Orgel-Skizze in c‑Moll (WAB add 241)

27 Takte autografe Skizze ohne Tempoangabe (6 Takte Pedalthema); 26 Takte in zwei Teilen nach Max Auer (vgl. ED) Nr. 64 (5 Takte Pedalthema im 4/4‑Takt) und Nr. 65 (21 Takte Fuge alla breve)

EZ: vor dem 21.8.1884
UA: 21.8.1884 in Kremsmünster, Stiftskirche (Orgelkonzert; Bruckner)
Aut.: Stift Kremsmünster, Musiksammlung (C56/15ab, auf dem Skizzenblatt zum Präludium für Harmonium in C‑Dur vom Erstbesitzer P. Oddo Loidol unterhalb des Bruckner-Autografs das Pedalthema notiert, zudem auf einem 2. Blatt, das in 3 Streifen zerschnitten wurde, weitere thematische Skizzen zum gleichen Orgelkonzert, darunter nochmals [autograf] das Pedalthema sowie Fragmente zu einer Fuge)
ED: Max Auer, Anton Bruckner, der Meister der Orgel, in: Die MusikDie Musik. Stuttgart–Berlin–Leipzig 1901/02–1914/15 und 1922/23–1942/43. Zusatz ab 1934: Amtliches Organ der NS-Kulturgemeinde; Zusatz ab 1937/38: Organ des Amtes für Kunstpflege beim Beauftragten des Führers für die gesamte geistige und weltanschauliche Erziehung und Schulung der NSDAP; Zusatz ab 1939: Organ der Hauptstelle Musik beim Beauftragten des Führers für die gesamte geistige und weltanschauliche Erziehung und Schulung der NSDAP; Zusatz ab 1940/41: Organ der Hauptstelle Musik beim Beauftragten des Führers für die Überwachung der gesamten geistigen und weltanschaulichen Schulung und Erziehung der NSDAP 16 (1924) H. 12, S. 884; abweichende Fassungen in: Göll.-A.August Göllerich/Max Auer, Anton Bruckner. Ein Lebens- und Schaffensbild (Deutsche Musikbücherei 36–39). 4 Bde. (in 9 Teilbänden [1, 2/1–2, 3/1–2, 4/1–4]). Regensburg 1922–1937, unveränd. Nachdruck 1974 4/2 (1936), S. 189ff. (Pedalthema von Nr. 64 T. 5, 2. Note f halbe Note statt Viertel, daher letzte Note c erst im 6. Takt, wie in der autografen Skizze); Hans Joachim Moser, Die Orgel bei Mendelssohn, Schumann, Liszt, Brahms und Bruckner, in: Orgelromantik. Ein Gang durch Orgelfragen von vorgestern und übermorgen. Ludwigsburg 1961, S. 50f. (T. 6 von Nr. 65 ganze statt Viertel-Note c‘ in der 2. Stimme, vgl. autografe Skizze und ED)

Auer stellte in Zusammenarbeit mit August Göllerich anlässlich des 100. Geburtstages Bruckners 1924 die thematischen Skizzen zu seinen Orgelimprovisationen in einer Liste zusammen. Neben einigen Fugenthemen aus Vokalwerken, wie dem Psalm 114 (Nr. 8) und der Missa solemnis (Nr. 33), den Fugenthemen Nr. 22–24, dem doppelten Kontrapunkt von 1848 (Nr. 41) und dem Thema von Bruckners letztem Orgelspiel zu Ostern 1894 in St. Florian (Nr. 56), das von Isidor Stögbauer (1883–1966) für seine Fantasie und Fuge über ein Thema von Anton Bruckner, op. 95 (1943) benutzt wurde (Hommagen und Widmungen an Bruckner), ist v. a. die mit „C moll“ und „Adagio“ überschriebene zweiteilige Skizze zu einem Orgelkonzert Bruckners vom 21.8.1884 in Kremsmünster von Bedeutung.

