Pressewesen zur Zeit Bruckners

Als sich in den späten 1860er Jahren die Musikkritik in zunehmender Weise mit dem Schaffen Bruckners auseinandersetzte, befand sich das Pressewesen der Habsburgermonarchie mitten in einer Umbruchphase. So eröffnete die schrittweise Legalisierung einer politischen Öffentlichkeit eine neue, 1848 schon angekündigte Qualität der öffentlichen Kommunikation, die für die Medien eine aktive, intermediäre Rolle zwischen Politik und Bürgern bedeutete. Zeitgenössischen Einschätzungen zufolge vollzog sich 1860 im Zuge der Beratungen des Verstärkten Reichsrats eine erste Öffnung in diese Richtung, als sich einzelne Abgeordnete mit Informationen direkt an die Presse wandten. Die ersten politischen, zumeist kurzlebigen und stets auflagenschwachen Tageszeitungen standen zwar immer noch in mehr oder minder enger Beziehung zu staatlichen oder kirchlichen Machtträgern, sie durften aber nunmehr öffentlich kontroversielle Standpunkte vertreten. Dazu gehören etwa das katholische Vaterland, das als einzige der Neugründungen dieser Zeit bis 1911 bestand, und die eher liberalen Neuesten Nachrichten, die später zum Wiener Lloyd wurden und in der Debatte, dem Vorläufer der bis 1878 erscheinenden Tagespresse, aufgingen.

Das Februarpatent 1861 machte schließlich sämtliche Sitzungen des Herren- und Abgeordnetenhauses öffentlich und im selben Jahr ließen auch die Landtage, Gemeindevertretungen und Handelskammern die Presse zu ihren Beratungen zu. Ein Jahr später lockerte das erste parlamentarisch beschlossene Pressegesetz die meisten der in den Jahren des neoabsolutistischen Regimes errichteten ökonomischen Beschränkungen der Zeitungsproduktion und fast 20 Jahre nach der Revolution von 1848 garantierte der Artikel 13 des Staatsgrundgesetzes über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger vom Dezember 1867 die Pressefreiheit. Die 1858 eingeführte Stempelpflicht (eine Art Zeitungssteuer) blieb jedoch trotz zahlreicher Petitionen der Zeitungsunternehmer bis zur Jahrhundertwende als dem Staat willkommene fiskalische Maßnahme in Kraft, sodass es in der Habsburgermonarchie erst nach dem Wegfall der Zeitungssteuer 1899 zur Entstehung einer Massenpresse kam.

Die Legalisierung einer politischen Öffentlichkeit und die damit verbundene Liberalisierung der Presse führten zu entscheidenden strukturellen Veränderungen des Zeitungsmarktes in der österreichischen „Reichshälfte“ der 1867 geschaffenen Doppelmonarchie. Zahlreiche Gründungen, Einstellungen und redaktionelle Umorientierungen prägten die Jahre bis zum Börsenkrach 1873, der den in Zahl und Auflage stetig wachsenden Zeitungsmarkt nur vorübergehend, nicht aber nachhaltig zum Stagnieren brachte. Die Einstellungen betrafen die meisten der aus der ersten Jahrhunderthälfte stammenden Blätter wie den Wanderer, die aus dem Journal des Oesterreichischen Lloyd hervorgegangene Constitutionelle Oesterreichische Zeitung, die Ostdeutsche Post und den Oesterreichischen Volksfreund; während die jüngeren, in den 1850er Jahren entstandenen Lokalzeitungen ihre der Zensur geschuldete Zurückhaltung in politischen Fragen aufgaben.

