Persönlichkeit

„Das Wirken hervorragender Menschen pflegt bei Zeitgenossen und Nachwelt bestimmte, sehr oft fixierte Vorstellungen von ihrer Bedeutung und Persönlichkeit hervorzurufen. Mensch und Werk werden dabei gewöhnlich in einer zumeist wohl unreflektierten Einheitlichkeit gesehen, wie es etwa in der Musik bei den Wiener Klassikern und insbesondere bei Beethoven der Fall ist. Aber auch bei späteren Komponisten, etwa Brahms und Wagner, erscheint zumindest die Vorstellung von der Persönlichkeit als Hintergrund des Schaffens durchaus möglich. Bei Bruckner will sich eine solche Einheit nur schwer, wohl überhaupt nicht einstellen. In welchem seiner überlieferten, oft ja stark voneinander differierenden Bilder wir ihn uns vergegenwärtigen – es bleibt ein Sprung zum Werk, die Verbindung von Mensch und Werk läßt sich nicht mit der üblichen Selbstverständlichkeit vorstellen. So erhebt sich die Frage: Gibt es hier wirklich keine Verbindung, oder sind wir über den vielen Äußerlichkeiten nicht zum ‚eigentlichen‘ Bruckner vorgedrungen?“ Damit umschreibt Theophil Antonicek (Hofmusikkapelle, S. 9) nicht nur ein Problem der seriösen Biografik (Biografien), sondern nennt gleichzeitig auch einen Ansatzpunkt der Belletristik (Literatur). In der Tat entsprach das Phänomen „Bruckner“ in keinem einzigen Punkt dem „Künstlerbild“ (um nicht zu sagen: dem Klischee) des 19. Jahrhunderts: nicht in seinem Äußeren und seiner Lebensart, nicht in seinem Umgang mit den Zeitgenossen, nicht in seinem unverhohlenen Praktizieren seines Glaubens. Freilich öffnete sich diese Kluft erst mit Bruckners Übersiedlung von Linz nach Wien, mit den dadurch veränderten gesellschaftlichen Voraussetzungen.

In Linz war Bruckner neben dem Orchesterdirektor und Domkapellmeister Karl Zappe und dem jeweiligen Chorleiter der Liedertafel „Frohsinn“ (zweimal war er es selbst) einer der führenden Männer des Musiklebens. Von seinem Mitte der 1850er Jahre – zur Zeit seines Dienstantritts in Linz – durchaus vorhandenen Selbstbewusstsein zeugt anschaulich das 1854 in Wien anlässlich eines Besuches bei Ignaz Assmayr aufgenommene Foto (IKO 1), auf dem Bruckner sich mit dem damals allgemein verständlichen Künstlersymbol, der Notenrolle, präsentiert, stadtfein gekleidet, mit tadellosem Anzug und auffallender Uhrkette.

Die Ursache für das jähe Umschlagen in ein gesellschaftliches Unangepasst-Sein darf jedoch nicht nur im Standortwechsel gesehen werden, sondern auch darin, dass durch Bruckners Leben um ebendiese Zeit eine harte Bruchlinie verläuft: Er geriet im Frühjahr 1867 in eine schwere Nervenkrise (Bad Kreuzen), kurz zuvor war sein – vielleicht einziger (relativ) ernsthafter – Heiratsantrag von Josefine Lang abgelehnt worden; im Zentrum der psychischen Belastungen schien jedoch die Angst gestanden zu sein, sich eine seinem Genie mehr entsprechende Wirkungsstätte erobern zu müssen. Aus allen diesen extrem belastenden Erlebnissen ging Bruckner geprägt hervor: als ein komplizierter, nicht vorschnell einzuordnender Charakter. Persönliche Eigenheiten zeichneten sich – nicht nur bedingt durch das Älterwerden – scharf konturiert ab; ihre Widersprüchlichkeit führte – stets abhängig von der subjektiven Auswahl und Deutung durch die Berichtenden – zur Ausprägung der verschiedensten „Bruckner-Bilder“ (Rezeption).

Das „Original“

Bruckner war keineswegs von so fast zwergenhaftem Wuchs, mit dem ihn die Karikatur mehr oder weniger liebevoll darstellte (Ikonografie). Er hatte eine Körpergröße von ca. 1,70 m, war von untersetzter Statur, neigte zur Beleibtheit, war jedoch außerordentlich behände, ein vorzüglicher Schwimmer und Taucher sowie (lt. Johann August Dürrnbergers jüngster Nichte Marie Madeleine) ein „ziemlich guter Tänzer“. Das dunkelblonde, später fahle, zuletzt weiße Haar trug er stets kurz geschnitten (war also keineswegs kahlköpfig), dazu ein „Kavaliersbärtchen“ über der Oberlippe, auf das er sehr stolz war.