Im Sommer 1884 entstand nach dem Besuch der Bayreuther Festspiele das Präludium für Harmonium in C‑Dur, zunächst skizziert in St. Florian, dann während Bruckners Aufenthalt im Stift Kremsmünster von 17.–25.8. in Reinschrift übertragen. Dem in Göll.-A. mitgeteilten Bericht Loidols zufolge gab Bruckner am 21.8. um „4 Uhr nachmittags“ (Göll.-A. 4/2, S. 190) ein großes, dreigeteiltes Orgelkonzert in der Stiftskirche: „Wie im vorigen Jahre, so wurde auch heuer das musikalische Publikum Kremsmünsters wieder mit einem Orgelkonzerte Anton Bruckner‘s beglückt. Wer jemals Gelegenheit hatte, dem phänomenalen Spiele dieses Künstlers lauschen zu dürfen, wer dabei den Mann gesehen, von den ihm in fabelhafter Fülle und Mannigfaltigkeit zufließenden Inspirationen verklärt, wer ihn schauen konnte, wie er über alle Welt erhaben ganz seinen Verzückungen sich hingab, der weiß wohl, was Bruckner ist. Von den drei herrlichen Sätzen, aus denen das Conzert bestand und in welche hochbedeutsam auch das ‚Kaiserlied‘ hinein verwoben wurde, schien uns, wenn sich überhaupt die Kritik irgendwie an Bruckner heranwagen darf, die großartigste Leistung der 2. Satz. Bruckner begann nach einer majestätischen Einleitung mit einem prachtvollen Fugenthema in schnellen Achteln auf dem Pedale; das Thema stieg mit permanentem Rückschlage auf c chromatisch aufwärts und fand unter den Händen des Meisters die genialste Durchführung. – Wenn wir noch hinzufügen, daß derartigen Fantasien und Improvisationen der Herr Hoforganist einst den Siegeslorbeer zu Paris und London verdankte, so glauben wir nicht mehr sagen zu dürfen.“ (Linzer Volksblatt 28.8.1884, S. 3).

Ein weiterer Bericht Loidols zu diesem Konzert findet sich als handschriftliche Anmerkung notiert auf dem autografen Skizzenblatt des Präludiums für Harmonium in C‑Dur, das er von Bruckner laut eigener Aussage am 24.8.1884 noch in Kremsmünster erhielt: „Dieses Präludium hat Bruckner bei seinem Orgelconzerte in Kremsmünster am 21. Aug. 884 als ersten Satz gespielt und dann weiter ausgesponnen“ (Stift Kremsmünster, Musiksammlung C56/15ab). Auf dem gleichen Skizzenblatt notierte Loidol zudem das Pedalthema des oben genannten 2. Konzertteiles.

Notenbeispiel 1: Max Auer, Nr. 64, T. 1-5

Nr. 64 der Auer-Liste überliefert das Thema in fünf Takten, während in T. 5 der autografen Skizze eine halbe Note f notiert wurde und somit die letzte Note c das Thema erst in T. 6 beschließt. Nr. 65 im Fugentakt alla breve dokumentiert 21 Takte einer Fugenexposition, die vermutlich den 3., krönenden Schlussteil eingeleitet hat.

Notenbeispiel 2: Max Auer, Nr. 65, T. 1‑10

Das Fugenthema zeigt durch die Sprunghaftigkeit seines 1. Teils in langen Notenwerten und dem stufenweise fallenden Folgemotiv, das zur Tonika zurückführt und insofern den comes-Einsatzton wiederum als Quintton der zugrundeliegenden Harmonie erscheinen lässt, eine für Bruckner charakteristische Struktur. Bei den weiteren Themeneinsätzen sind besonders im Bereich des Themenkopfes intervallische Freiheiten zu erkennen, was der Konzeption für eine Improvisation adäquat erscheint. Die angegebene Themenkopfengführung des 2. Themeneinsatzes deutet eine schnelle Verdichtung des kontrapunktischen Gewebes an. Die zweite Akkolade von Nr. 65 bringt eine in den Notenwerten beschleunigte und strukturell auf die Pedalthematik von Nr. 64 deutlicher zurückgreifende Alternativfassung des Fugenthemas mit zwei Themeneinsätzen.

Somit liegt nach den genannten Berichten zumindest eine fragmentarisch überlieferte Dokumentation einer Orgelimprovisation Bruckners vor, die im 1. Teil einleitend mit den mächtigen, symphonischen Akkorden des Präludium für Harmonium in C‑Dur begann, im 2. Teil (lt. Loidol auch schon fugiert) mit dem chromatischen Pedalthema Spannung und Bewegung aufbaute und im 3. Teil mit einer Fuge die Schlusssteigerung gestaltete, in die – wie häufig in Bruckners Improvisationskunst – die Volkshymne eingewoben war.

Im November des gleichen Jahres dieses Konzertes erinnerte Loidol Bruckner nochmals an die großartige Orgel-Improvisation im Sommer und bat ihn, das Pedalthema zu einer Orgelfuge auszubauen, um neben den prachtvollen Symphonien auch Orgel-Kompositionen der Nachwelt zu hinterlassen: „Mir ist um jede Improvisation, die ich von Ihnen gehört, leid, daß sie nicht auf dem Papier ist.“ (Göll.-A. 4/2, S. 193). 1939 wurde die Thematik von Johann Nepomuk David für sein Werk Introitus, Choral und Fuge für Orgel und neun Blasinstrumente über ein Thema von A. Bruckner, op. 25 (Hommagen und Widmungen an Bruckner) verwendet.

Literatur

RAINER BOSS

Zuletzt inhaltlich bearbeitet: 4.2.2020

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