Musikkritik
Ein bis heute nicht auszurottendes Vorurteil der Musikgeschichtsschreibung betrifft die Diffamierung Bruckners durch die zeitgenössische Musikkritik unter der Führung des Anti-Wagnerianers Eduard Hanslick. Dafür ist zweifellos Bruckner selbst verantwortlich, der die Position Hanslicks persönlich nahm, v. a. aber auch jene Bruckner-Gemeinde, die – mehr oder weniger ident mit der Wagner-Gemeinde – Hanslick mit Hass und Verleumdung begegnete und seine Kritiken durch die Herausnahme einiger markanter Stellen aus dem Kontext zu jenen Belegstellen der Ablehnung manipulierte, die bis heute das Bruckner-Schrifttum durchziehen und v. a. in Konzerteinführungen und ähnlichen knappen Zusammenfassungen in der Sympathiewerbung für das Opfer Bruckner eingesetzt werden.
Tatsächlich war die Musikkritik zu Bruckners Zeit – die ernsthafte Auseinandersetzung mit seinen Werken erfolgte erst seit der Komposition der drei großen Messen in den 1860er Jahren – ein Resultat der 1848 errungenen Pressefreiheit (Pressewesen), die das Bewusstsein des Kritikers auf die individuelle Sicht, seine eigene Bildung und die persönliche Einschätzung des von ihm Gehörten lenkte. Voraussetzung dafür war ein allgemeines hohes musikalisches Wissen (nicht zufällig war Hanslick auch der erste Professor für Musikästhetik an der Universität Wien). Die Kritiker versuchten in einer Art geistesgeschichtlicher Einschätzung von einem rational nachprüfbaren Standpunkt aus die Bedeutung des Gehörten für die allgemeine Musikgeschichte darzustellen. Bei den Rezensionen von Bruckners Werken, wie auch bei jenen anderer Komponisten, sind subjektive Einschätzungen der Kritiker (auch unabhängig von der Richtung der jeweiligen Zeitung) sowie Urteilsänderungen im zeitlichen Längsschnitt zu beobachten.
Hanslick entwickelte einen geistreichen, scharf plastischen Feuilletonstil, wie er für die Titelseite, auf der die Kritiken gewöhnlich erschienen, passend war, und eine Selbstkritik, die immer wieder die eigenen Einschätzungen relativierte. Dies bestätigten ihm Ludwig Hevesi (1843–1910), der Feuilletonist des Fin de siècle, mit seinem Ondit der „gewiß literarischen Schätzung“ (Hevesi, S. 203) ebenso wie seine Gegner im Geiste des August Wilhelm Ambros (1816–1876), der mit seinem Buch Die Grenzen der Musik und Poesie (1856) eine Gegenschrift zu Hanslicks Vom Musikalisch-Schönen (1854) verfasste, oder Robert Hirschfeld, der in seiner Abhandlung Das kritische Verfahren Ed. Hanslick‘s (1885) die alte Musik vor Hanslicks Verdikt einer nicht lebendig gebliebenen Epoche retten wollte (Neue Freie Presse 5.3.1885, S. 1ff.).
Hanslicks Richtung (Autonomie des musikalischen Materials) gehörten auch Kritiker aus dem Kreis um Johannes Brahms wie Ludwig Speidel, Max Kalbeck, Richard Heuberger, Hugo Wittmann (1839–1923), Selmar Bagge (1823–1896) und Karl Eduard Schelle (1816–1882) an. In den Blättern der verschiedensten liberalen Strömungen findet sich dementsprechend eine große Bandbreite der Beurteilung Bruckners: von völliger Ablehnung (Moritz Adler [* ?, † ?]) über die Feststellung einer Gleichwertigkeit mit Brahms (Hirschfeld) bis hin zu nationalistischer Vereinnahmung (Anton Vergeiner).
Auf der anderen Seite standen die Wiener Wagner-Freunde, die spätestens seit den 1870er Jahren immer stärker ins deutschnationale Lager wechselten und deren Aussagen – zumindest laut Hanslick – ein Teil der Schuld an der heftigen Reaktion seinerseits zugeschrieben werden muss. Zu ihnen zählten Johann Paumgartner, Hugo Wolf, Richard Batka (1868–1922), Wilhelm Frey, Theodor Helm, der die Seiten gewechselt hatte, Ernst Decsey, Hirschfeld, Wilhelm Kienzl (1857–1941), Richard Specht (1870–1932) und Max Graf. Manche von ihnen kannten Bruckner nur noch in ihrer Jugend und setzten sich erst später mit der wachsenden Bruckner-Rezeption für ihn ein. Eine zentrale Frage im deutschnationalen Lager war jene nach der Ludwig van Beethoven-Nachfolge, die August Göllerich, Hans Puchstein und Camillo Horn übereinstimmend (mit Bezug auf Richard Wagner) Bruckner zusprachen.
