Helm, Theodor (Otto)

* 9.4.1843 Wien/A, † 23.12.1920 Wien. Musikschriftsteller, Kritiker und Pädagoge.

Sohn des Arztes Julius Helm (1813–1844) und dessen Frau Julie von Forstern (ca. 1819–1858). Nach der Matura am Schottengymnasium 1861–1865 Jus-Studium an der Universität Wien (wo er auch Vorlesungen Eduard Hanslicks hörte) mit abschließendem Absolutorium, 1865–1869 Staatsdienst. 1867 Beginn der Kritiker-Laufbahn. Seine Kritiken erschienen in zahlreichen Zeitungen: u. a. Neues Fremdenblatt (1867–1876), Die Tonhalle (1868–1873), Pester Lloyd (1868–1884, 1886–1906), Musikalisches Wochenblatt (1870–1920, ab 1906 mit der Neuen Zeitschrift für Musik vereinigt), Illustriertes Musik-, Theater- und Literatur-Journal (1876/77), Deutsche Zeitung (1884–1902), Neue Wiener Musik- und Theaterzeitung (1889–1891), Österreichische Musik- und Theaterzeitung (1895–1899), Der Merker (1915–1920). Außerdem redigierte Helm 1875–1901 Fromme’s Kalender für die musikalische Welt. In der ersten Ausgabe von Hugo Riemanns (1849–1919) Musik-Lexikon aus dem Jahre 1883 wird Helm „als einer der besten Kritiker Wiens“ bezeichnet. 1870 Promotion zum Dr. phil., ab 1872 Mitglied der Wiener Journalistenvereinigung „Concordia“. Ab 1874 Lehrer für Musikästhetik und ab 1882 für Musikgeschichte an den Horak‘schen Musikschulen in Wien.

Das damalige Wiener Musikleben war vor allem durch die gegensätzlichen musikästhetischen Standpunkte der klassizistischen Richtung in der Nachfolge Ludwig van Beethovens (Robert Schumann, Felix Mendelssohn Bartholdy, Johannes Brahms) und der Neudeutschen Schule (Programmmusik in der Nachfolge von Hector BerliozFranz Liszt, Richard Strauss), als auch durch Richard Wagners Werke geprägt. Helms musikalische Anschauung nimmt eine Sonderstellung ein, als er anfangs, von Beethoven als Ideal des symphonischen und kammermusikalischen Komponisten (vgl. Beethoven‘s Streichquartette) ausgehend, die klassizistische Richtung bevorzugte, jedoch mit seiner späteren Hinwendung zu Liszt und Wagner auch die Neudeutsche Schule befürwortete. Aus diesem Grund wurde er fälschlicherweise nur als Proponent letzterer eingeordnet. Die wohlbegründeten Kritiken Helms besitzen den Stil des 19. Jahrhunderts, sind aber sachbezogen, klar im Ausdruck und zeugen von großer Fach- und Repertoirekenntnis, ja sie beschreiben Musik auf deskriptiv bildhaft hohem Niveau. Sie sind nicht feuilletonistisch, wie die Kritiken Hanslicks, sondern richten sich an das musikalisch gebildete Fachpublikum, wie seine eingehenden Analysen der besprochenen Werke in den Kritiken belegen. Es spricht für Helms Integrität, dass er sich, wann immer dies möglich war, mit der Partitur oder dem Klavierauszug der jeweiligen Komposition beschäftigte und oft vor einer Ur- oder Erstaufführung eines neuen Werkes die Generalprobe besuchte. An den Kritiken fallen, neben der sorgfältigen Analyse der Werke, einerseits eine Vorliebe für Stimmungsbilder bei einzelnen symphonischen Sätzen (z. B. bei Beethoven, Brahms oder Bruckner), welche Helm aber nicht als Programm versteht, und andererseits die Entdeckung von musikalischen Themen oder Motiven anderer Komponisten im jeweils besprochenen Werk, auf. Dass er sowohl Brahms als auch Bruckner schätzte, muss für diese Zeit als außergewöhnlich hervorgehoben werden, er hatte sowohl Kontakte zum Freundeskreis von Brahms (Max Kalbeck, Ignaz Brüll [1846–1907]), wie auch von Bruckner (August Göllerich, August Stradal, Gustav Schönaich). Brahms sei der eigentliche Klassiker seiner Zeit, wobei in seinen Werken „zwingende Logik“, „freiwilliger Verzicht“ (Neue Musikalische Presse 3.3.1895, S. 2) auf klangliche Steigerungen, Formvollendung und meisterhafte Kompositionstechnik vorherrsche. Jedoch sei er kein Neuerer wie Beethoven, Berlioz, Wagner oder Liszt. Brahms Stärke zeige sich nicht in der musikalischen Themenerfindung, sondern in der kompositionstechnischen Behandlung des musikalischen Materials. Bei Bruckner fände man im Gegensatz dazu „blühende Melodik“ und „orchestrale[ ] Farbenpracht“. Brahms wie Bruckner seien die „bedeutendsten Sinfoniker nach Beethoven“ (Fünfzig Jahre Wiener Musikleben, S. 312), auch deren „contrapunktische Meisterschaft“ sei gleich (Neue Musikalische Presse 3.3.1895, S. 2).