Seine Kleidung war nicht, wie er selbst sie bezeichnete, „einfach, aber elegant“, sondern wich in vielen Details vom zeit- und ortsüblichen Schnitt ab, war in erster Linie auf Bequemlichkeit (weite, kurze Jacke) und Bewegungsfreiheit (knöchelkurze Hosen) angelegt und trug seiner „Platzangst“ Rechnung, die er offenbar auch innerhalb eines allzu engen Kragens verspürte: Er begründete seinen halsfernen, weichen Umlegekragen und die lose gebundene Künstlermasche mit einem „inwendigen Kropf“. Dazu trug er Zugstiefletten, für die er eine wahre Manie entwickelte (zuletzt soll er nicht weniger als 34 Paar besessen haben), einen großen schwarzen Schlapphut (der zumeist als Fächer eingesetzt wurde, wenn Bruckner seine „Hitz‘n“ hatte) und ein auffallend großes, farbiges (meist rotes oder blaues, kariertes oder getupftes) Taschentuch, das, zusätzlich zu seiner ureigenen Bestimmung, auch als Schweißtuch diente und (im sauberen Zustand) bei Einladungen als Transportbehältnis für mitgebrachten Kuchen Verwendung fand.

Der Träger dieser für Wiener Verhältnisse tatsächlich unangepassten „Tracht“, die nach den vorhandenen Modellen immer wieder gleich angefertigt werden musste, hatte ein ausgeprägtes Reinlichkeitsbedürfnis und war insgesamt von gesunder, kräftiger Konstitution. An dieser übte freilich die enorme berufliche Belastung, verbunden mit einer ungesunden Ernährung, vehementen Raubbau: Am Höhepunkt seiner beruflichen Tätigkeit hatte Bruckner ein wöchentliches Arbeitspensum von etwa 40 Stunden, Wegzeiten nicht gerechnet. Zu Hause am Abend verzehrte er zwei große Teller Suppe, komponierte dann und traf sich sehr spät, oft erst ab 22 oder 23 Uhr, mit seinen meist jugendlichen Freunden und Schülern in einem seiner bevorzugten Gasthäuser. Zu einem üppigen Nachtmahl trank er mehrere, oft über zehn Gläser Bier, die zwar meist fast zur Hälfte aus Schaum bestanden, doch als Menge immer noch beträchtlich blieben – erklärbar aus Bruckners Flüssigkeitsbedarf, da er heftig transpirierte, besonders beim anstrengenden Orgelspiel. An den „freien“ Tagen, die ihm zum Schaffen gegönnt waren, konsumierte er zu Hause literweise kalten, schwarzen Kaffee, um geistig frisch zu bleiben.

Seinem Hauswesen stand nach seiner früh verstorbenen Schwester Maria Anna (Bruckner, Familie) ab dem Jahr 1870 Katharina Kachelmaier vor, sein „Hauskorporal“, wie er seine treue Wirtschafterin scherzhaft nannte. Die Einrichtung seiner Wohnräume war extrem spartanisch: Als einzigen Luxus gönnte er sich ein englisches Messingbett mit guter, damals ganz moderner Federung. Für viele Besucher seiner Wohnung in der Wiener Heßgasse auffallend mögen eine oder mehrere (die Anzahl differiert in den verschiedenen Berichten) blau gestrichene Wände gewirkt haben; nach den Erkenntnissen der Farbpsychologie ist jedoch diese Farbe für nervöse, gereizte Menschen sehr beruhigend; in Bruckners Fall geht ihre Wahl vielleicht auf eine Empfehlung eines Arztes in Bad Kreuzen zurück.

Zieht man die Summe aus diesen rein äußerlichen Beobachtungen, so ergibt sich eine ausgeprägte, originelle Erscheinung, die von Bruckner offenbar auch selbst wie eine Art Mimikry gepflegt wurde, hinter der sich jedoch ein verletzliches Inneres verbarg. Die Jugend verehrte ihn zum Teil eben wegen dieses unbürgerlichen Auftretens – und suchte Bruckner nicht gerade den Kontakt mit der Jugend, weil, wie Richard Wagner einst zu ihm gesagt hatte, dem, auf dessen Seite die Jugend sei, die Zukunft gehöre?

