Chromatik

Simon Sechter, der bedeutende Musiktheoretiker, bei dem Bruckner 1855–1861 studierte, verglich 1853 in seinem Werk Die Grundsätze der musikalischen Komposition die Diatonik mit einer Familie, in der jeder „an seinem Platze ist und zu rechter Zeit erscheint“, und die Chromatik mit mehreren verwandten Familien, die jedoch noch „unter einem gemeinschaftlichen Oberhaupte vereinigt“ (Sechter, S. 218) seien. Die häufig mit der Chromatik einher gehenden enharmonischen Modulationen seien dagegen „die natürlichen Feinde der gesunden Melodie“ und „das Bild der grossen Welt, worin das Familienleben untergeht und wo die Täuschungen häufig vorkommen“ (Sechter, S. 218).

Die Wirkung, die Sechter der Chromatik zuschrieb – sie mache „die Melodie reicher, besonders aber leidenschaftlicher“ (Sechter, S. 218) –, war nicht neu, stand aber im 19. Jahrhundert, nicht zuletzt dank Richard Wagner, dessen Werke Bruckner Mitte der 1860er Jahre in Linz und München studieren konnte, im Brennpunkt des Interesses und ließ sich ebenso in neuartigem Kontext wie auf bewährte Weise verwenden.

Etwa mit chromatischen Abwärtsbewegungen als Ausdruck von Schmerz, beispielsweise in den ersten Kyrie- und Christe eleison-Rufen der Messe in d‑Moll oder beim Wort „Tränen“ in Um Mitternacht (WAB 90), folgt Bruckner den kompositorischen Konventionen. Auch die Erzeugung von Spannung durch den Kontrast von Chromatik und Diatonik, die in Das hohe Lied eine sehr effektvolle Wirkung erzielt, ist keine Erfindung Bruckners. In diesem Männerchor führt er den Weg eines Wanderers durch „des Waldes Dunkel“ – chromatisch abwärts verschobene verminderte Septakkorde – „hin auf die Berge“ mit einfachem E‑Dur, dessen Helligkeit Bruckner nach den Halbtonschritten im pp durch fanfarenartige Dreiklangsbrechungen im f betont.

Avanciert wirkt Bruckners Chromatik besonders da, wo sie bekannte Wendungen übersteigert oder verfremdet. So haben z. B. die seit Jahrhunderten gebräuchlichen Sextakkordketten im Psalm 150, in dem sich selbst das an Chromatik reiche Fugenthema nach und nach zu einem homophonen Satz (ca. ab T. 203) mit chromatisch auf- und abwärts verschobenen Klängen verdichtet, einen außergewöhnlichen Effekt. Ihre schiere Masse – auf den Höhepunkt der Wellenbewegung in T. 211 folgen noch acht weitere Rückungen – ist nicht weniger mächtig als das dreifache forte. In der Marienantiphon „Tota pulchra es, Maria“ ließe sich die Rückung von B- nach A‑Dur bei „Tu gloria Jerusalem“ als Variante des vorhergehenden phrygischen Schusses erklären, bei dem ebenfalls eine kleine Sekunde im Bass liegt. Allerdings sind B- und A‑Dur hier Grundakkorde, denen noch C‑Dur vorangestellt wird, und wenig später heben nach einer Modulation von d‑Moll nach Des‑Dur ein plötzliches D- und C‑Dur die Worte „Intercede pro nobis“ hervor. Diese Rückungen, gleich ob diatonisch oder chromatisch, ob als Varianten üblicher Klangverbindungen noch oder nicht mehr erklärbar, sind „absolute Fortschreitungswirkungen“ (Kurth 1920, S. 249), die Ernst Kurth in der romantischen Harmonik und ganz besonders bei Bruckner rühmt. Insofern, als Bruckner sie besonders gern einsetzt, wenn es um das Erhabene oder Göttliche geht, führt er eine alte Tradition fort.

