Gesamtausgaben
Die komplizierte, missverständliche und an Manipulationen reiche Überlieferungsgeschichte der Werke Bruckners veranlasste Georg Göhler 1919 zur nachdrücklichen Forderung nach einer „einwandfreie[n], streng wissenschaftliche[n] Ausgabe“ (Göhler, S. 295). 1927 hob die aus bereits bestehenden Bruckner-Vereinigungen (Bruckner-Gesellschaften) neu gegründete Internationale Bruckner‑Gesellschaft (IGB) in Leipzig als ihre „wichtigste Aufgabe“ (Göll-A. 4/4, S. 87) die Herausgabe des Gesamtwerkes Bruckners hervor. Mittels einer „peinlich genaue[n], traditionsgeleitete[n] Textkritik“ sollte der „Urtext“ als „Grundlage für künftige praktische Ausgaben“ (Göll-A. 4/4, S. 87) ediert werden. Die Editionsleitung wurde Robert Haas als Vertreter der Österreichischen Nationalbibliothek gemeinsam mit Alfred Orel übertragen; den Druck übernahm statt wie ursprünglich vorgesehen Breitkopf & Härtel der Verlag Filser in Augsburg. Das war der Beginn der Alten Gesamtausgabe (AGA).
1930 erschien der erste Band (Nr. 15) der AGA mit den Erstdrucken der Missa solemnis und dem Requiem in d‑Moll (WAB 39). 1933 erfolgte die Auflösung des Filser-Verlags; eigens für die weitere Herausgabe der AGA wurde von der IGB noch im selben Jahr der Musikwissenschaftliche Verlag Wien (MWV) gegründet. Der von Filser zwar schon gestochene, aber noch nicht publizierte zweite Band mit der Neunten Symphonie wurde vom MWV noch 1933 herausgegeben. Anhand dieses Drucks der Neunten führte Siegmund von Hausegger mit den Münchner Philharmonikern die berühmte Gegenüberstellung der Fassung von Ferdinand Löwe und der „Originalfassung“ durch, womit eine heftige Diskussion um die Fassungen ausgelöst wurde.
Im MWV erschienen die Symphonien nun regelmäßig in Dirigier- und Studienpartituren, ergänzt durch sogenannte „Berichte“, die über die Quellenlage Auskunft geben. Nach dem Ausscheiden von Orel wurde 1937 Leopold Nowak neuer Mitarbeiter von Haas. Der weitere Weg der AGA erwies sich bald als problematisch, weil sich Haas bei der Zweiten und später bei der Achten Symphonie für sogenannte Mischfassungen (Vermengungen verschiedener Arbeitsstadien Bruckners) entschied. 1944 – mit dem Erscheinen der Siebenten Symphonie und der Messe in f‑Moll – endete kriegsbedingt Haas‘ Editionsarbeit. Insgesamt konnte Haas als Editionsleiter der AGA sieben großformatige Partiturbände vorlegen, zu denen parallel zwölf Studienpartituren erschienen.
Von 1944 bis 1951 erschienen elf Bände in der „Zwischen-Edition Wiesbaden“ (Bruckner-Verlag Wiesbaden). Es handelte sich hier, mit Ausnahme der Ausgabe der Dritten Symphonie (2. Fassung) von Fritz Wilhelm Paul Oeser, um Nachdrucke der AGA. Auch der Verlag Breitkopf & Härtel in Leipzig nahm in diesen Jahren einige Nachdrucke der AGA vor.
