Paris
Hauptstadt und auch größte Stadt Frankreichs zu beiden Seiten der Seine, Industrie- und Kulturzentrum des Landes, zugleich Département (Ville de Paris), bildet Paris mit sieben anderen Départements die Region Île-de-France und beherbergt u. a. die zweitälteste Universität Europas (Sorbonne), bedeutende Sammlungen und Museen (Louvre etc.). Bis 1870 Regierungssitz des Zweiten Kaiserreichs, nach dem Deutsch-Französischen Krieg 1870/71 der Dritten Republik. 1869: ca. 1,88 Mio., 2017: ca. 2,2 Mio. EW, im Großraum Paris ca. 12,5 Mio. EW.
Bruckner reiste auf Einladung der Orgelbaufirma Merklin & Schütze (Orgel) am 1.5.1869 von Nancy nach Paris (Übernachtung im Hotel Diesbach ou Les Polonais in der Rue des Saussaies 8), um deren neueste Produktion, die sich insbesondere auf kostensparende kleine und mittlere Instrumente (bis etwa 25 Register) konzentrierte, besser kennenzulernen und in der Montagehalle auszuprobieren. Bei drei Tagen zusätzlich gewährten Urlaubs konnte er wegen der nachfolgenden Pfingstferien (bei Göll.-A. 4/1, S. 103, fälschlich Osterferien) bis zum 19.5. aus Wien fortbleiben. Auf der Rückreise machte er dann noch einmal in Nancy Station.
Revue et Gazette musicale und Le Ménestrel kündigten bereits am 2.5.1869 ein Konzert vor geladenen Gästen im Orgelsalon der Firma Merklin & Schütze am Boulevard Montparnasse für den 3.5.1869 an. Außer Bruckner spielte noch der blinde Organist und Komponist Pierre Edmond Hocmelle (1824–1895). Laut Göll.-A. (4/1, S. 94) improvisierte Bruckner über das Hauptthema des Finale der Ersten Symphonie. Es gab „riesige Komplimente“ (Göll.-A. 4/1, S. 94) des anwesenden Camille Saint-Saëns (1835–1921). Über den weiteren Zuhörerkreis ist nichts bekannt, ebenso wenig über Bruckners Reaktion auf die neue Produktion des Hauses. Das von Merklin & Schütze weiterentwickelte System der „Transmissionen“ war eine besondere Errungenschaft; bei den Orgeln kleiner und mittlerer Bauart konnte dadurch dieselbe große Klangwirkung erzielt werden wie bei großen Orgeln. Es ist unbekannt, wie oft Bruckner während seines langen Paris-Aufenthaltes noch bei Merklin & Schütze Orgel spielte.
Bruckner, der große Orgeln bevorzugte, folgte gern einer Einladung nach Notre-Dame mit der 1868 von Cavaillé-Coll restaurierten Orgel (5 Manuale, 86 Register). Es ist wahrscheinlich, dass Bruckner auch das Werk desselben Orgelbauers von 1861 in der Kathedrale von Nancy (4/64) kennengelernt hat: Laut Espérance vom 20.4.1869 wurden nämlich die in Nancy weilenden Künstler zur Besichtigung nach Paris eingeladen. Ein genaues Datum für Bruckners in privatem Rahmen stattfindendes Auftreten in Notre-Dame ist nicht bekannt (wahrscheinlich 7.5.1869). Auf folgende Zuhörer kann man schließen: Daniel François Esprit Auber (1782–1871), Ambroise Thomas (1811–1896), Charles Gounod (1818–1893), Saint-Saëns, César Franck (1822–1890), Alexis Chauvet ([1837–1871], Organist der Trinité) und Eugène Sergent ([1829–1900], Titularinhaber von Notre-Dame). Das Improvisationsthema von Chauvet, das eventuell durch Bach‘sche Thematik beeinflusst worden war, findet sich als autografe Eintragung Bruckners aus dem Jahr 1869 auf der Seite seines Geburtstages (4.9.) im Tagebuch der Johanna Zimmerauer (ÖNB-MS, Mus.Hs.6098, Bl. 118v). Bruckner hatte es dreigliedrig aufgefasst, um aus diesen Gliedern eine Art von Orgelsymphonie zu gestalten. Die Linzer Tages-Post berichtete, „daß man jetzt erst wisse, welches Meisterwerk die Orgel der Notre-Dame-Kirche sei“ (Linzer Tages-Post 19.5.1869, [S. 3]).
Laut Göll.-A. (4/1, S. 96f.) war Bruckner in jenen Tagen u. a. bei Auber und Gounod zu Gast. Er nutzte laut der Pariser Zeitschrift Réforme musicale (Abdruck in der Espérance) seinen Aufenthalt auch noch dazu, wiederholt in Notre-Dame zu spielen sowie die großartigen Instrumente in St. Sulpice (1862, 5/100) und der Trinité (1868, 3/46) – wohl auf Einladung von Chauvet – kennenzulernen.
