Leipzig
Zweitgrößte Stadt des deutschen Freistaats Sachsen. Handels- und Industriezentrum, bedeutende Messestadt. Einst Zentrum des weltumspannenden Buch- und Musikalienhandels sowie des grafischen Gewerbes. Berühmtes Konzertgebäude: Gewandhaus. 1871: ca. 107.000; 1900: ca. 400.000; 2019: ca. 588.000 EW.
1781 war die Geburtsstunde des nach seiner neuen Wirkungsstätte benannten Gewandhausorchesters; die Wurzeln dieses ältesten deutschen Konzertorchesters reichen jedoch bis ins 15. Jahrhundert zurück. Mit dem Tod Felix Mendelssohn Bartholdys, des ersten eigentlichen Konzertdirigenten, im Jahre 1847 versank das Leipziger Musikleben in einen Zustand von Konservativität und Engstirnigkeit. Besonders massiv war die Kritik an den Werken von Franz Liszt und Richard Wagner (Neudeutsche Schule). Auch Carl Reinecke (1824–1910), ab 1860 Gewandhauskapellmeister, stand der zeitgenössischen Musik ablehnend gegenüber.
Bruckner erwähnte Leipzig und den dortigen Organisten Hermann Langer (1819–1889) erstmals 1864 im Zusammenhang mit dort und in Dresden geplanten Orgelkonzerten, die nicht zustande kamen. In der in Leipzig erscheinenden Neuen Zeitschrift für Musik wurde Bruckner erstmals am 11.1.1867 mit einer von Hermann Zopff (1826–1883) verfassten Besprechung des Germanenzug genannt. Abgesehen vom „etwas bizarre[n] Solosatz“ sei „das Ganze voll Charakter und Stimmung“ (Neue Zeitschrift für Musik 63 [1867] H. 3, S. 20).
Am 1868 eröffneten Neuen Theater war der an Bruckner interessierte Arthur Nikisch seit 1878 Kapellmeister. Als Josef Schalk sich gemeinsam mit Ferdinand Löwe um eine Aufführung der vierhändigen Klavierfassung (Bearbeitungen) der Siebenten Symphonie in Leipzig bemühte, favorisierte Nikisch bald eine Aufführung in Orchesterbesetzung, worauf sich ein ausgiebiger Schriftwechsel zwischen ihm und Bruckner entspann (Briefe). Die Uraufführung im Neuen Theater mit dem Gewandhausorchester unter Nikisch wurde nach mehrmaliger Verschiebung schließlich für den 30.12.1884 festgesetzt. Bruckner suchte in Wien um Urlaub an und machte sich am 26.12.1884 auf den Weg nach Leipzig, wo er tags darauf am Sächsischen Bahnhof eintraf und im Hotel „Stadt Rom“ untergebracht wurde. Wie sein eigens für diese Reise angelegter Taschen-Notizkalender zeigt, nutzte Bruckner die Tage vor der Uraufführung für Besuche. So ermöglichte es ihm Reinecke am 29.12.1884 auf der Walcker-Orgel des Neuen Gewandhauses vor geladenen Zuhörern zu spielen. Bruckner versuchte die Leipziger Verleger Breitkopf & Härtel, C. F. Kahnt und Peters (Verlage) für sein Werk zu gewinnen, allerdings vergeblich. Die Uraufführung der Siebenten aber wurde zu einem durchschlagenden Erfolg für Bruckner, wie zahlreiche Pressestimmen beweisen. Nikisch hatte Journalisten, Musikfachleute und Verleger gründlich auf das Werk vorbereitet.
Der Dirigent setzte sich auch weiterhin für Bruckner ein: Bereits am 27.1.1885 erklangen in Leipzig erneut der 2. und der 3. Satz aus der Siebenten Symphonie. Der 1854 gegründete Riedel-Verein führte am 3.7.1886 in der Leipziger Peterskirche mit der Messe in C-Dur erstmals ein Chorwerk Bruckners auf. Am 6.6.1893 erklang im Auftrag des Liszt-Vereins in der Alberthalle des Leipziger Kristallpalastes unter der Leitung von Bruckners Schüler Emil Paur (1855–1932) wieder die Siebente Symphonie. 1895 kehrte Nikisch, nach Stationen in Boston und Budapest, nach Leipzig zurück und übernahm nach Reinecke die Leitung des Gewandhauses. Am 16.11.1895 erklang dort das Streichquintett in F-Dur.