Ein Spiel mit der Hörerwartung, die plötzlich durchbrochen wird, ist die ganz konventionelle Sequenz auf der Basis von Quartfällen und Sekundaufstiegen, mit denen im Ave Maria (WAB 7) das Wort „[ora pro nobis] peccatoribus“ unterlegt ist. Nach b- und f‑Moll, Ges- und Des‑Dur rückt Bruckner das nächste zu erwartende Sequenzglied (es- und b‑Moll) mit D- und A‑Dur um einen Halbton nach unten. Des- und D‑Dur prallen also unmittelbar aufeinander. Das chromatische Intervall as–fis in der Melodie erhöht den Klangreiz (T. 48f.). Die chromatisch-enharmonischen Sequenzen, bekannt als „Teufelsmühle“ (Emmanuel Aloys Förster, Anleitung zum General-Bass. Wien 1805, § 93, Bsp. 134), sind bei Bruckner, und auch bei anderen Komponisten, beliebte Satzmodelle. Im 1877 vollendeten Finale der Fünften Symphonie beschließt die „Teufelsmühle“ (in Gestalt einer Folge von vermindertem Akkord, Moll-Quartsextakkord und Septakkord über chromatischem Bass, deutlich zu erkennen ab T. 579, vorher fragmentiert) in der Coda eine Überleitung in die triumphale Wiederaufnahme des Chorals und 2. Themas der Doppelfuge. Sie ist hier eine Steigerung voriger chromatischer Passagen (z. B. T. 476ff. und T. 496ff.). Die Modulation von Es- nach E‑Dur in Virga Jesse mit der chromatischen Bassstimme und dem Halteton es/dis basiert auf demselben Sequenzmodell, das aber – in erster Linie durch den modellfremden und dissonanten Ton g – stark modifiziert ist. Da auch einige andere Töne vom Modell abweichen, veranschaulicht diese Passage laut Kurth, dass chromatisch konzipierte Stimmführung bei Bruckner auch so verändert werden könne, dass sie „nur ideell als Linie“ (Kurth 1920, S. 203) zu denken sei.

Notenbeispiel 1: Virga Jesse, SATB, T. 52-63.

Kurth beschreibt, wie sich in derartigen Passagen „wie in einem innern Auflösungsprozeß die ursprüngliche Tonalität der Klangfortschreitungen […] in das chromatische Weiterfluten der Stimmen zersetzt.“ (Kurth 1920, S. 202). Funktional ist Bruckners Chromatik daher oft nicht mehr zu erklären; sie mündet aber „in tonale Akkorde, wie in Grundpfeiler des Satzes“ (Kurth 1920, S. 202).

Die Chromatik hat oft eine formbildende Funktion, gerade weil sie zunächst schwer verständlich wirkt. So geht beispielsweise im 4. Satz der Zweiten Symphonie die Überleitung mit einem As‑Dur-Septakkord (T. 75) gerade nicht in den Seitensatz über, der in A‑Dur beginnt. Die Reprise mildert das durch ein chromatisches Gleiten nach C‑Dur und wirkt so als Konfliktlösung in einem zielgerichteten Prozess (vgl. Hinrichsen). Im 1. Satz der Dritten Symphonie löst der Widerspruch zwischen dem Beginn des Themas in einfachem d‑Moll und seinem chromatisch durchsetzten Ende mehrere Steigerungswellen aus, in denen die Chromatik, kombiniert mit komplexerer Stimmführung, zu monumentaler Diatonik hinführt, etwa zu der nur scheinbaren (T. 341) und der richtigen Reprise (T. 430 in der 3. Fassung) (vgl. Krummacher). Auch vor der triumphalen Wiederkehr dieses Themas im Finale, diesmal in Dur, finden sich chromatische Steigerungspassagen. Dieses Verfahren wiederholt sich in den späteren Symphonien. Chromatische Passagen oder Brüche, die von den Themenbildungen ausgehen und einen finalorientierten Spannungsverlauf erzeugen, sind für Bruckner charakteristisch. Ohne dass derartigen Prozessen ausdrücklich Programme zugrunde liegen, bilden sie doch dramatisch generierte Formen: Konflikte, symbolisiert durch Chromatik, gelangen zu einer Lösung, meist im schier überwältigenden affirmativen diatonischen Dur der Choräle – wie in einer „spiritual pilgrimage“ (vgl. Hatten, S. 179).

Literatur

MARIE-AGNES DITTRICH

Zuletzt inhaltlich bearbeitet: 17.11.2017

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