1951 begann der wiedererrichtete MWV in Wien unter der Editionsleitung von Nowak mit einer Neuen Gesamtausgabe (NGA) der Werke Bruckners in verkleinertem Format. „Leopold Nowak hat es sich zur Aufgabe gemacht, die bereits vorhandenen Bände der Gesamtausgabe in einer zweiten, revidierten Ausgabe zu edieren, den Text durch Erschließung neuen Quellenmaterials zu vervollkommnen und die bisher noch nicht bearbeiteten Werke zu veröffentlichen. Er bekennt sich zu einer vollkommen korrekten philologischen Methode, die vom früheren Herausgeber manchmal dadurch verlassen wurde, daß er verschiedene Fassungen zu einer einzigen Werkgestalt vereinigte und damit den Boden der Werktreue verließ.“ (Grasberger, S. 534). Bis auf wenige Ausnahmen gab Nowak die einzelnen Werke bis 1987 selbst heraus; nach seinem Tod übernahm Herbert Vogg die Editionsleitung und bemühte sich die Gesamtausgabe erstmals auch unter Heranziehung internationaler Bruckner-Experten fortzuführen und abzuschließen, was bezüglich der edierten Notentexte 2001 gelang. Als erster Band erschien 1951 die Fünfte Symphonie. Die Revisionsberichte wurden als eigene Bände geplant. Die Leitlinie des Unternehmens, im ersten Prospekt prägnant formuliert, hieß: „Unbedingt zuverlässige Notentexte, Mitteilung aller erreichbaren Skizzen, Vorstufen, Abweichungen und Fassungen.“ (zit. n. Abb. bei Nowak, S. 65). So wurden eine Reihe neuer Quellen eingearbeitet und die Fassungen differenziert. Die Dritte Symphonie z. B. liegt nun in drei Fassungen vor, das Adagio Nr. 2 (1876) in Es‑Dur zusätzlich in einer eigenen Ausgabe. Einige Ausgaben wurden nachträglich revidiert bzw. durch zusätzliche Bände erweitert: Die Zweite Symphonie etwa wurde von William Carragan in nunmehr zwei Fassungen neu herausgegeben, die Vierte Symphonie von Benjamin Marcus Korstvedt um eine 3. Fassung (1888) ergänzt. Seit 2005 liegen alle Notenbände sowie die Briefedition abgeschlossen vor, einige Revisionsberichte hingegen fehlen noch. 2014 wurde die ursprünglich auf 24 Bände konzipierte Gesamtausgabe mit der Faksimile-Ausgabe des sogenannten „Kitzler-Studienbuchs“ um Band 25 erweitert.
Um die umfangreichen neuen wissenschaftlichen Erkenntnisse, die sich in der Bruckner-Forschung vor allem der letzten Jahrzehnte ergeben haben, in das Projekt Gesamtausgabe einfließen zu lassen, hat sich der MWV 2011 entschlossen, das Gesamtwerk Bruckners nach modernen Editionsrichtlinien komplett neu herauszugeben. Im Unterschied zu den früheren Gesamtausgaben wird die Neue Anton Bruckner Gesamtausgabe (NBG) durch ein mehrköpfiges Editionsleitungsteam sowie einen wissenschaftlichen Beirat supervidiert. Des Weiteren enthält jeder Band nun einen ausführlichen Textteil mit Vorwort und Editionsbericht auf Deutsch und Englisch. Die NBG erscheint im Auftrag der Internationalen Bruckner‑Gesellschaft und steht unter der Patronanz der Wiener Philharmoniker. Der erste Band, die Ersten Symphonie (1. Fassung), die erstmals auf den Notentext der Uraufführungsfassung von 1868 zurückgeht (Hg. Thomas Röder), liegt seit September 2016 gedruckt vor.
Unabhängig davon erscheint seit 2015 unter der Editionsleitung von Benjamin-Gunnar Cohrs die Anton Bruckner Urtext Gesamtausgabe (ABUGA) in der Bruckner Edition Wien, einem Label der Verlagsgruppe Hermann Wien. Bislang sind in dieser Edition zwei Werke, die Sechste und Siebente Symphonie, zur Aufführung gelangt. Druckausgaben sind bis dato nicht veröffentlicht, das Aufführungsmaterial ist leihweise erhältlich.
Literatur
- Georg Göhler, Wichtige Aufgaben der Musikwissenschaft gegenüber Anton Bruckner, in: Zeitschrift für Musikwissenschaft 1 (1918/19) H. 5, S. 293ff.
- Göll-A.August Göllerich/Max Auer, Anton Bruckner. Ein Lebens- und Schaffensbild (Deutsche Musikbücherei 36–39). 4 Bde. (in 9 Teilbänden [1, 2/1–2, 3/1–2, 4/1–4]). Regensburg 1922–1937, unveränd. Nachdruck 1974 4/4, S. 87f.
- Franz Grasberger, Die Bruckner-Gesamtausgabe, in: ÖMZÖsterreichische Musikzeitschrift. Wien 1946ff. 21 (1966) H. 10, S. 531–534
- Leopold Nowak, Die Bruckner-Gesamtausgabe. Ihre Geschichte und Schicksale, in: Bruckner-JahrbuchBruckner-Jahrbuch. (Wechselnde Herausgeber). Linz 1980ff. 1982/83, S. 33–67
- Herbert Vogg, Ein Versprechen wurde eingelöst, in: Bruckner-JahrbuchBruckner-Jahrbuch. (Wechselnde Herausgeber). Linz 1980ff. 1997–2000, S. 95–102
- www.mwv.at [15.2.2017]
- www.hermann.eu [15.2.2017]
- www.bruckner-online.at [15.2.2017]