bonmot, Bruckner sei als Mensch und Komponist recht schwierig und rätselhaft gewesen.

Literatur

CONSTANTIN FLOROS

Zuletzt inhaltlich bearbeitet: 17.11.2017

Medien

Kategorien

Links

ACDH-CH, Abteilung Musikwissenschaft