Finnland (Rezeption)
Als Leevi Madetoja (1887–1947) am 8.12.1915 in der Tageszeitung Helsingin Sanomat einen Aufsatz über den damals 50‑jährigen Jean Sibelius (1865–1957) veröffentlichte, erwähnte er auch Bruckner. Offenbar auf der Basis von Gesprächen mit Sibelius, bei dem er gelegentlich Unterricht bekommen hatte, schrieb Madetoja über Wien im Jahr 1890/91: „Auch ansonsten war Sibelius entzückt von der mühelosen und leichten Stimmung in dieser schönen Stadt. Da lebten noch die Tonsetzergreise Brahms und Bruckner, deren überaus originelle Gestalten dem zukünftigen Meister besonders auffielen. Der Erstere recht rundlich, mit seinem unordentlichen Bart, im Restaurant mit einem schäumenden Krügel vor sich sitzend, kaum sichtbar inmitten des bitter riechenden Zigarrenrauchs, der Letztere immer lebendig, kindlich süß, allen aus seinen strahlenden Augen Freundlichkeit spendend, ein rotes Taschentuch quoll aus der Hintertasche seiner Jacke.“ (Helsingin Sanomat 8.12.1915). Es bleibt dem Leser wohl kaum verborgen, wem hier die Sympathie des Autors gilt, der stilistisch viele wesentliche Elemente von Bruckners Werk pflegte, wenngleich originell mit französischen Elementen der Moderne ergänzt. Insbesondere gilt hier die Aufmerksamkeit Madetojas Symphonien (1916, 1918 und 1926). Madetoja erwähnte Bruckner in seinen umfangreichen Schriften ansonsten nicht, was freilich keinen Negativnachweis seiner Bruckner-Rezeption darstellt.
Die Begegnungen Madetojas und Sibelius‘ mit der Tradition Bruckners bilden das wohl wichtigste Thema der finnischen Bruckner-Rezeption. Das Interesse des jungen Sibelius an Bruckner als Lehrer einerseits und die Widerspiegelung des Bruckner‘schen Gestus in seinem Orchesterstil (einschließlich langer Aufbauphasen mit Betonung auf Texturdynamik und Segmentorchestration) andererseits ist in der Forschung gebührend berücksichtigt worden, wenngleich einige Autoren den Bruckner-Einfluss auch zu relativieren versucht haben. „Richter nimmt keine Schüler und Bruckner ist krank“, schrieb Sibelius nach Hause an seine Mutter Maria und Schwester Evelina aus Wien am 18.10.1890 (Goss 1997, S. 112). Offenbar hatte er vorgehabt, bei diesen beiden zu lernen, was eigentlich bemerkenswert ist, zumal in der Literatur häufiger von der angeblichen Idee die Rede ist, Sibelius wollte bei Johannes Brahms studieren (Mäkelä 2007, S. 191f.). Vom Spätherbst 1890 bis Juni 1891 nahm er jedenfalls Unterricht bei Robert Fuchs und Karl Goldmark (Revers, S. 17; Krones, S. 25). Am 21.12.1890 erlebte Sibelius die Uraufführung der 3. Fassung der Dritten Symphonie Bruckners in Wien. Die konkreten Spuren dieser Erfahrung finden sich im Hauptthema von Kullervo op. 7 (1892), das zwar erst lange nach Sibelius‘ Wiener Aufenthalt fertiggestellt wurde, zu dem die ersten Skizzen aber noch in Wien entstanden (Brief von Sibelius an Aino Järnefelt 18.4.1891, vgl. Talas, S. 227). Über seine Begeisterung für Bruckner schrieb Sibelius ausführlicher in einem Brief an seine Braut Aino Järnefelt am 21.12.1890: „Er ist meiner Meinung nach der größte lebende Komponist“ (Talas, S. 107). In diesem Brief erfahren wir u. a. auch, dass Martin Wegelius (1846–1906), Sibelius‘ Lehrer in Helsinki und Gründer des dortigen Musikinstituts, sich schon lange für Bruckner interessierte, was nicht ohne Folgen für die Entwicklung der Standards im finnischen Musikleben bleiben sollte. Die kompositorische Rezeption Bruckners ist in anderen Werken von Sibelius (Fünfte Symphonie op. 82 in Es‑Dur – Finalthema; Siebente op. 105 in C‑Dur – Finalgestaltung) oder anderer Komponisten weniger offensichtlich. Allerdings verbindet die Relation zur Landschaft (bei Bruckner Oberösterreich, bei Sibelius und seinen Nachfolgern, insbesondere Madetoja, der Norden) die finnischen Symphonien mit denen von Bruckner definitiv enger als mit jenen seiner Zeitgenossen, etwa Brahms und Gustav Mahler.
