Cäcilianismus

Die Kirchenmusiker der Mitte des 19. Jahrhunderts sahen sich mit der Erscheinung des Cäcilianismus konfrontiert, einer sich in der Namensgebung auf die Märtyrerin Cäcilia (* um 200 Rom/I, † um 230 Rom, seit dem 15. Jahrhundert Patronin der Musiker, seit dem 19. Jahrhundert Patronin der Kirchenmusik, Fest am 22.11.) beziehenden Reformbewegung zur Wiederherstellung einer von weltlichen Elementen gereinigten, der Liturgie würdigen Kirchenmusik, die etwa um 1820 einsetzte. Schon früh waren an der Verbreitung dieser Ideen in Deutschland Ludwig Tieck (1883–1853), Heinrich Wackenroder (1773–1798), Ernst Theodor Amadeus Hoffmann (1776–1822) und Anton Friedrich Justus Thibaut (1772–1840), in Österreich der Kreis um den Redemptoristen Klemens Maria Hofbauer (1751–1820) beteiligt. Als Ideal galten in der deutschen Frühromantik der gregorianische Choral und die Vokalpolyphonie des 15. und 16. Jahrhunderts, vor allem das Schaffen Giovanni Pierluigi da Palestrinas.

Der österreichische Musikschriftsteller und Kritiker Ferdinand Peter Graf Laurencin d‘Armond (1819–1890) bemühte sich in seinem Buch Zur Geschichte der Kirchenmusik bei den Italienern und Deutschen (Leipzig 1856) mit Erfolg darum, die Kirchenmusik seiner Zeit weniger von außen zu beurteilen als nach dem Geist, in dem sie geschrieben wurde. Als mustergültiges kirchenmusikalisches Werk galt ihm z. B. Ludwig van Beethovens Missa solemnis.

1868 wurde auf dem Deutschen Katholikentag in Bamberg der Allgemeine Deutsche Cäcilienverein (ACV) durch Franz Xaver Witt gegründet und die restauratorische Bewegung somit auch organisatorisch wirksam. Das Gedankengut dieser Reformbestrebungen wurde durch Zeitschriften wie die Fliegenden Blätter für katholische Kirchen-Musik (seit 1866), die Musica sacra (seit 1868) und das Kirchenmusikalische Jahrbuch (seit 1886) verbreitet. Als Papst Pius IX. auf die Bitte auch des österreichischen Episkopats hin im Jahre 1870 durch ein Breve den ACV approbierte, erhielt dieser offiziellen Charakter. Witt blieb bis zu seinem Tod Generalpräses des Vereins und lenkte diesen von Regensburg aus.

Wo es eine ungebrochene blühende Kirchenmusiktradition mit bevorzugter Pflege der Werke der Wiener Klassiker gab, entstand gegen die Reformideen Witts jedoch – bisweilen auch heftiger – Widerstand. So gründete etwa Johann Evangelist Habert (1833–1896) in Gmunden zunächst die Zeitschrift für katholische Kirchenmusik (ab 1868) und wenig später (1871) einen Österreichischen Cäcilien-Verein (ÖCV). Heftige Spannungen mit dem ACV, vor allem mit dem Regens chori von St. Florian, Ignaz Traumihler, führten jedoch dazu, dass Habert 1872 die Arbeit an seiner Zeitung und im ÖCV beendete. 1875/76 wurde in Linz der Oberösterreichische Diözesan-Cäcilien-Verein (OÖCV), erneut unabhängig vom ACV, aber unterstützt durch eine bischöfliche Approbation, ins Leben gerufen. Sein Obmann wurde der Linzer Sakristeidirektor Christian Forster (1824–1885). An der Gründung des Vereines waren auch der Linzer Domkapellmeister Karl Zappe, der Domorganist Karl Waldeck und der spätere Domkapellmeister Domdechant Johann Baptist Burgstaller beteiligt. Die Zeitschrift für katholische Kirchenmusik erschien wieder (1877–1885) und Habert verlieh seiner Kritik an der „strengen“ Reform in seiner Schrift Der deutsche Cäcilien-Verein (1877) deutlichen Ausdruck. Von Linz aus bemühte man sich, erneut eine gesamtösterreichische Vereinsgründung zu unternehmen, die 1884 im Österreichischen Central-Cäcilienverein (ÖCCV, dem zunächst allerdings nur Linz und St. Pölten beitraten) gelang. 1885 schloss sich der Wiener Ambrosius-Verein an, der jedoch vom Wiener Ordinariat nicht approbiert wurde und nicht lange bestand. Der Linzer Bischof Ernest Maria Müller (1822–1888, Bischof ab 1885) erließ 1887, beeinflusst von einer römischen Verordnung und Habert, eine Verordnung zur Kirchenmusik , in der er den figurierten mehrstimmigen Gesang und die Instrumentalmusik entgegen den Interessen des ACV guthieß, außerdem unterstützte er den OÖCV wie auch Habert.

