Nancy

Hauptstadt des französischen Départements Meurthe-et-Moselle, Handels‑ und Kulturzentrum Lothringens. Bis 1735 Herrschaftsgebiet von Franz Stephan von Lothringen (1708–1765), dem Gemahl von Kaiserin Maria Theresia (1717–1780). 1766 kam Nancy zu Frankreich. Anstelle der baufälligen Basilika St. Epvre aus dem 14./15. Jahrhundert mit Grabstätten der lothringischen Herzöge entstand ein neogotischer Neubau nach Plänen des Stadtarchitekten Mathieu Prosper Morey (1805–1886), der offensichtlich auch den Orgelprospekt entwarf. Preisgekrönte Orgel des Hauses Merklin & Schütze, die durch den Pfarrer Joseph Trouillet (1809–1887) von der Pariser Weltausstellung 1867 nach St. Epvre gelangte. Napoleon III. (1808–1873) und Kaiser Franz Joseph I., der die Kirche 1867 besuchte, zählten zu ihren Stiftern. 1872: ca. 53.000, 2017: ca. 104.000 EW.

Auf Anraten Eduard Hanslicks, der Bruckner als Organist sehr schätzte, wurde dieser anstelle des dazu nicht bereiten Hoforganisten Rudolf Bibl als Kommissionsmitglied zur Abnahme der Orgel und zu Konzerten nach Nancy entsandt. Expertisen und Berichte über die Orgel liegen u. a. von François Joseph Fétis ([1784–1871]; Berichterstatter der Jury) und Hanslick (Mitglied der Jury) vor. Letzterer, der nicht viel vom Orgelbau verstand, dürfte insbesondere von Fétis informiert worden sein. Pfarrer Trouillet hatte sich wegen der historischen habsburgisch-lothringischen Beziehungen wohl über den am Neubau beteiligten Glasmaler Carl Geyling (1814–1880) an den Wiener Hof gewandt (Brief im bischöflichen Archiv in Nancy). Bruckner brach am 24.4.1869 in Wien auf.

Nach vorverlegter Abnahme am 27.4.1869, bei der Bruckner als Kommissionsmitglied das Gutachten unterzeichnete, fand am 28.4. das erste Konzert mit der Orgelweihe sowie Vorführung der Register durch Charles-Victor Dubois (1832–1869) unter Mitwirkung der Maîtrise von St. Epvre statt – ohne gedrucktes Programm, lediglich ein handgeschriebener Vorschlag des Lütticher Kanonikus und Kantors Théodore Joseph Devroye (1804–1873) ohne Nennung der Künstler ist im bischöflichen Archiv in Nancy überliefert. Der Lokalzeitung L‘Espérance zufolge spielte Bruckner Präludium und Fuge in cis‑Moll aus Johann Sebastian Bachs Wohltemperiertem Klavier I und eine freie Improvisation. Weitere Organisten waren Jean Auguste Rigaux ([1837–1897]; Titularorganist), Alphonse Zoé Charles Renaud de Vilbac ([1829–1884]; St. Eugène, Paris, sehr geschätzter Vorführorganist des Hauses Merklin & Schütze), Heinrich Oberhoffer ([1824–1885]; Domkapellmeister, Luxemburg), Georges Frédéric Théophile Stern ([1803–1886]; Organist aus Straßburg [Strasbourg/F]) und Louis Girod ([1816–?]; Jesuitenpater und Orgelforscher aus Belgien).

Für das zweite Konzert anlässlich der Inauguration du Grand Orgue de Saint-Epvre de Nancy vom 29.4.1869 liegt ein gedrucktes Programm vor (vgl. Göll.-A. 4/1, S. 85f.). Neben Vokalkompositionen waren wieder die Organisten des Vortages (mit Ausnahme von Rigaux, Girod und Oberhoffer) und dazu Charles François Caspar (1827–1905) und L. A. Jessel (beide aus Lunéville), Pfarrer François Wagner (Niderviller), Henri Hess ([1841–ca. 1908]; Nancy), Hippolyte Joseph Ply ([1836–?]; Soissons), Louis Ernest Duval ([1837–1908]; St. Jacques, Reims) sowie Charles Marteaux ([1831–1874]; Pont-à-Mousson) zu hören. Bruckner übertraf alle, die mehr oder weniger entweder im cäcilianisch-strengen oder zum salonhaften neigenden Stil zu hören waren, mit einer Improvisation über die österreichische Volkshymne. Aufgrund unsachgemäßer Übersetzung von „concours“ (hier: Mitwirkung) wurde er in den meisten deutschen Berichten fälschlich als Sieger eines „Wettbewerbs“ gefeiert.

Die preisgekrönte mechanische Schleifladenorgel (3 Manuale, 44 Register) von Merklin & Schütze, mit modernsten Errungenschaften ausgestattet (Gebläse mit verschiedenem Winddruck, Barkerhebel [pneumatisches Relais], 15 [!] Kombinationstritte), muss Bruckner gerade bei seiner bejubelten Improvisation sehr zu Diensten gewesen sein. Das Instrument wurde in den letzten Jahren durch die Firma Haerpfer aus Boulay stilgerecht restauriert.

Auf Einladung von Merklin & Schütze reiste Bruckner am 1.5.1869 für mehrere Tage ins ca. 300 km entfernte Paris weiter, u. a. um deren neueste Produktion in einem Konzert in der Montagehalle vorzuführen. Auf der Rückreise nach Wien (Ankunft dort am 19.5.) machte er noch einmal in Nancy Station, um mit dem ihn bewundernden Titularinhaber von St. Epvre, Rigaux, zusammenzutreffen.

Mehrere ausführliche Berichte in deutschen und österreichischen Blättern (Presse) legen Zeugnis ab vom triumphalen Erfolg von Bruckners „Orgelreise“ nach Frankreich, u. a. auch einer von Hanslick, der Bruckner zur Fahrt nach Nancy geraten hatte. Die Erlebnisse in Nancy und Paris übten einen nachhaltigen Einfluss auf Bruckner aus. In späteren Briefen verwies er immer wieder auf seine Erfolge in Frankreich.

Literatur

JOSEF BURG, ANDREA HARRANDT

Zuletzt inhaltlich bearbeitet: 17.8.2020

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