Die frühe Bruckner-Rezeption in finnischen Konzertsälen hat Bo Marschner in seinem Aufsatz 100 Jahre Bruckner-Rezeption in den nordischen Ländern gründlich aufgearbeitet. Als Pioniere treten der in Helsinki tätige Leo Funtek und Georg Schnéevoigt hervor. Als genuine Reaktion auf deren Aufführungen von Bruckner-Werken, vornehmlich der Symphonien, in Finnland kann Ilmari Krohns Abhandlung Anton Bruckners Symphonien. Untersuchungen über Formenbau und Stimmungsgehalt (Helsinki 1955–1957) aufgefasst werden. Marschner betont zwar, die finnische Rezeption unvollständiger behandelt zu haben als die anderer Länder des Nordens (Marschner, S. 187), dennoch geht aus seinen Ausführungen eindeutig hervor, dass das von Robert Kajanus (1856–1933) – der 1896, 1908 und 1931 Bruckner dirigierte – gegründete Philharmonische Orchester Helsinki den dritten Platz der nordischen Orchester mit den meisten Bruckner-Aufführungen einnimmt. Unter den zehn wichtigsten Bruckner-Dirigenten des Nordens nennt Marschner für den Zeitraum 1891–1991 neben Funtek und Schnéevoigt auch Jorma Panula (* 1930) und Leif Segerstam (* 1944). Setzt man diese Zahlen mit der Population Finnlands in Relation, ergibt sich ein überaus Bruckner-freundliches Bild. Zudem ist dies ein Indiz für das Niveau des Orchesterspiels in Finnland. Eine Erklärung dafür bietet die Tatsache, dass die Bruckner‘sche Musiksprache durch Wegelius, Sibelius und Madetoja sowie weitere Fuchs-Schüler – insbesondere Erkki Melartin (1875–1937), der 1898–1901 bei ihm lernte, später in Helsinki Komposition unterrichtete und das Konservatorium leitete – in Finnland als programmatischer Standard etabliert wurde. Wichtiger als die durchaus beeindruckende Rezeption in Aufführungen (Bruckners Siebente Symphonie wurde in Helsinki 1896 erstmals aufgeführt, ihr folgten die Vierte 1906, die Zweite 1908 und die Dritte 1921) war in Finnland die Etablierung des harmonisch fortgeschrittenen, aber tonalen Orchesterethos. Noch heute fällt die finnische Neue Musik eher durch große Orchesterpartituren à la Uljas Pulkkis (* 1975) als durch expressionistische Experimente international auf.
Anhand der Unterlagen des Anton Bruckner Instituts Linz (ABIL) sowie anderer verfügbarer Ressourcen (insbesondere des Konzertkalenders des Orchesterverbandes Suomen Sinfoniaorkesterit r.y. sowie der Konzertkalender der wichtigsten Orchester) lassen sich auch für die Zeit ab 1991 beachtenswerte Aktivitäten in Finnland feststellen. Die Tätigkeit prominenter finnischer Musiker im Ausland wurde hier für die finnische Bruckner-Rezeption nicht berücksichtigt. Exemplarisch sei jedoch auf Osmo Vänskä (* 1953) und Jukka-Pekka Saraste hingewiesen, die nicht nur Sibelius, sondern auch Bruckner bei Konzerten und Aufnahmen mit ihren nicht-finnischen Orchestern aufs Programm setzen. 2009 zeichnete Vänskä mit dem Minnesota Orchestra Bruckners Vierte (Fassung 1888) auf; Saraste führte im Herbst 2010 die Achte mit dem WDR Sinfonieorchester Köln auf.
