Belgien (Rezeption)

Nach seiner Korrespondenz zu schließen, scheint Bruckner keinen Kontakt mit Belgien gehabt zu haben. Das Musée royal de Marimont besitzt einen Brief Bruckners vom 22.3.1877; der unbekannte Adressat ist vielleicht ein Konzertveranstalter, der Bruckner nicht kannte (Briefe I, 770322).

Vor dem Ersten Weltkrieg war Bruckner in Belgien wenig bekannt. Sein Name erschien dennoch regelmäßig in den Korrespondenzen der ausländischen Mitarbeiter des Guide musical (1855–1917). Aber diese wichtige Wochenzeitung, die international rezipiert wurde, widmete ihm nur einige wenige Artikel. Zu Lebzeiten des Komponisten erschien nur ein einziger: Un symphoniste de l‘avenir: Antoine Bruckner (Ein Symphoniker der Zukunft: Anton Bruckner) am 6. und 13.9.1888. Der holländische Kritiker Jacob van Santen Kolff (1849–1896) verband den Komponisten mit den Gedanken Richard Wagners, wie es schon im Titel deutlich zum Ausdruck kommt. Über Bruckners Tod wurde zweimal berichtet, der zweite Nekrolog ist ausführlicher als der erste (17. und 18.10.1896). In drei Nummern von Jänner 1903 präsentierte die Brüsseler Kritikerin May de Rudder († 1950) ein ausführliches Bild des Komponisten. 1910 rief Paul Magnette (1888‒1918), Korrespondent des Guide musical in Leizpig, in einer im Periodikum Revue de Belgique erschienenen Studie von 20 Seiten voller Enthusiasmus Bruckner in Erinnerung. Nach einer biografischen Skizze, in der er darauf aufmerksam machte, dass Otto Kitzler am Koninklijk Conservatorium Brussel studiert hatte, kommentierte Magnette ausführlich Bruckners Symphonien.

Nach einem vergeblichen Versuch, die Siebente Symphonie am Konservatorium von Liège (Lüttich) im November 1888 aufzuführen, dauerte es bis 1895, bis ein Werk Bruckners in einem Programm der belgischen Konzertgesellschaften zu finden war. Am 15.12.1895 setzte der Komponist und Dirigent Sylvain Dupuis (1856–1931) die Siebente auf das Programm der von ihm gegründeten Societé des Nouveaux concerts. Am königlichen Konservatorium von Liège wurden das Te Deum am 16.3.1902 und die Neunte Symphonie am 18.11.1905 aufgeführt.

In Brüssel dirigierte Hermann Levi am 4.5.1895 das Adagio der Siebenten Symphonie in einem „Concert populaire“; Bruckners Name verschwand daraufhin bis 1930 aus den Programmen der Société des Concerts populaires de Musique classique. Am 7.3.1906 setzte die englische Sängerin Marie Brema (1856–1925) Bruckner auf das Programm ihres Liederabends in Brüssel, die Presse gibt keine Auskunft über das aufgeführte Werk. Als Eugène Ysaÿe (1858–1931) am 16.12.1906 die Neunte Symphonie in Brüssel ins Programm seiner Konzertgesellschaft aufnahme, war die Öffentlichkeit durch eine Analyse des Werkes von de Rudder, die eine Woche zuvor im Guide musical erschienen war, vorbereitet. Ysaÿe lud bald Otto Lohse (1859–1925) ein, am 11.12.1910 die Siebente zu dirigieren. Das Te Deum stand am 28.1.1912 auf dem Programm des Brüsseler Konservatoriums. In Antwerpen waren die Aufführungen von Werken Bruckners weniger zahlreich: Am 7.3.1909 sang der A Capella Koor d‘Amsterdam das Ave Maria (WAB 6), am 15.11.1909 dirigierte Leopold Materna (1872–1948) die Vierte Symphonie in den „Nouveaux Concerts“/„Nieuwe Concerten“.