Beziehungen

„Der Componist [...] ist unstreitig ein Original; er muß aber wenige oder gar keine Freunde haben“, resümierte Franz Gehring im Feuilleton der Deutschen Zeitung (19.12.1877, S. 1). Hatte Bruckner Freunde? Diese Frage ist sehr schwer zu beantworten, denn eine Mimikry scheint Bruckner auch im Umgang mit seinen Mitmenschen gepflegt zu haben. Er war im Grunde verschlossen und scheu, wie es auch der zumeist zurückhaltende, manchmal sogar misstrauische Blick der hellblauen Augen ausdrückte. Dieser Verschlossenheit im Umgang entsprachen auch seine extrem formelhaften Briefe, die über eine vormärzliche Gestelztheit kaum hinausreichten. Im vertrauten Kreis mit überwiegend jüngeren Schülern und Interpreten, wo er sein Werk geliebt und verstanden sah, ging er mehr aus sich heraus. In seiner Jugendzeit war er gesprächiger, teilte auch Persönliches mit, insbesondere in den Briefen an seinen Freund Rudolf Weinwurm; später ist in seiner Korrespondenz eine eigentümliche Akzentverschiebung zu bemerken: weg vom Persönlichen, hin zum Werk: „Die Briefe aus der Linzer Zeit und den ersten Jahren des Wiener Aufenthaltes beschäftigen sich noch mehr mit den persönlichen Verhältnissen und lassen uns Blicke in das Seelenleben des Meisters tun, während die späteren sich mehr mit der Sorge um das Schicksal der Werke befassen und in den letzten Jahren oft von lapidarer Kürze sind.“ (Auer, S. 9).

Bruckner war allerdings alles andere als kontaktscheu, was sich schon mit den 309 Literaturangaben (bis 1974) im Kapitel 11 der Bruckner-Bibliographie I (Persönliche Beziehungen – Verbindungen zu Institutionen) belegen lässt. Zu seinem Bekanntenkreis zählten Schüler, Frauen, bedeutende Zeitgenossen, Kritiker, Verleger (Verlage), Mäzene, Geistliche, Lehrer, Vorgesetzte, Kollegen usw. Je nach Art der Beziehung verschieden war auch Bruckners Verhalten, umspannte die ganze Skala von nahezu peinlich übertriebener Devotion gegenüber (auch nur vermeintlich) Höhergestellten bis zu einfacher, ungeschützter Vertraulichkeit gegenüber Freunden. Dazwischen lagen die widersprüchlichsten Haltungen, die die Menschen seiner Umgebung nicht immer nur sympathisch berührten:

das manchmal sehr „bauernschlau“, wenn nicht gar penetrant und egoistisch anmutende Einsetzen von Bekannten, Schülern und Freunden für zu erreichende Ziele (Protektionen, Aufführungsmöglichkeiten, finanzielle Unterstützungen, Ehrungen, Wohnungen etc.) neben offener Freundlichkeit und großzügiger Güte;

ein extremes Sicherheits- und Absicherungsbedürfnis in allen Bereichen (materiell, künstlerisch, religiös), das ihn vor Entscheidungen oft quälend zögern ließ und in den späten Jahren zu dauernder Angst vor materieller Armut führte (Finanzen);

Unsicherheit und übersteigerte Selbstkritik neben einem verblüffenden Bewusstsein der eigenen Größe;

angeborener „pädagogischer Eros“ im Umgang mit den Studenten am Konservatorium der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien und an der Universität Wien neben Unfreundlichkeit und Ungeduld in den Privatstunden, wenn er unter dem Druck des Schaffenwollens stand.

Diesen so differierenden Verhaltensweisen entsprach auf der Gegenseite auch eine höchst unterschiedliche Einschätzung: Nicht nur künstlerische Fragen, sondern auch schon die Person Bruckners selbst spaltete die ihm begegnenden Zeitgenossen in zwei Lager, ein ablehnendes und ein zustimmendes, ja verehrendes.

Geistiges Profil

Bruckner unterschied sich nicht nur in seinem Äußeren und seinem Auftreten vom Großstadtbürger des 19. Jahrhunderts, er entsprach auch nicht dem, was man als „Bildungsbürger“ bezeichnet: Sein Werk schien in zunehmendem Maße alle anderen Interessen zu absorbieren. Obwohl er von seiner Ausbildung her zu den privilegierten oberen Zehntausend (vgl. Zamazal, S. 243) gehörte, hatte er so gut wie gar kein Interesse an Literatur, bildender Kunst und Theater, wovon eine extrem dürftig bestückte Bibliothek zeugt. (Eine Ausnahme bildeten lediglich die Opern R. Wagners, die er jedoch, wie berichtet wird, zumeist mit einem Klavierauszug ohne Text, also nicht als „Gesamtkunstwerk“ mitverfolgte, sondern ausschließlich der Musik wegen.) Sein eigenes künstlerisches Werk wurde immer zentraler; die Gespräche in geselligen Runden waren nicht mehr als harmlose Erholungsstunden, für die ihm sein Arzt in Bad Kreuzen jede geistige Anstrengung verboten hatte, oder dienten seinem Bedürfnis nach Interessantem und Spektakulärem weitab der Musik, wie die Diskussionen mit Ärzten bei deren Zusammenkünften im „Riedhof“. Das konnte soweit führen, dass er bei zu „schwer“ gewordenen Konversationen – etwa über Goethe – mit einem lärmenden „Prost!“ dazwischenfuhr und sie so beendete.