Eine öffentlich marginale, aber nicht uninteressante Rolle spielte Josef Scheu, der ab 1895 in der Arbeiter-Zeitung als Bewunderer Bruckners (aber auch Brahms‘) positive Rezensionen schrieb. Eine instruktive Übersicht bietet Round Table: Bruckner und die österreichische Presse (in: Bruckner‑Symposion 1991).
Nach dem Tod Hanslicks wurde die ernsthafte Auseinandersetzung mit der Thematik von Julius Korngold fortgeführt, der – ähnlich wie Hanslick – parallel Textbücher, Klavierauszüge und Partituren studierte und sich auf Basis dieser Kenntnisse mit den musikalischen Werken auseinandersetzte. Welche Hasstiraden andererseits auch möglich waren, ist aus den Arbeiten von Gustav Dömpke (gegen Bruckner) und Camillo Horn (gegen Brahms) zu ersehen. Sie entsprechen einander im Aggressionspegel und in der Verächtlichmachung nahezu mit politischem Vokabular. Wahrscheinlich ist nach wie vor der Nekrolog in der Neuen Freien Presse die wichtigste Zusammenfassung der Beurteilungsproblematik, die der Komponist mit seiner Arbeit, aber mehr noch mit seiner Implementierung in die Wagner-Gemeinde zumindest mitverursacht hatte: „Anton Bruckner hatte Gegner seiner musikalischen Richtung, aber keine Feinde. Sein Tod wird eine schmerzliche, nicht leicht auszufüllende Lücke in der Wiener Musikwelt zurücklassen, welche ihn zu ihren charakteristischesten [sic] Vertretern zählte.“ (Neue Freie Presse 12.10.1896, S. 3).
Andererseits muss man sich auch darüber im Klaren sein, dass der Höhepunkt der kulturkampfähnlichen Auseinandersetzung zwischen den fortschrittlichen Neudeutschen und ihren traditionsverhafteten Gegnern exakt in Bruckners Schaffenszeit fiel und damit die damaligen Kritiken parteiliche Zwänge aufweisen, die erst im 20. Jahrhundert langsam zur Individualkritik abgebaut wurden, obwohl der ästhetische Zwist im Hintergrund erhalten blieb, ja sogar in der Zeit des Nationalsozialismus völlig einseitig zugunsten der Wagner-Partei ausschlug und bis heute noch im Untergrund schwelt. Vielleicht hat mit dieser speziellen Situation der Musikkritik auch der Umstand zu tun, dass Bruckners Werk zwar immer mehr, aber immer noch nicht überall selbstverständlich (wie die Beurteilungen zeigen) rezipiert wird.
Literatur
- † Anton Bruckner, in: Neue Freie Presse 12.10.1896, S. 2f.
- Ludwig Hevesi, Ludwig Speidel. Eine literarisch-biographische Würdigung. Berlin 1910
- Gerhard Fürchtegott Wehle, Anton Bruckner im Spiegel seiner Zeitgenossen. Sein Lebensroman in Tatsachen. Garmisch-Partenkirchen 1964
- Manfred Wagner, Vorwort zu einer Bibliographie, dargestellt an jener über Anton Bruckner, in: Die Musikforschung 26 (1973) H. 2, S. 225–235
- Claudia Catharina Röthig, Studien zur Systematik des Schaffens von Anton Bruckner auf der Grundlage zeitgenössischer Berichte und autographer Entwürfe (Göttinger musikwissenschaftliche Arbeiten 9). Kassel 1978
- Manfred Wagner, Geschichte der österreichischen Musikkritik in Beispielen (Publikationen des Instituts für Österreichische Musikdokumentation 5). Tutzing 1979
- Norbert Tschulik, Anton Bruckner in der Wiener Zeitung. Ein Beitrag über die zeitgenössische Bruckner-Berichterstattung, in: Bruckner-JahrbuchBruckner-Jahrbuch. (Wechselnde Herausgeber). Linz 1980ff. 1981, S. 171–179
- Heinz-Klaus Metzger/Rainer Riehn (Hg.), Anton Bruckner (Musik-Konzepte 23/24). München 1982
- Round Table: Bruckner und die österreichische Presse, in: Bruckner‑Symposion 1991Othmar Wessely (Hg.), Bruckner-Symposion. Bruckner-Rezeption. Im Rahmen des Internationalen Brucknerfestes Linz 1991. 18.–22. September 1991. Bericht. Linz 1994, S. 81–104