Dittrich-Doppelfuge in B‑Dur (WAB add 262)
Einleitung und Doppelfuge für Orgel
Sätze: | Einleitung: „Molto moderato e cantabile“; Fuge: „Moderato e cantabile“ |
EZ: | April 1880 in Wien |
UA: | ?; neuzeitlich 24.10.2003 in Steyr, Stadtpfarrkirche (Orgelkonzert; Erwin Horn) |
Aut.: | ÖNB‑MS (Mus.Hs.6094) |
ED: | Konzertstücke für Orgel. H. 16, Böhm & Sohn, Augsburg–Wien 1913; Wiener Hoforganisten 1880–1918. Universal Edition (UE 19553), Wien 1996 (Neuausgabe von Martin Haselböck [* 1954) |
Im Werkverzeichnis Anton Bruckner (WAB) von 1977 findet sich auf S. 179 das Verzeichnis diverser im Verlag Böhm & Sohn in Augsburg erschienener Bruckner-Werke. Unter Orgelwerke wird eine „Einleitung und Doppelfuge in G-dur [sic], Thema, Fugenplan, und Modulation von A. Bruckner, Ausführung von dessen Schüler Rud. Dittrich“ angeführt. Dem Titel in dieser Verlagsanzeige zufolge ist Bruckner eine Mit-Autorschaft zuzuschreiben. Das 1913 im 16. Heft der Konzertstücke für Orgel bei Böhm & Sohn erschienene Werk hat eine bis auf das Jahr 1879 zurückgehende Entstehungsgeschichte, die in den Berichten von Göll.-A. dokumentiert ist. Der 1913 erschienene Erstdruck ist mit der Widmung „Herrn Dr. August Schenker-Angerer in herzlicher Verehrung“ versehen. August Schenker-Angerer (1866–1914) war 1895 Mitbegründer der Reederei Austro-Americana und übernahm 1901 die 1872 in Wien gegründete Speditionsfirma Schenker von seinem Adoptiv-Vater Gottfried Schenker (1842–1901).
Rudolf Dittrich selbst erzählt von seiner musikalischen Ausbildung bei Bruckner am Konservatorium der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien ab 1878, in dessen Verlauf diese kuriose Gemeinschaftsarbeit entstanden ist: „Im Schuljahr 1879–80 war ich bei Bruckner der einzige Schüler im II. Jahrgang Contrapunkt. Bruckner am Klavier, ich an der Tafel. Das Thema I ist von Bruckner; Thema II wurde von mir dazucomponiert unter seiner Aufsicht. Der Fugenplan ist natürlich ganz von Bruckner. Ich arbeitete an der Tafel, er corrigierte, verbesserte und gab auch modulatorische Weisungen. Freiheiten duldete er mit der Bemerkung: ,Verboten ist das zwar, aber schön klingt‘s. Sagen Sie nicht, daß ich‘s erlaubt habe.‘ So blieb nun die Fuge, bis ich sie später wieder hervorzog und einer kleinen Revision unterzog. Diese Revision bezog sich aber lediglich nur auf Flüssigmachung einiger (Engführung und Anfang des Orgelpunktes) Stellen, die bei der Schularbeit etwas vernachlässigt geblieben waren. – Nun klingt die Fuge – finde ich – sehr gut, teilweise schön, und ich stehe nicht an, anzunehmen, daß das Gute und Schöne daran Bruckner selbst oder seinem mehr oder minder direkten Einfluß zuzuschreiben ist.“ (Göll.-A. 4/1, S. 589f.).
Eine die Fugenthemengestalten vorstrukturierende langsame, 20-taktige Einleitung im 4/4‑Takt vor dem eigentlichen Fugengeschehen im beschleunigenden alla breve-Takt erinnert u. a. an Bruckners Vorspiel und Fuge in c‑Moll von 1847. Die Vorwegnahme der Tonika ohne gegen den 1. dux gerichteten Aufbau der Dominantspannung am Ende der Einleitung weicht hingegen von der Bruckner-typischen Gestaltung ab.