Außerdem war Helm ein Befürworter der Werke von Liszt, Wagner, Hugo Wolf und R. Strauss, jedoch stand er den Werken Gustav Mahlers ambivalent gegenüber.

Ausgehend vom damals gültigen Formideal der Beethoven-Symphonien werden Bruckners Werken zunächst Regel- und Formlosigkeit, sowie die neuartige Harmonik und Instrumentation vorgeworfen („Un-Logik“ [Musikalisches Wochenblatt 9 [1878] H. 9, S. 110). Jedoch wird von Anfang an des Komponisten Originalität der Erfindung bezüglich Harmonik und Melodik, als auch die klare Form der Scherzo-Sätze anerkannt. Bruckner sei in der Nachfolge Beethovens einzuordnen, jedoch habe er in seinen symphonischen Werken Elemente der Harmonik und Instrumentation von Wagner sowie der Neudeutschen Schule aufgenommen, allerdings ohne „poetisch illustrirende Tendenzen“ (Musikalisches Wochenblatt 17 [1886] H. 5, S. 60). Auf Bruckners solide musikalische und kompositorische Ausbildung (Simon Sechter) wurde von Anfang an hingewiesen. Anfänglich schlug Helm Kürzungen oder die Aufführung einzelner Sätze von Bruckners Symphonien vor. Im Jahre 1883 veranstalteten Göllerich und Stradal Matinéen, bei welchen zunächst einzelne Sätze, später aber auch ganze Symphonien Bruckners in vierhändigen Klavierbearbeitungen (u. a. von Josef Schalk) aufgeführt wurden, wobei Göllerich erläuternde Bemerkungen zum jeweiligen Werk gab. Auch dies führte zu Helms Wandel zum Befürworter Bruckners, welcher sich in den Jahren 1885–1890 vollzog. Die anfänglich kritisierte mangelnde formale Gestaltung der Symphonien wurde als positive neue Umwandlung der Form angesehen, z. B. werden einzelne Symphonie-Sätze mit einer freien rhapsodischen Form oder Improvisation verglichen, aber auch als „Umbildung“ (Neue Musikalische Presse 10.11.1895, S. 2) des Sonatenhauptsatzes bezeichnet. Die Modifizierung vorhandener musikalischer Formen bereichere die Kunst, jedoch bleiben geringe formale Einwände Helms bestehen. Helm bekennt, dass ihn Bruckners Symphonien „trotz ihrer vereinzelten formellen Schwächen und räthselhaften Absprünge weit mehr begeistern“ (Deutsche Zeitung 6.4.1897, S. 1) als die Werke von Brahms. Bruckner habe in Bezug auf Harmonik, Instrumentation und Rhythmik die Ausdrucksmittel Wagners und der Neudeutschen Schule in seine symphonischen Werke übernommen. Man habe sich bei Bruckner von der klassischen Schablone zu lösen und sich mit der neuartigen Harmonik genauer zu beschäftigen. Bruckner verstehe für Orchester zu komponieren, man fände „blühende Melodik“ und im Orchester eine durch Wagner begründete „außerordentliche Steigerungsfähigkeit“ (Neue Musikalische Presse 3.3.1895, S. 2) des Klanges und orchestrale Farbenpracht. Bruckners Religiosität (Persönlichkeit) zeige sich in der Verwendung von kirchenmusikalischen Formen wie Chorälen oder Orgelpunkten in fast jeder Symphonie. Helm war ein prononcierter Anhänger der Programm-Musik der Neudeutschen Schule, weshalb er auch jede programmatische Erklärung oder ein Stimmungsbild zum besseren Verständnis der Bruckner-Symphonien begrüßte. Jedoch sei explizit darauf hingewiesen, dass Bruckner für Helm realistischerweise in der Nachfolge Beethovens stand und nicht als Programmusiker angesehen wurde. Außer den Symphonien schätzte Helm besonders Bruckners Messen, das Te Deum und das Streichquintett in F-Dur.