Von diesen Konzerten wurde in der Fachpresse weniger günstig berichtet. Unter den Kritikern, die Bruckner schätzten, aber auch die „Fehler“ seiner Musik aufzeigten, waren Ernest Closson (1870–1950) und de Rudder. Die Meinung von Henry Le Boeuf (Pseud. Henry Lesbroussart, 1874–1935), dem zukünftigen Direktor der Societé philharmonique in Brüssel, war eine milde: Er stützte sein Urteil auf Hugo Riemann (1849–1919) und meinte, Bruckner nicht in die Reihe der musikalischen Genies einreihen zu können (L‘Art moderne 23.12.1906). Diese Meinung ist einer der Gründe, warum Bruckner in der Zwischenkriegszeit kaum auf den Konzertprogrammen in Belgien stand.

Die religiöse Musik erregte trotzdem die Aufmerksamkeit von Domherr Jules Van Nuffel (1883‒1953), der den Sint-Romboutskoor in Mechelen leitete. Das aus Knaben- und Männerstimmen bestehende Ensemble sang am 4.6.1933 die Messe in e‑Moll. Es folgten einige weitere Aufführungen, am 20.5.1934 spielte der Organist Flor Peeters (1903‒1986) die Fuge in d‑Moll. Der Domchor Aachen sang am 17.10.1934 in Mechelen Virga Jesse, Christus factus est (WAB 11 [?]) und das siebenstimmige Ave Maria (WAB 6) unter der Leitung von Theodor Bernhard Rehmann (1895–1963).

François Rasse (1873‒1955) nahm 1930 sowie im Februar 1933 die Dritte Symphonie und das Te Deum in das Konzertprogramm des Konservatoriums von Liège auf. Die Société philharmonique in Brüssel, die zur bedeutendsten Konzertgesellschaft des Landes werden sollte, setzte das Gloria der Messe in e‑Moll am 14.5.1934 mit dem Sint-Romboutskoor aus Mechelen unter Van Nuffel und am 9.5.1938 das Te Deum mit Solisten, Chor und Orchester des Theaters von Aachen unter der Leitung von Herbert von Karajan auf das Programm.

Während des Zweiten Weltkrieges spielten die in Antwerpen, Brüssel und Gent gegründeten Konzertgesellschaften mit dem Einverständnis der Besatzer Bruckners Symphonien. Im Dezember 1955 dirigierte Wolfgang Sawallisch das Orchestre National de Belgique mit der Dritten Symphonie im Palais des Beaux-Arts in Brüssel. Das 1935‒1957 von Franz André (1893‒1975) geleitete Orchestre de la Radio Belge spielte ebenso die Symphonien Bruckners.

Seit den 1970er Jahren steht Bruckner regelmäßig auf den Programmen der Konzertgesellschaften und auch der ausländischen Orchester, die in Belgien gastieren. Pierre Bartholomé (* 1937) und das Orchestre Philharmonique Royal de Liège spielten die Dritte Symphonie auch auf Tourneen.

Philippe Herreweghe erwarb sich mit der Interpretation der Werke Bruckners einen internationalen Ruf: Für Harmonia mundi spielte er die Vierte (2006) und die Siebente Symphonie (2008) mit dem Orchestre des Champs-Élysées, außerdem die Messe in e‑Moll (1990) und Messe in f‑Moll (2007) mit der Chapelle royale und dem RIAS Kammerchor ein. Auf Harry Halbreichs Initiative fand am 28. und 29.11.1997 das ursprünglich für 1996 geplante internationale Schubert-Bruckner-Symposion statt, das vom königlichen Konservatorium, der Société philharmonique und der Zeitschrift Crescendo veranstaltet wurde.

Literatur

HENRI VANHULST

(Übersetzung: Andrea Harrandt)

Zuletzt inhaltlich bearbeitet: 23.9.2020

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