Die Hauptthemengestalt der Fuge zeigt mit ihrem Themenkopf, der durch Quintsprung, Punktierung und lange Werte gekennzeichnet ist, und der stufenweisen, beschleunigten Folgemotivik Bruckner‘sche Themenelemente. Der durch Oktavsprung erreichte zweite fallende Stufengang verweist auf das Thema der Fuge in d‑Moll von Bruckner aus dem Jahre 1861, zumal dieses ebenfalls die punktierte Halbe an den Anfang des ersten Stufengangs stellt. Das Gegenthema gemahnt mit der Achtelkette und der abschließenden über einen abwärts gerichteten Sprung erreichten Trillerfigur an das Fugenthema des Finales der 1869 entstandenen Symphonie in d‑Moll („Annullierte“). Außerdem betonen beide Themengestalten gegen Ende die Dominante, so dass dem comes-Einsatzton im nächsten Takt harmonisch die Tonika unterlegt und durch reale Beantwortung im 2. Thementeil die Doppeldominante c erreicht wird. Das für Bruckner typische Modulations-Binnenzwischenspiel schließt sich an (9. Fugentakt), um zur Dominantspannung zurückzuführen. Ein weiteres dux-comes-Paar (13. Fugentakt) folgt, ebenso ein weiteres Zwischenspiel vor dem überzähligen 5. Einsatz in den wieder tonikalen Expositions-Ausgangsstimmen (T. 25 der Fuge). Sequenzierungen des Themenschlusses führen dann zur 2. Durchführung (33. Fugentakt) in der Mollparallele g. Ab dem 53. Fugentakt findet sich die stufensequenzierte Abspaltung des Themenkopfes der Hauptfugengestalt, ab dem 65. Fugentakt die Kombination von Umkehrung (mit variierter Originalgestalt) und Engführung, ab dem 79. Fugentakt nach der Generalpause der traditionelle Engführungsabschnitt mit paarweise gesetzten Engführungen der Hauptthemengestalt, ab dem 89. Fugentakt der Orgelpunkt auf der Dominante und schließlich ab dem 117. Fugentakt der abschließende Orgelpunkt auf der Tonika mit der Kombination beider Themengestalten, wobei das Gegenthema durch Aufgabe des Trillermotivs der Hauptthematik angepasst erscheint. Es handelt sich somit um Gestaltungselemente, welche die Behauptung einer Mit-Autorschaft Bruckners stützen.
Mit der Dittrich-Doppelfuge in B‑Dur liegt wie auch bei den Fugenfragmenten in den Unterrichtsmitschriften der Bruckner-Schüler P. Oddo Loidol von 1880 (Loidol-Fugenfragment in C‑Dur) und Viktor Christ von 1889/90 (Christ-Fugenfragment in D‑Dur) eine weitere spontan während des Unterrichts entworfene kompositorische Skizze Bruckners vor, nur mit dem Unterschied, dass sie zu einer kompletten Komposition ausgearbeitet und in memoriam Bruckner als ein zumindest partiell dem Œuvre des Meisters zuzuordnendes Orgelstück von immerhin nahezu sechs Minuten Länge spielfähig ist. Was als Gewinn gewertet werden kann, da Bruckner nur sehr wenig Stücke für Orgel hinterlassen hat.
2004 wurde in der Stadtpfarrkirche Linz die Dittrich-Doppelfuge in B‑Dur von Roman Summereder (* 1954) auf CD eingespielt (Orgellandschaft Oberösterreich VIII).
Literatur
- Göll.-A.August Göllerich/Max Auer, Anton Bruckner. Ein Lebens- und Schaffensbild (Deutsche Musikbücherei 36–39). 4 Bde. (in 9 Teilbänden [1, 2/1–2, 3/1–2, 4/1–4]). Regensburg 1922–1937, unveränd. Nachdruck 1974 4/1, S. 586–590
- WABRenate Grasberger, Werkverzeichnis Anton Bruckner (WAB) (Publikationen des Instituts für Österreichische Musikdokumentation 7). Tutzing 1977
- Irene Suchy, Versunken und vergessen – Zwei österreichische Musiker in Japan vor 1945, in: Mehr als Maschinen für Musik. Beiträge zu Geschichte und Gegenwart der österreichisch-japanischen Beziehungen (Schriftenreihe Japankunde). Wien 1990, S. 89–121
- Irene Suchy, Deutschsprachige Musiker in Japan vor 1945. Diss. Wien 1992
- Hiroko Hirasawa, Rudolf Dittrich. Leben und Werk. Diss. Wien 1996
- Rainer Boss, Die „Dittrich-Fuge“, das „Loidol-Fragment“, das „Christ-Fragment“ und die „c‑Moll-Skizze“: Neue Einträge in das Werkverzeichnis Anton Bruckner (WAB), in: Bruckner-JahrbuchBruckner-Jahrbuch. (Wechselnde Herausgeber). Linz 1980ff. 1997–2000, S. 63–66