Der Typ der urbanen, auf den Informationsbedarf der rapid anwachsenden Stadtbevölkerung zugeschnittenen Lokalzeitung war in den Handelszentren der Monarchie entstanden und hatte aus der Not der Zensur eine – ökonomisch erfolgreiche – Tugend gemacht, indem er kurz gehaltene Nachrichten, v. a. Lokal- und Provinzialmeldungen, mit umfangmäßig aufgewerteten Kulturnotizen und feuilletonistischen Beiträgen sowie einem großen Anzeigenteil zu einem kostengünstig und häufig im handlichen Tabloidformat angebotenen Produkt mixte. Die erste langfristig erfolgreiche Zeitungsgründung dieser Art war die 1851 vom früheren Chefredakteur der Presse, Leopold Landsteiner (1817–1875), herausgegebene Morgen-Post. Unter ihren zahlreichen Nachahmern sind die Wiener Stadt- und Vorstadt-Zeitung, die Grazer Tagespost und der Linzer Abendbote zu nennen. Der Erfolgskurs der Lokalpresse lässt sich allein daran ablesen, dass sich 1855 unter den zehn Tageszeitungen, die in Cisleithanien Auflagen über 10.000 Exemplare erreichten, zwei bzw. sieben Lokalblätter befanden. Als 1880 die Auflagenobergrenze auf rund 40.000 Exemplare anstieg, wurde sie ausschließlich von fünf Vertretern dieses Typs erreicht. Doch selbst weniger auflagenstarke Zeitungen, die sich dieses Erfolgsrezepts bedienten, wie etwa die katholische Gemeindezeitung, erzielten eine höhere Verbreitung als ihre überregionalen Pendants (in diesem Fall das bereits erwähnte Vaterland). Mit demselben redaktionellen Konzept arbeiteten auch die Nebenausgaben der amtlichen Zeitungen (wie beispielsweise die Wiener Abendpost oder die Grazer Morgenpost), die sowohl von der Stempelbefreiung als auch von ihrem früheren Anzeigenmonopol, das ihnen die Profilierung als führende Insertionsorgane erleichterte, profitierten und sich daher mit einem besonders günstigen Verkaufspreis am Markt etablieren konnten. Sie bildeten gemeinsam mit den dazugehörigen Hauptausgaben (wie der Wiener Zeitung, der Linzer Zeitung oder der Grazer Zeitung) ein stabiles Element im Strukturwandel der 1860er Jahre.

Zu den wenigen vor bzw. im Revolutionsjahr gegründeten Tageszeitungen, die diesen Umbruch überdauerten, gehören das Wiener Fremdenblatt und Die Presse August Zangs (1807–1888). Beide hatten jedoch mit Abspaltungen von Redaktionsmitgliedern und Gegengründungen zu kämpfen, die als symptomatisch für den sich vollziehenden Wandel gelten können. Während die beiden „Mutterzeitungen“ sich zwar eine Nische am Wiener Pressemarkt sichern, aber nie mehr ihre frühere Verbreitung und Bedeutung erreichen konnten, da sie sich immer wieder in zu großer Abhängigkeit von Regierungsmitgliedern befanden und damit einen zunehmend unpopulären Zeitungstyp repräsentierten (für Die Presse gilt dies insbesondere für die Zeit nach dem Verkauf durch Zang 1867), standen das Neue Fremdenblatt und insbesondere die unter Eduard Bacher (1846–1908) und Moritz Benedikt (1849–1920) zum publizistischen „Flaggschiff“ der Monarchie avancierte Neue Freie Presse für ein neues Verständnis der gesellschaftlichen Rolle der Presse.

Parallel zur Zurückdrängung staatlicher Einflüsse kam es nämlich im Zuge der Ausbildung einer allgemeinen politischen Öffentlichkeit zu einer Selbstbindung der Presse an politische Interessengruppen, da beiden eine ähnliche gesellschaftliche Funktion zukommt, nämlich zwischen den staatlichen Entscheidungsträgern einerseits und den Bürgerinnen und Bürgern andererseits zu vermitteln und die Bevölkerung in das politische System zu integrieren. Diese funktionale Nähe konnte sich in einer (oft nur partiellen) programmatischen Übereinstimmung zwischen Zeitung und politischer Gruppierung manifestieren, im Fall der Parteizeitung aber auch zu einer organisatorischen Identität führen. Der insbesondere mit der letztgenannten Form verbundene (erneute) Autonomieverlust der Zeitung erreichte im Zuge der Ausbildung der modernen Parteien in den 1890er Jahren seinen Höhepunkt, dem erst die Expansion der Massenpresse nach der Jahrhundertwende gegensteuerte.

