Deutschland (Rezeption)

Über Bruckners zahlreiche Aufenthalte im heutigen Deutschland ist in den entsprechenden Artikeln (u. a. Bayreuth, Berlin, Dresden, Leipzig, München, Nürnberg, Oberammergau und Regensburg; Reisen Bruckners) Näheres zu erfahren. Im vorliegenden Beitrag stehen die Rezeption seiner Werke und die Ausbreitung seines Rufes in diesem Land im Mittelpunkt.

Zu Bruckners Lebzeiten und in den Jahren kurz nach seinem Tod wurden seine Werke in Deutschland vornehmlich in den Städten München (vermutlich 12 Aufführungen), Berlin (9), Dresden und Hamburg (je 8) sowie Leipzig (7) aufgeführt. Die Dirigenten, die die meisten Aufführungen der Werke Bruckners leiteten, waren Hermann Levi, Jean Louis Nicodé, Gustav Mahler, Arthur Nikisch und Felix Mottl. Bei etwa jedem zehnten der Konzerte wirkten Schüler oder Wiener Bekannte Bruckners mit.

Das bis 1896 mit Abstand am häufigsten gespielte Werk war – mit 24 Aufführungen – die Siebente Symphonie, die am 30.12.1884 in Leipzig unter Nikisch ihre Uraufführung erfuhr. Die einzige frühere Aufführung einer Komposition Bruckners im heutigen Deutschland – sieht man von den beiden Motti „Ein jubelnd Hoch in Leid und Lust“ und „Lebt wohl, ihr Sangesbrüder“ ab, die 1851 beim Sängerfest in Passau zur Aufführung gelangt sein dürften – hatte am 10.12.1881 in Karlsruhe mit der Vierten Symphonie unter Mottl stattgefunden. Bis 1896 gelangten neben der Siebenten auch die Dritte und Vierte Symphonie sowie das Streichquintett in F-Dur und das Te Deum mehrfach zur Aufführung. Des Weiteren fallen die deutschen Erstaufführungen des Germanenzugs, der Messe in e-Moll, der Messe in d-Moll, des Psalm 150, der Zweiten und der Achten Symphonie in die Zeit vor Bruckners Tod.

Erst die Aufführungen seiner Werke in Deutschland gaben den entscheidenden Anstoß zur endgültigen Anerkennung Bruckners auch in Österreich. Die deutschen Kritiker übernahmen zwar viel Vorformuliertes von den Wiener Kollegen, teilweise nahezu wörtlich, doch gelang es in Deutschland sicher einem größeren Teil der Referenten, als quasi „Außenstehende“ unbefangener und vorurteilsfreier die Person Bruckners und dessen Werk zu beurteilen, so sehr sich die Parteiung Richard WagnerJohannes Brahms auch in der Reaktion des deutschen Publikums und der deutschen Musikkritik doch noch widerspiegelte.

Nach 1896 gab es folgende Erstaufführungen: Erste Symphonie 1898/99 (Emil Nikolaus von Reznicek [1860–1945]), Fünfte am 4.2.1898 in München (Ferdinand Löwe), Sechste am 14.3.1901 in Stuttgart (Karl Pohlig), Neunte Symphonie am 24.5.1903 in Duisburg (Walther Josephson [1868–1937]), Messe in f-Moll am 10.7.1900 in Tübingen (Emil Kauffmann [1836–1909]), Requiem in d-Moll (WAB 39) 1926 in München (Josef Ruzek [?–?]).

Die zu Bruckners Lebzeiten erkennbaren Tendenzen wirkten sich auch im 1. Viertel des 20. Jahrhunderts aus: Die Vierte und die Siebente Symphonie waren mit 172 bzw. 121 Aufführungen die meistgespielten Werke, gefolgt von der Neunten und Dritten Symphonie, dem Te Deum, der Fünften und Achten Symphonie. Auch die Messe in f-Moll, die Zweite, das Streichquintett in F-Dur, die Sechste, die Erste, die Messe in e-Moll und der Psalm 150 wurden mehrmals aufgeführt. Die Messe in d-Moll sowie Motetten, Männerchöre, die Ouvertüre in g-Moll, das Intermezzo in d-Moll, der Germanenzug, Helgoland sowie die Symphonie in f-Moll und die Symphonie in d-Moll erklangen seltener.