Helm hatte ab 1885 zunächst schriftlichen und im darauffolgenden Jahr persönlichen Kontakt mit Bruckner. Bruckner bezeichnete ihn „als einzige[n] Vertreter meiner Werke in Wien“ (Briefe II, 870422), führte Helm persönlich in seine Werke ein und fand durch ihn intensive publizistische Unterstützung für die Verbreitung seiner Werke, wie man aus den Briefen von Bruckner an Helm, als auch in der Würdigung durch Göllerichs und Max Auers Bruckner-Biografie, ersehen kann (in zahlreichen Zeitungen erschienen analytische Artikel über Bruckners Werke). Im Jahre 1895 übernahm Helm die Redaktion der Bruckner-Festnummer der Österreichischen Musik- und Theater-Zeitung. Das Vertrauensverhältnis war so groß, dass Bruckner Helm die autografen Partituren seiner Ersten und Sechsten Symphonie borgte, von welchen Helms Sohn Theodor (Ludwig Moritz, * 7.5.1875 Wien, † 4.11.1963 Wien) Klavierauszüge verfasste.

In den Wintermonaten 1902–1904 wurden im kleinen Festsaal der Universität Wien in Veranstaltungen des Wiener Akademischen Wagner-Vereins Bruckners Neunte Symphonie anhand der Klavierauszüge von Ferdinand Löwe und J. Schalk durch Helms Tochter Mathilde (Gabriele Theodora, * 31.10.1872 Wien, † 22.6.1945 Wien) und Hans Wagner-Schönkirch samt historisch biografischen Erläuterungen und anschließendem analytischem Vortrag mit Notenbeispielen von Theodor Helm, aufgeführt.

Seine in der Zeitschrift Der Merker erschienenen Erinnerungen Fünfzig Jahre Wiener Musikleben bieten einen Überblick der Wiener Musikgeschichte in der zweiten Hälfte des 19. und des beginnenden 20. Jahrhunderts.

Schriften
  • Beethoven als Techniker (Jahresbericht der Horak‘schen Musikschule 7). Wien 1874
  • Musikbriefe. Wien, in: Musikalisches Wochenblatt 9 (1878) H. 9, S. 109f.
  • Beethoven‘s Streichquartette. Versuch einer technischen Analyse dieser Werke im Zusammenhange mit ihrem geistigen Gehalt. Leipzig 1885
  • Anton Bruckner, in: Musikalisches Wochenblatt 17 (1886) H. 3, S. 34f.; H. 4, S. 46ff.; H. 5, S. 60f.
  • Anton Bruckner, in: Neue Musikalische Presse 3.3.1895, S. 1–4
  • Bruckner’s „Romantische Symphonie“, in: Neue Musikalische Presse 20.10.1895, S. 2f.; 10.11.1895, S. 2; 17.11.1895, S. 2f.; 1.12.1895, S. 2f.
  • Johannes Brahms, in: Deutsche Zeitung 6.4.1897, S. 1
  • Einige Vorschläge für Dirigenten von Bruckner-Symphonien, in: Der Merker 10 (1919), S. 703–708
  • Fünfzig Jahre Wiener Musikleben (1866–1916). Erinnerungen eines Musikkritikers. Hg. von Max Schönherr. Wien 1977
  • vgl. Bruckner-Bibliographie IRenate Grasberger, Bruckner-Bibliographie (bis 1974) (Anton Bruckner. Dokumente und Studien 4). Graz 1985
Literatur

MICHAEL KREBS

Zuletzt inhaltlich bearbeitet: 15.1.2020

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Helm, Theodor (Otto): 11669078X

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