Bruckners Tod fand ein lebhaftes Presseecho in Leipzig; im Gedächtniskonzert am 22.10.1896 im Gewandhaus wurde das Adagio aus der Siebenten Symphonie gespielt. Am 9.11.1896 fand in der Alberthalle die Erstaufführung der Vierten Symphonie mit der Kapelle Winderstein unter Hans Sitt (1850–1922) statt. Am 18.2.1897 stellte Nikisch das Te Deum, am 9.11.1899 die Fünfte Symphonie in Leipzig vor. Im Februar 1902 führte der Riedel-Verein unter Georg Göhler dort erstmals die Messe in e‑Moll und den Psalm 150 auf. Am 17.2.1902 führte Hans Winderstein (1856–1925) mit dem Philharmonischen Orchester Leipzig, mit dem er u. a. 1903 auch in Oslo und Göteborg mit Bruckner-Symphonien gastierte, die Vierte auf. Am 23.10.1902 dirigierte Nikisch dann die Dritte Symphonie. Es folgten die Leipziger Erstaufführungen der Zweiten (1904), Achten (1906), Neunten (1907), Sechsten (1913) und schließlich der Ersten Symphonie (1919). Die unermüdliche Arbeit Nikischs für Bruckner führte schließlich 1919/20 zum weltweit ersten Bruckner-Zyklus. Wilhelm Furtwängler, Bruno Walter und Hermann Abendroth setzten als Nachfolger Nikischs die Bruckner-Tradition des Gewandhauses fort.
1927 erfolgte im Leipziger Buchgewerbehaus die Gründung der Internationalen Bruckner-Gesellschaft. 1931 wurde die von Theodor Armbruster gestiftete Bruckner-Büste (IKO 250) von Fritz Zalisz im Gewandhaus enthüllt (Gedenkstätten), und 1932 fanden in Leipzig die ersten Radioübertragungen von Bruckner-Symphonien durch den Mitteldeutschen Rundfunk statt. Die Symphonie in d‑Moll wurde am 23.11.1933 erstaufgeführt. 1936 und 1940 fanden Leipziger Reichs-Bruckner-Feste (Brucknerfeste und -feiern) statt. Auch nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die Bruckner-Tradition unter Herbert Albert (1903–1973), Franz Konwitschny und Václav Neumann fortgesetzt. Der zweite Bruckner-Zyklus im Gewandhaus fand 1974 unter Kurt Masur statt. 1982 erfolgte die Wiederaufstellung der Bruckner-Büste von Zalisz im Foyer des Neuen Gewandhauses, 1987 fanden die Gewandhaus-Festtage und ein Symposion zum Thema Anton Bruckner – Leben. Werk. Interpretation. Rezeption statt. Herbert Blomstedt (Gewandhauskapellmeister 1998–2005) und Riccardo Chailly (seit 2005) führten die Bruckner-Tradition des Orchesters, auch mit CD-Aufnahmen, fort.
Literatur
- Hermann Zopff, Musik für Gesangvereine. Für Männerstimmen, in: Neue Zeitschrift für Musik 63 (1867) H. 3, S. 19f.
- Steffen Lieberwirth, Anton Bruckner. Siebente Sinfonie. Gedenkschrift anlässlich der 100jährigen Wiederkehr der Uraufführung der 7. Sinfonie Anton Bruckners durch Arthur Nikisch und das Gewandhausorchester am 30. Dezember 1884 (Dokumente zur Gewandhausgeschichte 1). Leipzig 1984
- Steffen Lieberwirth, Bruckner-Aufführungen im Gewandhaus zu Leipzig. Von 1896 bis 1985/86 [mit Verzeichnis der Aufführungen], in: Bruckner-JahrbuchBruckner-Jahrbuch. (Wechselnde Herausgeber). Linz 1980ff. 1984/85/86, S. 103–115
- Steffen Lieberwirth, Zum 100jährigen Uraufführungsjubiläum der Siebenten Sinfonie (WAB 107), in: Bruckner-JahrbuchBruckner-Jahrbuch. (Wechselnde Herausgeber). Linz 1980ff. 1984/85/86, S. 117–122
- Bruckner-Symposion Leipzig 1987Steffen Lieberwirth (Hg.), Kongreßbericht zum V. Internationalen Gewandhaus-Symposium. Anton Bruckner – Leben, Werk, Interpretation, Rezeption. Anläßlich der Gewandhaus-Festtage 1987. Leipzig, 9.–11. Oktober 1987. Leipzig 1988
- Bruckner und LeipzigSteffen Lieberwirth, Anton Bruckner und Leipzig. Die Jahre 1884–1902 (Anton Bruckner. Dokumente und Studien 6). Graz 1988
- Steffen Lieberwirth, Bruckner und Leipzig. Vom Werden und Wachsen einer Tradition (Bilder aus Leipzigs Musikleben). Leipzig 1990
- Bruckner-Ikonographie IIRenate Grasberger, Bruckner-Ikonographie. Teil 2: 1925 bis 1946. Nachträge zu Teil 1: Um 1854 bis 1924 (Anton Bruckner. Dokumente und Studien 14). Wien 2004