Beispielgebend und maßstabsetzend waren Bruckners Schüler und Wiener Freunde, die vor allem in den zu Bruckner-Hochburgen avancierten Städten für das Werk ihres Meisters eintraten. Mit 151 Bruckner-Aufführungen von 1897 bis 1924 liegt Berlin, gefolgt von München mit 135 und Leipzig mit 73, an der Spitze; auf den weiteren Plätzen: Stuttgart (56), Hamburg und Mannheim (48), Nürnberg (40), Frankfurt am Main (33), Breslau (26), Heidelberg und Karlsruhe (25), Dresden und Köln (21), Freiburg (17), Essen (16), Dessau (12), Wiesbaden (11), Düsseldorf, Königsberg (Kaliningrad/RUS) und Trier (10). Mit geringeren Aufführungszahlen machte sich aber eine Reihe weiterer Städte um Bruckners Werk verdient, so Lübeck, Elberfeld-Barmen, Bremen, Augsburg, Meiningen und Baden-Baden (7 bis 9 Aufführungen), Bad Kissingen, Bochum, Bonn, Chemnitz, Darmstadt, Dortmund, Duisburg, Erfurt, Gelsenkirchen, Halle, Hannover, Kassel, Kiel, Krefeld, Limburg, Magdeburg, Mainz, Münster, Oldenburg, Saarbrücken, Schwerin, Stettin (Szczecin/PL), Straßburg (Strasbourg/F), Tübingen und Weimar (4 bis 6 Aufführungen). Mit 2 bis 3 Konzerten erreichte Bruckner auch Bielefeld, Braunschweig, Eisenach, Erlangen, Konstanz, Köthen, Ludwigsburg, Marburg, Metz (Metz/F), Mühlheim, Würzburg und Zwickau.

Die intensive Bruckner-Pflege in Stuttgart, Mannheim, Frankfurt am Main, Heidelberg oder auch Breslau weist darauf hin, dass die Aufführungen nicht allerorts auf die Initiative aus Wien stammender „Brucknerianer“ (Löwe in München, Nikisch in Leipzig, Hamburg und Berlin, Mottl überwiegend in Karlsruhe und München) zurückzuführen sind, sondern dem Einsatz weiterer Bruckner-Verehrer zu verdanken sind – ein äußeres Zeichen dafür, dass Bruckners Ansehen in Deutschland stieg, weil seine Musik beeindruckte und nicht mehr auf die Initiative durch die erste Schüler- und Dirigentengeneration angewiesen war. Aus der Musiktradition einer Stadt, der Qualifikation des Orchesters, der Persönlichkeit des Dirigenten und Begeisterungsfähigkeit des Publikums kristallisierten sich die Zentren der Bruckner-Bewegung heraus. Im Zeitraum bis 1924 traten neben den Obengenannten folgende Dirigenten besonders für Bruckners Werk in Deutschland ein (mit Angabe der Hauptwirkungsorte): Siegmund von Hausegger (29 Aufführungen, Frankfurt am Main, Hamburg, München), Wilhelm Furtwängler (25, Mannheim, Frankfurt am Main, Berlin, Leipzig), Peter Raabe (22, Weimar, Aachen), Georg Dohrn ([1867–1942], 19, Breslau), Richard Strauss (18, Berlin), Hermann Abendroth (17, Lübeck, Köln), Max Reger ([1873–1916], 15, Tourneen mit der Meininger Hofkapelle), Pohlig (15, Stuttgart), Max Fiedler ([1859–1939], 14, Hamburg, Essen), Felix Weingartner (13, Berlin u. a.); mit jeweils 11 Aufführungen Heinrich Knapstein ([1887–?], Trier), Franz Mikorey ([1873–1942], Dessau), Karl Muck (Hamburg), Georg Schnéevoigt (Tournee mit dem Kaim-Orchester), Rudolf Siegel ([1878–1948], Krefeld, Berlin) und Philipp Wolfrum ([1854–1919], Heidelberg); mit jeweils 10 Aufführungen Karl Panzner ([1866–1923], Bremen, Düsseldorf), Hermann Scherchen (Berlin, Frankfurt am Main), Bernhard Stavenhagen ([1862–1914], München, Berlin) und Herman Zumpe (München, Schwerin); mit jeweils 9 Aufführungen Fritz Busch ([1890–1951], Aachen, Stuttgart), Willibald Kähler ([1866–1938], Mannheim) und Hans Winderstein ([1856–1925], Leipzig u. U.); mit jeweils 8 Aufführungen Felix Maria Gatz (Berlin), Hermann Kutzschbach ([1875–1938], Mannheim, Dresden), Siegfried Ochs (Berlin) und Werner Wolff ([1883–1961], Berlin, Hamburg); mit jeweils 7 Aufführungen Ernst Schuch (Dresden), Martin Spörr (Bad Kissingen) und Richard Wetz (1875–1935, Erfurt, Leipzig); mit jeweils 6 bisher bekannten Aufführungen Carl Maria Artz ([1887–1963], Berlin), Richard Barth ([1850–1923], Hamburg), Georg Göhler (Leipzig), Paul Hein ([?–?], Baden-Baden), Hermann Meinhard Poppen ([1885–1956], Heidelberg), Max von Schillings ([1868–1933], Stuttgart) und Ernst Wendel ([1876–1938], Königsberg). Mit allein 4 Aufführungen in der Saison 1922/23 startete Carl Schuricht in Wiesbaden seine Karriere als Bruckner-Dirigent.