Inwieweit ihn die Natur beeindruckte, ist ungewiss; zwar gibt es speziell in seiner Chormusik (z. B. Abendzauber) und v. a. in der „Romantischen“ Vierten Symphonie Passagen, die man nicht anders als mit „Naturnähe“ bezeichnen kann, doch sind dies Einzelerscheinungen, ebenso wie die sprachlich sehr ungelenken Aufzeichnungen in seinen Taschen-Notizkalendern von seiner Schweizerreise im Jahr 1880, übrigens seiner einzigen größeren Urlaubsreise (Reisen). In der Landschaft faszinierten ihn v. a. Extreme, z. B. hohe Berge wie der Großglockner oder der Montblanc.

Von Extremen und Extremsituationen angezogen zu sein, kennzeichnete Bruckners Psyche überhaupt. Er suchte solche Situationen manchmal absichtlich auf, oft gerade die düsteren, „nachtseitigen“. Mit Schaudern, Belustigung oder aber distanziertem klinischem Interesse – je nach der persönlichen Einstellung der Berichtenden – werden Ereignisse wie z. B. Bruckners Wunsch, den Leichnam Kaiser Maximilians von Mexiko zu sehen, überliefert, sein Interesse an den Toten des abgebrannten Ringtheaters, an der Exhumierung der sterblichen Überreste Ludwig van Beethovens und Franz Schuberts, an sein für viele unbegreifliches Engagement im Prozess gegen den Mädchenmörder Hugo Schenk (das freilich von seinen Schülern listigerweise angefeuert wurde), an sein Aufsuchen des Burgverlieses von Altpernstein (um die Schrecken des Eingekerkertseins nachvollziehen zu können) oder an sein eifriges Sammeln von Nachrichten über die österreichische Nordpolexpedition (eine Zeitschrift hierüber, Die Nordpolfahrer, war übrigens sein einziges Abonnement). Viele dieser auf den unvorbereiteten Leser fast makabren Interessen hatten jedoch einen Kontext, der sie zwar nicht zur Gänze, aber doch um vieles verständlicher macht: Kaiser Maximilian wäre, wie wir heute als fast gesichert annehmen können, vielleicht Bruckners Dienstherr geworden; in den Ringtheaterbrand am 8.12.1881 wäre Bruckner fast selbst hineingeraten, da er die Vorstellung an diesem Tage besuchen wollte, die Karte jedoch zurückgegeben hatte; und wie sehr die sterblichen Überreste, die „Reliquien“ großer Menschen beeindrucken und sogar den Anstoß zu einer ganz bestimmten Richtung im eigenen Schaffen geben können, ist in unseren Tagen am Beispiel des Bildhauers Franz Seraph Forster ersichtlich.

Generell kann gesagt werden, dass es sich bei diesen von Bruckner aufgesuchten Grenzsituationen um solche auch in seiner Psyche selbst handelte: „Sicherlich hatte der Meister manche Sonderlichkeiten, und es ist auch kein Zweifel, daß sein oft über Gebühr angespanntes Hirn sich in manchen an das Abnorme grenzenden Zuständen äußerte, die den Fernstehenden gänzlich unverständlich, den Freunden hingegen als aufschlußreiche Anzeichen erschienen.“ (Eckstein, S. 49).

Einer dieser „Zustände“ war Bruckners Zählzwang, der akut im Jahre 1867 ausbrach und ihn Heilung in Bad Kreuzen suchen ließ, die jedoch nur zum größten Teil gelang: In Zeiten höchster Anspannung traten nämlich fallweise wieder Zähl- und Kontrollzwänge auf.