Die sich im Verfassungskonflikt verschärfende Bruchlinie zwischen Konservativen und aufstrebenden Liberalen wurde zusehends zur prägenden Kraft der Presseentwicklung. Wenig überraschend, deklarierten sich die meisten Zeitungen, hinter denen ja in der Regel bürgerliche Geschäftsleute standen, im Sinne jener politischen Haltung, die ihre soziale Identität wie ihre ökonomische Grundlage bestimmte, als liberal. Dem Aufstieg des Liberalismus entsprach schon deshalb eine über die „liberale Ära“ hinausreichende starke Positionierung im Medienbereich, weil die Vorstellung einer bürgerlichen Gesellschaft von vornherein an die fundamentale Bedeutung der Öffentlichkeit gekoppelt war, während die Konservativen – wie auch die späteren weltanschaulichen Strömungen – erst eine eigene Haltung zu diesem Modell eines „Marktplatzes der Ideen“ finden mussten. Diese Verbindung ökonomischer und politischer Vorstellungen bedingte, dass die als „liberal“ bezeichneten Zeitungen weder eine klar umrissene Linie verfolgten noch vorbehaltlos eine bestimmte parlamentarische Fraktion unterstützten, sondern – wie es in der Gründungsnummer der Neuen Freien Presse vom 1.9.1864 (S. 1) heißt – im Sinne des Ideals einer kritisch argumentierenden Öffentlichkeit „ein unabhängiges Organ derjenigen constitutionellen Partei [sein wollten], welche die bestehende Verfassung wahrhaftig durchführen will“ (Hervorh. durch die Verf.).

Diese Option einer redaktionellen Unabhängigkeit bei einer dennoch gegebenen Nähe zu liberalen Strömungen war für die sich als liberal bekennende Presse konstitutiv. Zu ihren prominenten Repräsentanten gehören – neben den meisten in den 1860er Jahren entstandenen Sonn- und Montagszeitungen – die bereits erwähnten Vertreter einer urbanen Lokalpresse, Morgen-Post und Vorstadt-Zeitung (die sich seit 1863 demonstrativ Constitutionelle Vorstadt-Zeitung nannte), v. a. aber das Neue Wiener Tagblatt, das nach wechselhafter Vorgeschichte sein eigentliches Profil unter der Leitung von Moritz Szeps (1835–1902) entwickeln konnte, der es im Juli 1867 nach seinem Ausscheiden aus der Morgen-Post aufgekauft und ihm 1872 mit der Gründung der Steyrermühl Papierfabriks- und Verlagsgesellschaft eine solide wirtschaftliche Grundlage geschaffen hatte. Noch im selben Jahr erweiterte die Steyrermühl ihr Portfolio um die Vorstadt-Zeitung, die spätere Oesterreichische Volkszeitung, doch 1886 verließ Szeps im Streit das Unternehmen und erwarb die Morgen-Post, die er ins Wiener Tagblatt umwandelte.

Unter dem Dach dieses vielfältigen, aber in der Überzeugung von der Notwendigkeit eines kritischen Räsonnements vereinten liberalen Journalismus erreichte auch die österreichische Musikkritik einen historischen Höhepunkt, für den nicht nur Eduard Hanslick als jahrzehntelanger Leiter des Musikfeuilletons der Neuen Freien Presse steht, sondern auch eine große Zahl weiterer Persönlichkeiten wie Ludwig Benedikt Hahn (Vorstadt-Zeitung, Neues Fremdenblatt, Die Presse), Richard Heuberger (Wiener Tagblatt, Neue Freie Presse), Robert Hirschfeld (Wiener Allgemeine Zeitung, Die Presse, aber auch Wiener Abendpost und Wiener Zeitung) und Max Kalbeck (Wiener Allgemeine Zeitung, Die Presse, Neues Wiener Tagblatt).