Nach Witts Tod 1888 und unter dem neuen Präses des ACV, Friedrich Schmidt (1840–1923), konnten die Spannungen zwischen dem ACV und dem ÖCV allmählich beigelegt werden, allerdings, indem sich die offizielle Tendenz verstärkt der strengeren Richtung zuneigte, wie sich in der Folge zeigen sollte.

Besonders nachdrücklich verteidigte der spätere Salzburger Erzbischof (Kardinal ab 1903) Johann Baptist Katschthaler (1832–1914), der seit 1884 Diözesanpräses des Salzburger Cäcilienvereines (gegründet 1872) war, die strenge Regensburger (Witt‘sche) Richtung. Er lehnte jedwede Instrumentalmusik in der Kirche ab. Seine Ansichten dokumentierte er in der 1893 erschienenen Kurzen Geschichte der Kirchenmusik sowie in der von ihm gegründeten und 1886–1893 auch herausgegebenen Kirchenmusikalischen Vierteljahrsschrift. 1899 erschien das sogenannte Salzburger Programm, dem sich – außer Salzburg – auch die Diözesen Seckau, Linz und St. Pölten anschlossen; die in der Praxis Tätigen suchten jedoch zumeist die Figural- und Instrumentalmusik zu retten.

Die Diözese Seckau hatte sich durch den 1875 als Zweigverein des ACV gegründeten Diöcesan-Cäcilienverein (DCV) der strengen Richtung angeschlossen und in der Folge eine maßgebliche Position erlangt; durch die Abtei Seckau und ihre Choralpflege wandte sich der Verein jedoch mehr und mehr der Choralforschung von Solesmes zu, die sich für den unverfälschten mittelalterlichen Choral einsetzte (und nicht, wie die Regensburger Richtung, für den Choral der Palestrina-Zeit).

Die größte Opposition gegen die Reform der Kirchenmusik gab es in Wien, wo Josef Böhm (1841–1893), Regens Chori von Mariahilf und späterer Kapellmeister der Kirche Am Hof, an der Präparandie St. Anna tätig und an der Umbenennung des Kirchenmusikvereins St. Anna in Wiener Cäcilien-Verein (WCV) maßgeblich beteiligt war. Der WCV betrieb eine eigene Kirchenmusikschule, der Carl Hausleithner (1843–1905) als Direktor vorstand. Zusammen mit Hausleithner gab Böhm die Wiener Blätter für katholische Kirchenmusik als Organ des WCV heraus. Mit seiner Schrift Der gegenwärtige Zustand der katholischen Kirchenmusik und des kirchlichen Volksgesangs in Wien und Umgebung (1876) verscherzte er es sich mit dem Klerus; aber auch mit Habert, mit dessen OÖCV er den WCV vereinigen wollte, konnte er sich nicht verständigen. Allmählich gewannen die Vertreter der gemäßigten österreichischen Richtung auch im WCV die Oberhand, sodass Böhm seine Ämter 1880 niederlegte und 1881 einen neuen Verein gründete, den Allgemeinen Kirchenmusikverein St. Ambrosius, dem als dritter Präses (nach Jacob Bach und Godfried Marschall) ab 1887 Franz Krenn, Bruckners Kollege am Wiener Konservatorium, vorstand. Die Zeitschrift Ambrosius Blatt (Red.: Anton Podrabsky), die die Vereinsziele unterstützen sollte, erschien nur bis 1883. 1885 beschloss man den Anschluss des Vereins an den ÖCCV, dennoch konnte er sich nie richtig entfalten. Nach Böhms Tod (1893) führte der Allgemeine Kirchenmusikverein St. Ambrosius nur mehr die Vereinsschule weiter und vereinigte sich 1906 mit dem WCV unter dem neuen Namen Allgemeiner Kirchenmusikverein (Präses: Bischof Laurenz Mayer, artistischer Leiter: Böhms Bruder Julius [1851–1917]).