Nach 1918, spätestens 1924, war Bruckners Musik in den deutschen Konzertsälen fest etabliert. Detailuntersuchungen zur Rezeptionsgeschichte und lückenlose Aufführungsstatistiken fehlen bisher. Besser dokumentiert sind die bis 1940 durchgeführten zyklischen Aufführungen aller Symphonien, bei denen der Rundfunk eine wichtige Rolle einnahm, die Brucknerfeste, die auch Raritäten bieten konnten, und einige Sonderkonzerte, die auf die damals entstehende Gesamtausgabe Bezug nahmen. In der Rangfolge der Symphonien ist eine Tendenzwende insofern festzustellen, als die Fünfte und die Neunte Symphonie häufiger als die Vierte, Siebente und Achte Symphonie aufgeführt wurden; durch die Aufführungszyklen wurden auch die seltener gespielten Schwesterwerke aufgewertet. Ein besonderes Verdienst dieser Epoche, speziell der Brucknerfeste, war es, dass auch Frühwerke, Männerchöre, Fragmente etc. berücksichtigt wurden. Wichtigster neuer Bruckner-Dirigent dieser Zeit wurde S. v. Hausegger vor Hans Weisbach (Düsseldorf, Leipzig), Richard Schulz-Dornburg ([1891–1949], Bochum u. a.), R. Siegel, F. Busch, Leopold Reichwein (Bochum u. a.), Franz Konwitschny (Freiburg) und Raabe. Die nächste Dirigenten-Generation, die sich dann vor allem nach 1945 für Bruckner einsetzte, tritt bereits in den 1930er Jahren auf den Plan: Bruno Walter, Hans Knappertsbusch, Furtwängler, Schuricht, Josef Krips, Otto Klemperer und Eugen Jochum. Verdienste erwarben sich auch Karl Grunsky (Stuttgart) mit Klavieraufführungen der Symphonien (Bearbeitungen) und Ludwig Berberich ([1882–1965], München) im Bereich der Kirchenmusik.

Zur Bruckner-Rezeption in der Bundesrepublik Deutschland (BRD) und der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik (DDR) liegen keine repräsentativen Übersichten vor. Anhaltspunkte geben die Aufführungsmeldungen in den Mitteilungsblättern der Internationalen Bruckner-Gesellschaft (IBG), die keinen Anspruch auf Vollständigkeit erheben, aber gewisse Tendenzen erkennen lassen. Als wichtige in Deutschland wirkende Bruckner-Dirigenten sind Daniel Barenboim, Herbert Blomstedt, Sergiu Celibidache, Kurt Eichhorn, E. Jochum, Herbert von Karajan, Rafael Kubelík, Kurt Masur und Günter Wand zu nennen. Die Organisation des modernen Konzertbetriebs hat leider eine gewisse Repertoire-Verarmung zur Folge, sodass trotz der endgültigen Anerkennung der Bruckner‘schen Hauptwerke die Frühwerke, die Urfassungen der Symphonien, deren sich anfangs nur wenige Dirigenten in Deutschland (vor allem Eliahu Inbal, auch Eberhard Kloke [* 1948]) annahmen, und die gesamte weltliche Chorliteratur ein Schattendasein fristen. Eine Aufwertung der selten gespielten Werke ist eher von der Schallplattenindustrie zu erwarten und war für das Konzertleben zumindest im Jubiläumsjahr 1996 zu beobachten.