Im Unterschied zu den genannten Zeitungen gehörte die 1865 gegründete Linzer Tages-Post, für die Bruckners Biograf August Göllerich schrieb, zu den wenigen Ausnahmen, die sich vorübergehend, nämlich 1879–1885, uneingeschränkt im Untertitel als „Organ der liberalen Partei in Oberösterreich“ bekannten. Das in der liberalen Presse aber zumeist verwirklichte distanzierte Verhältnis zu politischen Gruppierungen konnte freilich auch in die Abkehr von liberalem Gedankengut umschlagen. Das prominenteste Beispiel dafür ist die 1871 als Konkurrenz zur Neuen Freien Presse von „jungen“ Liberalen ins Leben gerufene Deutsche Zeitung, die zwar in den Anfangsjahren von hochkarätigen Mitarbeitern redigiert wurde, aber im Zuge häufiger Eigentümer- und Richtungswechsel zunehmend antisemisch-deutschnationale und letztlich christsoziale Tendenzen vertrat. In den 1880er und 1890er Jahren gehörte mit Theodor Helm einer der wenigen renommierten deutschnationalen Musikkritiker ihrer Redaktion an. 1907 wurde sie mit der Reichspost zusammengelegt, die 1894 von Friedrich Funder (1872–1959) im Auftrag des Linzer Katholikentages mit dem Anspruch, eine „moderne“, überregionale katholische Tageszeitung zu sein, gegründet worden war.

Die mit dem sonst eher in der liberalen Presse zu findenden Unabhängigkeitsanspruch auftretende Reichspost demonstrierte einen deutlichen Einstellungswandel auf katholischer Seite (der sich nach der Jahrhundertwende noch auffälliger an den christsozialen Massenblättern zeigen sollte). Wie schwierig es aber war, sich den doppelten Anforderungen des neu entstandenen Zeitungsmarkts zu stellen – nämlich eine publizistische Botschaft ökonomisch lukrativ zu verkaufen –, dokumentiert sich schon darin, dass selbst ein katholisch engagierter Praktiker der Verlagsbranche wie Leo Woerl (1843–1918) noch 1882 in seinem Buch Die Presseverhältnisse im Kaiserstaat Oesterreich-Ungarn das Potenzial einer populär aufgemachten auflagenstarken Zeitung nicht einzuschätzen verstand und vom Kauf des aufgrund seines kleinbürgerlich-ländlichen Leserkreises kirchenfreundlich eingestellten Wiener Neuigkeits-Welt-Blatt wegen seiner angeblichen „Skandalsucht“ abriet. Sein Verleger Ferdinand Hummel hatte seit 1862 schon die bereits erwähnte Gemeinde-Zeitung herausgebracht, die auf Umwegen 1875 an den wegen seiner heftigen antisemitischen Angriffe berüchtigten Herausgeber der knapp zuvor eingestellten Wiener Kirchen-Zeitung, Albert Wiesinger (1830–1896), geriet (der auch an der zwischen 1859–1870 in Wien erschienenen Gegenwart beteiligt war).

Die meisten der frühen Versuche katholischer Gruppierungen, eigene Zeitungen auf den Markt zu bringen, realisierten jedoch ein – gegenüber der liberalen Presse  – wesentlich engeres Medienverständnis, das deren Funktion, Öffentlichkeit herzustellen, im Sinne der parteilichen Kommunikationsinteressen instrumentalisierte. Das gilt insbesondere für die von den diversen regionalen katholischen „Preßvereinen“ herausgegebenen Zeitungen, wie beispielsweise das Grazer Volksblatt oder das Linzer Volksblatt (das auf der lokalen Verankerung des Linzer Abendboten aufbaute). In den 1890er Jahren findet sich dieses Medienverständnis allerdings in dominierender Form bei der Presse aller damals entstandenen modernen Massenparteien, also nicht nur bei den Christsozialen, sondern auch bei den Sozialdemokraten und den Deutschnationalen.

