Hermeneutik

Lehre vom Verstehen aller menschlichen Lebensäußerungen, wozu auch die Musik gehört (von altgriechisch ἑρμηνεύειν [hermēneúein] = erklären, auslegen, übersetzen). Die hermeneutische Kardinalfrage bei Bruckner lautet, ob sein Œuvre als „absolute Musik“ verstanden werden muss oder ob es eine tiefere geistige (womöglich autobiografische) Dimension besitzt, die es zu eruieren gilt. Die Beantwortung dieser Frage hängt aufs engste von der Position ab, die man zu der gleichfalls wichtigen Frage nach dem Verhältnis von Persönlichkeit und Werk bezieht. Die Meinungen darüber gehen auseinander. Während für manche Interpreten der Künstler Bruckner untrennbar mit dem Menschen verknüpft ist, empfinden andere geradezu eine krasse Diskrepanz zwischen seiner merkwürdig anmutenden Persönlichkeit und der Großartigkeit seiner Musik. Der Anthroposoph Erich Schwebsch (1889–1953) trat 1921 als erster entschieden für die These ein, dass Bruckner ein Vertreter der kosmischen Musik sei, und dass man für die Interpretation seiner Musik die äußere Biografie des Komponisten gar nicht brauche. Damit ebnete er den Boden für Oskar Lang (1884–1950) und Fritz Grüninger, die Bruckner als großen Metaphysiker interpretierten, und auch für Ernst Kurth, der ihn zum Mystiker stilisierte.

Diese apodiktischen Meinungen gehen an der Tatsache vorbei, dass das 19. Jahrhundert – insgesamt betrachtet – anthropozentrisch und nicht kosmozentrisch orientiert war. Im Mittelpunkt des Denkens und der Kunsttheorie der Zeit stand nicht der Kosmos, sondern der Mensch. Auch die Musik dieses bewegten Zeitalters ist „menschliche Musik“ im emphatischen Sinne (Floros 1992, S. 18). Das Subjektive und Bekenntnishafte ist aus ihr nicht wegzudenken. Auch das Schaffen Bruckners bildet da keine Ausnahme. Wie jüngere Untersuchungen ergeben haben, verzichtet seine Musik keineswegs auf autobiografische Momente. So haben die Zitate aus den großen Messen (Messe in d‑Moll, Messe in f‑Moll), im Adagio und im Finale der Zweiten, im Kopfsatz der Dritten und im Adagio der Neunten Symphonie eine autobiografische oder eine religiöse Konnotation.

Bruckner verstand sein Schaffen als Bekenntnis. Er ließ sich von der Überzeugung leiten, dass Gott ihn zur Kunst bestimmt habe, und erachtete seine kompositorische Begabung für von Gott gegeben (Bruckner – skizziert, S. 11, 65). Diesen Sinn haben seine mehrfach verbürgten Verweise auf das Gleichnis von den anvertrauten Pfunden. Seine Musik hat fast immer eine spirituelle Tiefendimension. Seine Symphonik gleicht einem mannigfaltigen Kosmos, in dem sich das Weltliche und das Religiöse nebeneinander finden, das Profane und das Sakrale. Sie ist ebenso der symphonischen und der musikdramatischen Tradition verpflichtet wie sie zahlreiche kirchenmusikalische Elemente aufweist.

Überaus relevant für die Interpretation seiner Musik sind Bruckners authentische hermeneutische Äußerungen zu einigen seiner Symphonien (zur Dritten, Vierten, Achten und Neunten). Zwar sind sie sprachlich meist unbeholfen, und ebenso wenig konstituieren sie ein Programm im Sinne einer streng logisch fortschreitenden Handlung. Sie beweisen indes eindrucksvoll, dass er beim Komponieren oft von persönlichen Erlebnissen und bildhaften Vorstellungen ausging.

Literatur

CONSTANTIN FLOROS

Zuletzt inhaltlich bearbeitet: 1.9.2017

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