Auch nach 1945 fanden wieder Brucknerfeste und vermehrt Bruckner-Symposien statt, die aber nicht mehr von den großen Bruckner-Organisationen (Bruckner-Gesellschaften) veranstaltet wurden, sondern – oft als Bruckner-Tage, Bruckner-Kolloquien etc. firmierend – dem Engagement von kirchlichen und (speziell im Jahr 1996) wissenschaftlichen Institutionen, Städten und häufig auch privater Initiative zu verdanken waren. Damit verbunden waren in einigen Fällen Bruckner gewidmete Ausstellungen, deren Gestaltung dem Anton Bruckner Institut Linz (ABIL) anvertraut war. Zu nennen sind hier Bayreuth (1994, 1996), Berlin (1996 „Kolloquium“), Hofgeismar bei Kassel (2004 „Wagner–Bruckner“), Leipzig (1987), Limburg (1996), Mainz (1996 „Kirchenmusik“), Mannheim (2006 „Geistliche Musik“), Ottobeuren (1995), Schwäbisch Hall (1990), Weiden (Max-Reger-Tage 2004) und Würzburg (1993, 1996, 1999, 2002, 2008).

Unter der künstlerischen Leitung von Gerd Schaller, dem Gründer des fränkischen Ebracher Musiksommers, spielte das Festivalorchester Philharmonie Festiva 2008–2013 den Zyklus der Bruckner-Symphonien (Erste bis Neunte) in dem imposanten Klangraum der Abteikirche des ehemaligen Zisterzienserklosters Ebrach (sowie dem Regentenbau in Bad Kissingen) ein. Dabei stellte Schaller mehrfach auf Basis neuer Editionen von William Carragan bislang in dieser Form noch nicht zusammengesetzte Partituren vor, deren Strukturen im Rahmen des Bruckner‘schen Kompositionsprozesses von erster Keimzelle und Urfassung bis hin zu diversen Korrekturen, Umarbeitungen und Neufassungen entstanden sind (Arbeitsweise und Schaffensprozess, Entwürfe und Skizzen, Fassungen). Darunter auch die Besonderheiten der Neunten mit Finalekomplettierung, der Dritten in Revisionsfassung von 1874, der Achten im Umarbeitungsstatus von 1888 und der Vierten in ihrem Revisionsstand von 1878 (sogenannte „Volksfestfassung“). Dies ermöglicht großartige Einblicke in die Kompositionswerkstatt Bruckners und präsentiert bislang kaum bekannte und ungehörte Elemente. Am 24.7.2016 stellte Schaller eine von ihm selbst erarbeitete Fassung des Finales der Neunten in Ebrach vor.

Es zeigt sich, dass die detailliertere Beschäftigung mit Bruckner nun nicht mehr die Domäne der alten klassischen „Bruckner-Städte“ ist (wie Berlin, Leipzig oder München). Diese Tendenz lässt sich auch bei Aufführungen der Symphonien beobachten, bei denen die „Hochburgen“ (hier wären zusätzlich auch die großen Rundfunkorchester und Bamberg zu nennen) zwar ihre Vorrangstellung weiter behalten, jedoch zunehmend auch kleinere Städte und bisher nicht auf Bruckner spezialisierte Orchester durch zyklische Aufführungen auf sich aufmerksam machen, vielfach sicher auch der Bruckner-Begeisterung des jeweiligen Dirigenten geschuldet (Stanisław Skrowaczewski in Saarbrücken, Roberto Paternostro in Reutlingen und Weingarten, Markus Bosch [* 1969] in Aachen und Nürnberg).

Als zumindest diskussionswürdige Beiträge zur deutschen Bruckner-Rezeption seien noch erwähnt die Choreografie der Achten Symphonie (Ballett) durch Uwe Scholz (1958–2004) in Leipzig (1999) und die umstrittenen Bearbeitungen einiger Symphonien durch Peter Jan Marthé. Nicht zuletzt sei daran erinnert, dass die jüngere Generation der deutschen Musikwissenschaft – zu nennen sind hier Dieter Michael Backes, Rainer Boss, Christa Brüstle, Benjamin-Gunnar Cohrs, Wolfgang Doebel (* 1964), Wolfgang Grandjean, Peter Gülke, Erwin Horn, Thomas Röder und Wolfram Steinbeck – zur Bruckner-Forschung, vielfach in Zusammenarbeit mit dem ABIL, den Wiener Forschungsinstitutionen und dem Musikwissenschaftlichen Verlag Wien, beigetragen hat.

Literatur

FRANZ SCHEDER

Zuletzt inhaltlich bearbeitet: 23.9.2020

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