Für Bruckner stellte sich das Problem in seiner Wiener Zeit nicht in der ganzen Schärfe, da die Wiener Hofmusikkapelle in ungebrochener Tradition die Musik der alten Meister pflegte, die er in Auswahl auch schon in St. Florian kennengelernt hatte. Obwohl zahlreiche Personen und Institutionen seines persönlichen Umkreises einer der beiden Ausprägungen des Cäcilianismus angehörten oder zumindest mit ihr sympathisierten, blieb er von den oft mit großer Schärfe geführten ideologischen Auseinandersetzungen weitgehend verschont. In seinen eigenen Kirchenwerken (Kirchenmusik) setzte er archaisierende Elemente (Choralzitate, Kirchentonarten, rhetorische Figuren, Tonartensymbolik) als bewusste Ausdrucksmittel ein und konnte einerseits dem Geschmack von „cäcilianischen“ Auftraggebern (wie z. B. J. B. Burgstaller, dem das Afferentur gewidmet ist) durchaus entgegenkommen, ohne sich künstlerisch einengen zu lassen, erschien anderen Cäcilianern wie Ignaz Traumihler jedoch manchmal zu kühn, wie bei Göll.-A. 2/1, S. 269, berichtet wird: Traumihler zeigte sich von Bruckners Os justi „frappiert“ und wollte den Komponisten bewegen, es zu glätten. Das 1868 komponierte phrygische Tantum ergo (WAB 33) nahm Witt 1885 in die 11. Musikbeilage (Fliegende Blätter) der Zeitschrift Musica sacra auf und veröffentlichte es 1888 in den von ihm herausgegebenen Eucharistischen Gesängen. Zum großen Ärger Bruckners hatte Witt jedoch beide Male eigenmächtig einen Sekundvorhalt im Amen geändert, um es dem cäcilianischen „Geschmack“ anzupassen.

Berühmt sind mehrere Sarkasmen aus Bruckners Mund über die Cäcilianer. So soll er einmal gesagt haben: „Wenn ihnen gar nichts mehr einfallt, dann ist‘s cäcilianisch.“ (zit. n. Nowak, S. 91). Ebenso äußerste er sich gegenüber Karl Waldeck, der Cäcilianismus sei eine Krankheit (Gräflinger, S. 140), und, besonders plastisch, gegenüber dem Prager Erzbischof Kardinal Franz (de Paula) Graf Schönborn im Atelier Viktor Tilgners, in folgender Weise, wie die Carl Almeroth berichtet: „[…] dann wurde natürlich von Musik gesprochen und selbstverständlich auch von Kirchenmusik. Als nun der Fürsterzbischof von den Bestrebungen der Cäcilianer sprach und derselben lobend erwähnte, fing Bruckner auf seinem Drehstuhl an unruhig zu werden, endlich konnte er sich nicht mehr halten und sagte ganz aufgeregt: ‚Eminenz, Palästrina à la bonheur! Das is ‘was, aber die Cäcilianer, die san nix! nix! nix!‘“ (Almeroth, S. 10f.).

Literatur

ELISABETH MAIER

Zuletzt inhaltlich bearbeitet: 1.9.2017

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