Als jüngere Bruckner-Dirigenten des Nordens in der Nachfolge Funteks kristallisieren sich in der jüngsten Zeit etwa Petri Sakari (* 1958) in Turku sowie Saraste (* 1956) in Helsinki und Lahti heraus; aber auch John Storgårds (* 1963), Sakari Oramo (* 1965), Vänskä, Mario Venzago (* 1948) und der Chordirigent Seppo Murto (* 1955) haben Bruckner wiederholt dirigiert.
Von Oktober bis Dezember 2001 war in Helsinki die von Christina Budimir-Halbmayr, Renate Grasberger und Elisabeth Maier konzipierte Wanderausstellung Anton Bruckner. Lebenswelt – Lebenswerk zu sehen (Ausstellungen).
Literatur
- Leevi Madetoja, Jean Sibeliuksen taiteilijanuran yleiset piirteet [Überblick über die künstlerische Karriere Jean Sibelius‘], in: Helsingin Sanomat 8.12.1915 [Artikel auch in: Erkki Salmenhaara, Leevi Madetoja. Kirjoituksia musiikista [Leevi Madetoja. Musikartikel], in: Musiikki 17 (1987) H. 3/4, S. 1–190, s. S. 75–88]
- Erkki Salmenhaara, Leevi Madetoja. Helsinki 1987, S. 85ff.
- Bo Marschner, 100 Jahre Bruckner-Rezeption in den nordischen Ländern, in: Bruckner-Symposion 1991Othmar Wessely (Hg.), Bruckner-Symposion. Bruckner-Rezeption. Im Rahmen des Internationalen Brucknerfestes Linz 1991. 18.–22. September 1991. Bericht. Linz 1994, S. 185–200
- Glenda Dawn Goss (Hg.), Jean Sibelius. The Hämeenlinna Letters. Scenes from a Musical Life 1874–1895. Espoo 1997
- Elisabeth Maier, Zur Eröffnung der Wander-Ausstellung „Anton Bruckner. Lebenswelt – Lebenswerk“, in: Bruckner-Tagung 1999Elisabeth Maier/Andrea Harrandt/Erich Wolfgang Partsch (Hg.), Bruckner-Tagung Wien 1999. 11.–13. November 1999. Bericht (Bruckner-Vorträge). Wien 2000, S. 129f.
- Suvisirkku Talas (Hg.), Sydämen aamu. Aino Järnefeltin ja Jean Sibeliuksen kihlausajan kirjeitä [Der Briefwechsel zwischen Aino Järnefelt und Jean Sibelius während ihrer Verlobungszeit]. Helsinki 2001
- Peter Revers, Wien 1890. Jean Sibelius, Anton Bruckner, Carl Goldmark, Robert Fuchs, in: Hartmut Krones (Hg.), Jean Sibelius und Wien (Wiener Schriften zur Stilkunde und Aufführungspraxis. Sonderband 4). Wien–Köln–Weimar 2003, S. 15–21
- Hartmut Krones, „… das alte liebe Wien wiederzusehen …“ Jean Sibelius und Wien 1890–1956, in: Hartmut Krones (Hg.), Jean Sibelius und Wien (Wiener Schriften zur Stilkunde und Aufführungspraxis. Sonderband 4). Wien–Köln–Weimar 2003, S. 23–64
- Tomi Mäkelä, „Poesie in der Luft“. Jean Sibelius. Studien zu seinem Leben und Werk. Wiesbaden 2007
- Tomi Mäkelä, Einige Notizen zur Rezeption Anton Bruckners in Finnland, in: IBG-MitteilungsblattMitteilungsblatt der Internationalen Bruckner-Gesellschaft. Studien & Berichte. Hg. v. der Internationalen Bruckner-Gesellschaft. Wien 1971ff. Nr. 85 (Dezember 2015), S. 8–13
- Aufführungsmeldungen in den IBG-Mitteilungsblättern