Der Hang zum Zählen, die Bedeutung der Zahl (Zahlensymbolik), die Akribie des Arbeitens (Arbeitsweise), ja selbst die peinlich genaue Einhaltung der Fastengebote und die sorgfältige, in den Notizkalendern schriftlich festgehaltene (und selbstverständlich nicht für fremde Augen bestimmte) Rechenschaft über die täglichen Gebete stellen Grenzfälle dar, die wiederum nicht ohne ihren Kontext betrachtet und beim religiösen Verhalten nicht ohne Kenntnis der Frömmigkeit im 19. Jahrhundert behandelt werden sollten: In dieser Zeit wurde oft der Akzent auf das Erbringen einer religiösen „Leistung“ gelegt, die den Gläubigen zumeist überforderte und manchmal sehr belastende, zermürbende Skrupel heraufbeschwor.

Bruckner war in sein religiöses Leben und in dessen zeitübliche Ausdrucksformen ganz selbstverständlich hineingewachsen. Das relativ späte Übersiedeln in die Großstadt, in das „liberale“, aufgeklärte Wien, hatte ihn die eher ländliche Frömmigkeitspraxis (etwa das ungenierte „Angelus-Beten“ mitten in einer Vorlesung) beibehalten lassen. Eine Großstadt, in der in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts das öffentliche katholische Leben fast zum Erliegen gekommen war, ließ Bruckners explizites religiöses Praktizieren noch auffallender erscheinen: „Um die Mitte des Jahrhunderts […] scheint es in Wien ein katholisches Leben nicht zu geben. Die Kirchen sind fast leer, nur Frauen führen das religiöse Leben weiter. Wirklich katholisch fühlende, kirchlich gesinnte Männer mag es in ganz Wien nicht 300 gegeben haben, fast möchte man sagen, den Klerus mit eingeschlossen.“ (Leb, S. 15). An diesem Zustand änderte sich bis in die 1890er Jahre im Wesentlichen nichts: „Auch der Redemptorist, langjährige Pöchlarner Stadtpfarrer und christlichsoziale Politiker Matthäus Bauchinger (1851–1934) erachtete in den 1890er Jahren 95 % der Wiener Männerwelt als nicht ‚katholisch‘ im kirchlichen Sinne. Seiner pessimistischen Einschätzung nach gehörte in diesen Jahren eine gehörige Portion Antiklerikalismus in weiten Teilen des mittleren und höheren Bürgertums, in Lehrerkreisen und bei den Arbeitern gleichsam zum ‚guten Ton‘. Erst die christlich-soziale Bewegung habe diesen Trend gestoppt.“ (Klieber, S. 23f.).

Zur Information über Bruckners religiöses „Innenleben“ sind wir auf die Deutung eines auch äußerlich erkennbaren markanten Phänomens angewiesen: So sind die Eintragungen in Bruckners Taschen-Notizkalendern nicht nur ein Beleg für die, wie oben erwähnt, häufig von einem „Leistungsdenken“ geprägte Frömmigkeitspraxis des 19. Jahrhunderts oder Bruckners heutzutage etwas skrupulös anmutenden Selbstkontrollen, sondern v. a. für täglich etwa zwei Stunden (!) geübte Meditation und Versenkung. Keine Belege (auch nicht in Bruckners Nachlass) gibt es hingegen für eine ausgedehntere Lektüre der Bibel, doch ist eine fundierte Bibelkenntnis Bruckners mit einiger Sicherheit vorauszusetzen.

Bei aller unbeirrten Akzeptanz der katholischen Kirche als Institution war Bruckner erstaunlich tolerant gegenüber Angehörigen anderer Konfessionen und Religionen und „missionierte“ nicht, zumindest nicht auf eine Weise, die vom Gesprächspartner als unangenehm empfunden wurde. Auch in seinem religiösen Denken scheint Bruckner weit weniger „naiv“ gewesen zu sein, als ihn die oft enge Sicht seiner Biografen zeichnete: Subtil verschlüsseltes „Theologisieren“ in seiner Kirchenmusik, insbesondere den Motetten, gibt davon beredtes Zeugnis.

Einen der tiefsten Einblicke in Bruckners religiös-philosophische Gedankenwelt gewährt ein Zitat aus der Inaugurationsrede des berühmten Anatomen Joseph Hyrtl (1810–1894), das Bruckner sich 1894, als schon Schwerkranker, in seinem Taschenkalender notierte und das ihn uns als einen von Zweifeln und Angst keineswegs Unangefochtenen zeigt: „Ist die Seele das Produkt des nach unabweislichen organischen Gesetzen arbeitenden Gehirns, oder ist dieses Gehirn vielmehr nur eine jener Bedingungen, durch welche der Verkehr eines immateriellen Seelenwesens mit der Welt im Raume vermittelt wird?“

Literatur

ELISABETH MAIER

Zuletzt inhaltlich bearbeitet: 1.9.2017

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