War Bruckner auch im Hause Cavaillé-Coll in der Avenue du Maine? Jedenfalls dürfte keine persönliche Begegnung mit dem Orgelbauer selbst stattgefunden haben. Auf Bruckners (nicht erhaltenen) Dankbrief an diesen vom 7.6.1869 antwortete der aus Schwerin gebürtige Geschäftsführer und Orgelbauer der Firma, August Neuburger (1820–1885), am 23.6.1869, dass Cavaillé-Coll, sollte Bruckner bei seinen projektierten Kunstreisen nach England usw. auch Paris berühren, mit großem Vergnügen alles aufbieten werde, um ihm in seinen Unternehmungen zu seinem Ruhme und Triumphe nützlich zu sein (Briefe I, 690623). Dazu kam es jedoch nicht.
Sogar Eduard Hanslick würdigte Bruckners Erfolge als Organist: „An dem Professor des hiesigen Conservatoriums, Anton Bruckner, besitzen wir einen der hervorragendsten Orgel-Virtuosen, der bei dem letzten Musikfeste in Nancy, dann in Paris unter dem Zudrange der ganzen musikalischen Elite sich auf den berühmten Orgeln von St. Epvre, St. Sulpice und Notredame mit solchem Erfolge producirte, daß er in förmlichem Wettkampf die renommirtesten belgischen und französischen Organisten besiegt hat.“ (Neue Freie Presse 11.1.1870, S. 2).
Eine Komposition Bruckners erklang in Paris erstmals am 18.3.1894; Charles Lamoureux (1834–1899) und sein 1881 gegründetes Orchester führten die Dritte Symphonie (1889) auf. Das Orchestre Lamoureux spielte außerdem 1908 die Achte (in der Bearbeitung von Josef Schalk und Max von Oberleithner) unter Louis Hasselmans (1878–1957) und 1909 die Siebente Symphonie unter Camille Chevillard (1859–1923), dem Schwiegersohn von Lamoureux. Gustav Mahler gastierte im Rahmen der Weltausstellung mit den Wiener Philharmonikern und spielte am 21.6.1900 das Scherzo der Vierten Symphonie (Fassung 1887/88). 1911 erklang erstmals das Ecce sacerdos in Saint-Eustache. Erst 1927 erklangen weitere Werke Bruckners, die Neunte Symphonie (in der Bearbeitung von Ferdinand Löwe) und das Te Deum, in Notre-Dame unter Rudolf Nilius (1883–1962), am 9.11. die Sechste Symphonie unter Heinrich Laber (1880–1950). Fritz Münch (1890–1970) leitete am 10.3.1928 die Messe in f-Moll. Das Orchestre Lamoureux spielte 1932 die Fünfte Symphonie (in der Bearbeitung von Franz Schalk) unter Felix Weingartner und die Siebente unter Albert Wolff (1844–1970).
Der Zweite Weltkrieg unterbrach diese Konzertproduktion, Radio France sendete allerdings Symphonien Bruckners. Wilhelm Furtwängler leitete 1951 die Siebente in der Opéra und 1953 fand ein Festival Bruckner (Brucknerfeste und -feiern) statt. Der Wiener Kammerchor gastierte am 20.5.1958 mit dem Ave Maria (WAB 6) und vier Gradualien, das Wiener Konzerthausquartett am 7.2.1959 mit dem Streichquintett in F-Dur. Das Loewenguth-Quartet spielte am 17.12.1961 das Streichquartett in c-Moll.
Ab den 1960er Jahren wurden immer wieder Werke Bruckners in Paris aufgeführt. Das 1934 gegründete Orchestre National de France spielte erstmals am 29.1.1963 unter Lovro von Matačić die Neunte Symphonie. Kurt Masur leitete in seiner Zeit als Chefdirigent des Orchesters (2002–2008) mehrere Aufführungen von Werken Bruckners. Das 1967 gegründete Orchestre de Paris führte im Februar 1977 erstmals Bruckners Zweite unter der Leitung von Carlo Maria Giulini auf und hat seitdem Kompositionen Bruckners in seinem Repertoire. Vor allem Daniel Barenboim als Chefdirigent (1975–1989) setzte vermehrt Werke Bruckners auf das Programm, ebenso Marek Janowski als Chefdirigent des Orchestre Philharmonique de Radio France (1984–2000).
Literatur
- Nachrichten aus Linz und Oberösterreich, in: [Linzer] Tages-Post 19.5.1869, [S. 3]
- Feuilleton, in: Neue Freie Presse 11.1.1870, S. 1ff.
- Göll.-A.August Göllerich/Max Auer, Anton Bruckner. Ein Lebens- und Schaffensbild (Deutsche Musikbücherei 36–39). 4 Bde. (in 9 Teilbänden [1, 2/1–2, 3/1–2, 4/1–4]). Regensburg 1922–1937, unveränd. Nachdruck 1974 4/1, S. 92–105
- Josef Burg, Anton Bruckner und Frankreich. Erneute Überlegungen zum Frankreichaufenthalt, in: Acta Organologica 26 (1998), S. 11–38
- Nigel Simeone, Paris. A Musical Gazetteer. New Haven–London 2000, S. 158
- Briefe IAndrea Harrandt/Otto Schneider (Hg.), Briefe von, an und über Anton Bruckner. Bd. I. 1852–1886 (NGA XXIV/1). 2., rev. und verbesserte Aufl. Wien 2009
- Max Reinhard Jaehn, Unruhige Zeiten in Schwerin und Paris: August Neuburger (1820–1885), in: Ars Organi 60 (2012) H. 1, S. 18–22
- ABCD