Während auf sozialdemokratischer Seite sowohl das 1889 gegründete Zentralorgan Arbeiter-Zeitung, in dem v. a. Josef Scheu über Bruckner schrieb, als auch regionale Blätter wie der steirische Arbeiterwille aufgrund des rasch steigenden Organisationsgrades der Partei von vornherein mit einer weiteren Verbreitung rechnen konnten, litt die Tagespresse der zersplitterten und zerstrittenen Organisationen der deutschnationalen Bewegung unter eher geringen Auflagen. Am besten behauptete sich noch das 1888 von Ernst Vergani (1848–1915) gegründete Deutsche Volksblatt, das aber im Streit mit der groß- und später alldeutschen Gallionsfigur Georg Ritter von Schönerer (1842–1921) zu Karl Luegers (1844–1910) Christsozialen wechselte. Das Grazer Tagblatt oder die vom ehemaligen Volksblatt-Redakteur Karl Hermann Wolf (1862–1941) 1890 initiierte, aber nach der Jahrhundertwende ebenfalls im Konflikt mit Schönerer befindliche Ostdeutsche Rundschau reichten trotz ihrer für deutschnationale Verhältnisse hohen Auflagen um 10.000 Exemplare bei weitem nicht an die zu jener Zeit möglichen Spitzenwerte von bis zu 50.000 Exemplaren heran. Diese waren primär liberal orientierten Zeitungen (wie dem Neuen Wiener Tagblatt, der Oesterreichischen Volkszeitung und der ihre monarchieweite Bedeutung ausbauenden Neuen Freien Presse), aber auch dem 1874 gegründeten christsozialen Neuigkeits-Welt-Blatt vorbehalten.

Zu dieser Spitzengruppe stießen auch Zeitungen, die mit technischen und verlegerischen Innovationen die Entwicklung der österreichischen Presse stark beeinflussten. Dazu gehört das vom früheren Chefadministrator der Morgen-Post, Franz Ignaz von Singer (1828–1886), 1872 mitbegründete, nach englischen und französischen Vorbildern gestaltete Illustrierte Wiener Extrablatt, das mit prominent auf der Titelseite platzierten Bildreportagen neue Maßstäbe für die Zeitungsgestaltung setzte. Das redaktionelle Konzept des von Jacob Lippowitz (1865–1934) seit 1893 herausgegebenen Neue Wiener Journals beschritt hingegen neue Wege in der Kultur-, Lifestyle- und Gesellschaftsberichterstattung; mit dem Extrablatt verband es eine prononciert unparteiische redaktionelle Linie. Die nur vorübergehend erfolgreiche Wiener Allgemeine Zeitung nutzte schließlich die modernen technischen Möglichkeiten für den Ausbau und die Aktualisierung des Nachrichtenteils. Auch wenn sie ihr ehrgeiziges Vorhaben eines dreimal täglichen Erscheinens nach acht Jahren im Dezember 1888 aufgeben musste und nur noch abends erschien, so steht sie für eine Entwicklung, die den Charakter der Zeitung als Nachrichtenblatt (wie sie sich selbst bezeichnete) wieder stärker betonte.

All diese sich gegen das enge Verhältnis von Medien und Parteien wendenden Initiativen gewannen erst nach der Jahrhundertwende größere Bedeutung und brachten erst dann die für den langfristigen Erfolg des Mediums „Zeitung“ ausschlaggebende immense Erweiterung des Publikums mit sich. Der entscheidende Beitrag, den die zu Lebzeiten Bruckners sich vollziehende, unterschiedlich enge Bindung der Zeitung an die politischen Parteien zur Presseentwicklung leistete, lag daher weniger in einer Ausweitung der sozialen Streuung ihrer Zielgruppen als vielmehr in der Verankerung der Zeitung als das Medium der öffentlichen politischen Kommunikation – eine Funktion, die natürlich alle Ressorts und damit auch die Musikkritik bestimmte.

In Deutschland, wo die Bruckner-Rezeption in der Tagespresse 1884 mit der Leipziger Uraufführung der Siebenten Symphonie einsetzte, hatte hingegen der Siegeszug der Massenpresse bereits begonnen und zu einer – im Vergleich zur Habsburgermonarchie – rund dreimal so hohen Zeitungsdichte pro Kopf geführt. Das wirtschaftliche Erfolgsrezept unterschied sich allerdings nicht von der sich auch in Österreich vollziehenden Entwicklung. Einerseits ermöglichte die primäre Finanzierung durch den Verkauf von Anzeigen einen verbilligten Bezugspreis (was diesem Zeitungstyp in Deutschland die Bezeichnung Generalanzeiger eingetragen hatte); andererseits konnte durch ein erweitertes redaktionelles Angebot, bestehend aus aktuellen Nachrichten, breiter Lokalberichterstattung, Serviceleistungen und nicht zuletzt einem Ausbau des Feuilletons, neue Leserkreise erschlossen w erden. Eine der Voraussetzungen dafür war mit dem Reichspressegesetz 1874 geschaffen worden, das eine wesentliche Liberalisierung der Presse bedeutete. Es setzte nicht nur die in den früheren Landespressegesetzen gegebenen Beschränkungen der Pressefreiheit außer Kraft, sondern hob auch Konzessions- und Kautionszwang sowie – anders als in der Habsburgermonarchie – die Sonderbesteuerung der Presse auf und ermöglichte dadurch, die technologischen Neuerungen in der Drucktechnik und in der Nachrichtenübermittlung gewinnbringend umzusetzen.

Als Beispiele für die Generalanzeiger-Presse sind die 1860 unter dem Titel Leipziger Nachrichten gegründeten Leipziger Neueste Nachrichten zu nennen, für die Bernhard Vogel (1847–1897) als Musikkritiker tätig war, sowie die bis ins Jahr 1848 zurückreichenden, 1886 aber stark ausgebauten Münchner Neueste Nachrichten, deren Feuilletonressort Fritz von Ostini leitete und dem Heinrich Porges als Musikreferent angehörte. Während beide Zeitungen zu Marktführern aufstiegen, verloren sowohl die bis dahin führenden bürgerlichen Zeitungen (wie etwa das Leipziger Tageblatt, das Münchener Fremdenblatt oder die Süddeutsche Presse) als auch die amtlichen Zeitungen (wie die Leipziger Zeitung) zunehmend an Bedeutung.

In Berlin gab Rudolf Mosse (1843–1920), der seine Karriere in der Zeitungsbranche mit einer Annoncenexpedition begonnen hatte, ab 1871 das liberale Berliner Tageblatt heraus, das sich unter der Chefredaktion Arthur Levysohns (1841–1908), der zuvor beim Neuen Wiener Tagblatt gewirkt hatte, zur auflagenstärksten Tageszeitung des Kaiserreichs entwickelte. Als sein langjähriger Musikreferent wirkte Heinrich Ehrlich (1822–1899).

Es gehört zweifellos zu den Verdiensten der Massenpresse, mit der Musikkritik, die ihre Standards in den musikalischen Fachzeitschriften entwickelt hatte und von dort in die feuilletonistischen Kulturzeitungen und überregionalen Blätter vorgedrang (wie in die Augsburger Allgemeine Zeitung, die ab 1882 in München erschien), ein breites Laienpublikum anzusprechen und an die Auseinandersetzung mit der Musik heranzuführen.

Literatur

GABRIELE MELISCHEK, JOSEF SEETHALER

Zuletzt inhaltlich bearbeitet: 1.9.2017

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